« Mehr Subsidiarität im Kirchenrecht: Bischofskonferenzen und Verwaltungsgerichte »

von: Burkhard J. Berkmann
St. Pölten (AT)


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1. Das Subsidiaritätsprinzip in der Kirche

1.1. Entwicklung

Mit der Enzyklika Quadragesimo anno erhielt das Subsidiaritätsprinzip einen zentralen und unverlierbaren Platz in der katholischen Soziallehre. Es besagt: Was das Individuum oder eine kleine Gemeinschaft aus eigener Kraft leisten kann, darf ihnen nicht von größeren, übergeordneten Einheiten entzogen werden. 

Gilt das Subsidiaritätsprinzip aber auch innerhalb der Kirche? Papst Pius XII. bejahte diese Frage ausdrücklich.[1] Als es darum ging, ein neues kirchliches Gesetzbuch zu schaffen, das den Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils gerecht wird, erhob die Bischofssynode von 1967 das Subsidiaritätsprinzip sogar zu einem Leitsatz für die Reform.[2] Bei der Promulgation dieses neuen Gesetzbuchs 1983 hobJohannes Paul II. in der Praefatio  die innerkirchliche Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips und der Dezentralisation hervor.[3] Umso mehr überrascht es, dass die Bischofssynode nur zwei Jahre später Zweifel aufkommen ließ und deshalb eine Studie anregte.[4] Dessen ungeachtet betonte Johannes Paul II. die innerkirchliche Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips erneut in der Praefatiodes Gesetzbuches für die katholischen Ostkirchen, das er 1990 promulgierte.[5] Andererseits gab er in Pastores Gregis 56 Zweifel an der innerkirchlichen Anwendung wieder, ohne sie aber ausdrücklich abzulehnen.[6]

Ist das Subsidiaritätsprinzip heute etwa nicht mehr aktuell? Im säkularen Bereich verlagern sich immer mehr Kompetenzen von unten nach oben. Bringt die katholische Kirche mit dem Papst an der Spitze nicht bereits eine hervorragende Voraussetzung mit, um in der globalisierten Welt wirksam zu agieren? Andererseits gewinnen die lokalen Traditionen und kulturellen Besonderheiten wieder an Bedeutung. Die zunehmende Pluralisierung macht es demkirchlichen Amt immer weniger möglich, konkrete Weisungen für alle einzelnen Fälle zu geben.[7] Die Bischofssynoden von 2014 und 2015 zeigten eindrücklich, in welch unterschiedlichen Kontexten die katholische Kirche weltweit lebt und welch unterschiedliche Probleme sie zu bewältigen hat. Der Kardinalsrat,[8] den Papst Franziskus eingesetzt hat, ist selbst ein Zeichen der Dezentralisierung, weil er sich aus Vertretern aller Kontinente zusammensetzt. Bereits bei seinem ersten Treffen gab erder Subsidiarität den Vorrang vor dem Zentralismus im kirchlichen Dienst.[9] Nach Jahren des Zweifels steht also wieder fest: das Subsidiaritätsprinzip ist innerhalb der Kirche anzuwenden. 

[1] AAS 38 (1946) 144 und AAS 49 (1957) 927.

[2] I. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, in: Communicationes 1 (1969) 80-82.

[3] AAS 75 II (1983) XXII.

[4] II. Außerordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, Exeunte coetu secundo (7.12.1985).

[5] AAS 83 (1990) 1057.

[6] In der Kanonistik blieben zweifelnde Stimmen in der Minderheit, z.B.: Beyer, Jean,Subsidiaritätsprinzip – auch für das Recht der Kirche? in:Theologische Berichte 15 (1986), 113-137; Corecco, Eugenio, Dalla sussidiarietà alla comunione, in: Corecco, Eugenio, Ius et Communio. Scritti di Diritto Canonico I, Casala Monferrato 1997, 531-548.

[7] Kasper, Walter, Zum Subsidiaritätsprinzip in der Kirche, in: IKZ Communio 18 (1989) 155-162, 161.

[8] AAS 105 (2013) 875-876.

[9] http://visnews-en.blogspot.co.at/2013/10/the-council-of-cardinals-new.html.

Dieser Aufsatz will nicht die gesamte bisherige Diskussion rekapitulieren, sondern an Beispielen aufzeigen, ob das Subsidiaritätsprinzip in der jüngeren kirchlichen Gesetzgebung beachtet wurde und welche künftigen Reformen es anstoßen könnte.

1.2. Grundlegung

Gewöhnlich wird die innerkirchliche Geltung des Subsidiaritätsprinzip sozialethisch begründet:[10] Da die Kirche ein mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft ist (LG 8), gilt für sie auch das Sozialprinzip der Subsidiarität. Insofern sie aber der geheimnisvolle Leib Christi ist, sind ihre Spezifika zu beachten.

Wenn nun aber speziell nach der Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips im Kirchenrecht gefragt wird, dann erscheint es angezeigt, eine Begründung zuentwickeln, die beim Rechtsbegriff ansetzt. Ebenso wie das Subsidiaritätsprinzip[11] lässt sich das Kirchenrecht anthropologisch begründen. Das Recht im Allgemeinen ist nämlich ein Existenzial des Menschen. Subjekt der Rechtsbeziehungen sind immer Menschen, ihre Gemeinschaften oder Einrichtungen. Objekt der Rechtsbeziehungen sind im Kirchenrecht die kirchlichen Rechtsgüter wie das Glaubensgut, die Sakramente oder das Kirchenvermögen. Die Zuordnung der Güter zu den Subjekten muss dem Maßstab der Gerechtigkeit folgen. Der Bezug zur Gerechtigkeit wird vom Rechtspositivismus zwar abgelehnt, war im klassischen römischen Recht etwa bei Ulpianaber klar verankert. Selbst in der modernen Rechtsphilosophie kommt er z.B. bei Dworkin, Braun und Rawls wieder zum Tragen. Dem Kirchenrecht ist er besonders angemessen, zumal er bis Gratian und Thomas von Aquin zurückreicht.

[10] Z.B. Kasper, Subsidiaritätsprinzip (Fn. 7), 160; Marx, Reinhard, Ist Kirche anders?Zum Miteinander in der Kirche aus der Sicht der katholischen Soziallehre,in: StdZ 213 (1993) 123-130, 128; Von Nell-Breuning, Oswald, Subsidiarität in der Kirche, in: StdZ 204 (1986) 147-157, 148.

[11] Vgl. Freiling, Paul-Stefan, Das Subsidiaritätsprinzip im kirchlichen Recht, Essen 1995, 219.

Genau hier liegt nun der Schnittpunkt zwischen dem Recht und dem Subsidiaritätsprinzip. Dieses gibt nämlich an, an welcher Stelle in einem Sozialgebilde die Gerechtigkeit zu verwirklichen ist. Wenn für die Verwirklichung der Gerechtigkeit private Initiativen ausreichen, dann soll die öffentliche Autorität gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nicht eingreifen. Zum Beispiel muss die kirchliche Autorität keine öffentlichen Vereine für Zwecke errichten, die durch private Unternehmungen ausreichend verwirklicht werden (c. 301 § 2 CIC). Wenn hingegen eine Verteilung von Gütern durch die Autorität notwendig ist (distributive Gerechtigkeit), dann gibt das Subsidiaritätsprinzip an, auf welcher hierarchischen Ebene dies geschehen soll.Beispielsweise legt c. 312 § 1 CIC fest, welche kirchliche Autorität für die Errichtung öffentlicher Vereine zuständig ist. Je höher die Ebene, desto gleichmäßiger wird die Verteilung ausfallen; je niederer die Ebene, desto stärker können die konkreten Bedürfnisse im Einzelfall berücksichtigt werden. Das kirchliche Recht unterscheidet sich vom staatlichen durch eine Höherbewertung der Einzelfallgerechtigkeit gegenüber der formalen Gleichheit. Schon QA 79 stellte fest, dass ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip zugleich einen Verstoß gegen die Gerechtigkeit darstellt.

1.3. Beispiele

Während im staatlichen Bereich die Kompetenzen meist fix einer bestimmten Ebene zugewiesen sind, herrscht in der Kirche zwischen der bischöflichen und der päpstlichen Ebene grundsätzlich ein System konkurrierender Kompetenzen.[12] Zudem lässt sich das System durch Delegation von Befugnissen modifizieren. Somit ist die vertikale Kompetenzverteilung in der Kirche weit flexibler als im Staat. Daher kommt dem Subsidiaritätsprinzip in der Kirche sogar eine wichtigere Rolle zu als im Staat. Denn gerade in einem System mit flexibler Kompetenzaufteilung bedarf die Koordination zwischen den Ebenen eines Maßstabs.[13]

Subsidiarität ist nicht mit Dezentralisierung gleichzusetzen. Zwar gibt das Subsidiaritätsprinzip der unteren Ebene den Vorrang, doch wenn diese eine Aufgabe nicht bewältigen kann, muss sie von der höheren wahrgenommen werden. Dazu einige aktuelle Beispiele:

a) Während die großen Pfarreien in Lateinamerika in kleinere Basisgemeinden untergliedert werden, zeigt sich in vielen europäischen Ländern die Notwendigkeit, zu klein gewordene Pfarreien in Verbänden zusammenzuschließen oder sogar zu fusionieren.

b) Nachdem sich herausgestellt hatte, dass weltweit viele Diözesanbischöfe sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker nicht hinreichend geahndet hatten, wurden solche Delikte der Glaubenskongregation vorbehalten.[14] Diese Kompetenzverlagerung erfolgte maßvoll, weil die Kongregation in der Regel nur die Entscheidung über die Vorgangsweise trifft, während alle anderen Schritte auf der diözesanen Ebene verbleiben.[15]

c) Freie Zusammenschlüsse von Gläubigen und private kanonische Vereine, die karitativ wirken, wurden in mehrfacher Hinsicht an die öffentlichen kanonischen Vereine angeglichen.[16] Damit wurden Rechtsformen, die der freien Initiative der Gläubigen und ihrer Autonomie Rechnung trugen, stärker der Aufsicht und Leitung durch die kirchlichen Autoritäten unterstellt. Ob dies angesichts des Subsidiaritätsprinzips gerechtfertigt war, erscheint fraglich.

Diese Beispiele zeigen, dass auch nach dem CIC/1983 subsidiaritäts relevante Rechtsnormen erlassen wurden. Die Subsidiarität wurde dabei jedoch nicht mehr als Leitprinzip erwähnt. Sofern sie gewahrt wurde, lässt sich nicht feststellen, ob dies bewusst geschah. Sie wurde aber nicht immer beachtet. Indessen hat Papst Franziskus eine „heilsame Dezentralisierung“ zum Leitgedanken seines Programms erhoben.[17] Damit tritt das Subsidiaritätsprinzip wieder in das Interesse der Kanonistik. An zwei Beispielen soll im Folgenden untersucht werden, wie es de lege ferenda besser verwirklicht werden könnte.

[12] Dem Diözesanbischof kommt in seiner Diözese alle ordentliche, eigenberechtigte und unmittelbare Gewalt zu (c. 381 § 1 CIC). Zugleich hat der Papst aber nicht nur in der Gesamtkirche, sondern auch über die Teilkirchen die ordentliche Gewalt (c. 333 § 1 CIC). Das lässt sich durchaus theologisch begründen, weil das Verhältnis zwischen Gesamtkirche und Teilkirchen nicht einfach ein Subordinationsverhältnis ist. Vielmehr besteht die Gesamtkirche in und aus den Teilkirchen (LG 23, c. 368 CIC). Die Gewalt des Papstes genießt aber Vorrang (c. 333 § 1 CIC) bzw. kann er sich Rechtsmaterien vorbehalten (c. 381 § 1 CIC).

[13] Vgl. Leys, Ad, Structuring Communion: The Importance of the Principle of Subsidiarity, in: Jurist 58 (1998) 84-123, 113; Viana, Antonio, Elprincipio de subsidiariedad en elgobierno de la Iglesia, in: IusCan 38 (1998) 147-172, 168.

[14] Normae de gravioribus delictisCongregationi pro Doctrina Fidei reservatis (21.5.2010), in: AAS 102 (2010) 419-430, Art. 6.

[15] Ebd. Art. 16.

[16] MP Intima Ecclesiae natura (11.11.2012), in: AAS 104 (2012) 996-1004.

[17] Evangelii gaudium 16.

2. Bischofskonferenzen

Die bischöfliche und die päpstliche Leitungsebene beruhen auf dem göttlichen Recht und sind der Kirche vorgegeben. Mit nur zwei konstitutiven Ebenen besitzt die Kirche im Grunde eine sehr flache Hierarchie. Die Frage ist aber, ob sie als Weltkirche nicht gerade noch einer mittleren Ebene bedürfte.[18] Auf dieser Ebene haben die Bischofskonferenzen im CIC/1983 Leitungsgewalt erhalten. Die Diskussion darüber, ob ihre Stellung weiter gestärkt werden kann und soll, war seither eng mit der Frage ihrer theologischen Begründung verknüpft. Während Lumen Gentium mit Blick auf das Bischofskollegium von Kollegialität spricht (LG 22), begnügt es sich bei den Bischofskonferenzen mit dem Ausdruck „affectus collegialis“, also der kollegialen Gesinnung (LG 23). Pastores gregis 63 verfestigte diesen Unterschied noch mehr. 

[18] Kistner, Peter, Das göttliche Recht und die Kirchenverfassung II. Subsidiarität als Reformgebot, Berlin 2010, 262.

Indessen erinnerte Papst Franziskus im Zusammenhang mit der Dezentralisierung daran, dass noch nicht deutlich genug eine Satzung der Bischofskonferenzen formuliert worden ist, die sie als Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichen versteht.[19] Angesichts der Sackgasse, in welche die Diskussion zwischen den Alternativen echter Kollegialität und bloß kollegialer Gesinnung geraten ist, lassen sich für die künftige Entwicklung folgende Auswege aufzeigen: 

[19] Evangelii Gaudium 32; Franziskus, Ansprache:50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode (17.10.2015).

a) Kirchenrechtlich betrachtet ist es weniger entscheidend, ob die Bischofskonferenzen Ausdruck echter Kollegialität sind. Vielmehr kommt es darauf an, ob sie Träger von potestas ordinaria et propria sein können. Dass sie dies tatsächlich sind, wird weitgehend bejaht, soweit sie kraft universalkirchlichen Rechts feste Kompetenzen haben (c. 455 § 1 Fall 1 CIC).[20] Außerdem steht kirchenrechtlich außer Zweifel, dass sie in gewissen Materien Mehrheitsbeschlüsse fassen können, die genauso jene Bischöfe binden, die dagegen gestimmt haben.

[20] Vgl. Green, Thomas, The Legislative Competency of the Episcopal Conference: Present Situation and Future Possibilities in Light of Eastern Synodal Experience, in: Jurist 64 (2004) 284-331, 294 und 297; Rees, Wilhelm, Plenarkonzil und Bischofskonferenz, in: HdbKathKR³, 543-576, 561; Stoffel, Oskar, vor c. 447 MKCIC, Rn. 5.

b) Die Tatsache, dass die Bischofskonferenzen nicht göttlichen Rechts sind, hindert nicht, ihnen mehr Kompetenzen zuzusprechen. In der Kanonistik verbreitet sich die Erkenntnis, dass zwischen Rechtsnormen göttlichen und rein menschlichen Rechts keine scharfe Trennlinie besteht, sondern dass die einzelnen Normen graduell unterschiedliche Anteile an göttlichem und menschlichem Recht enthalten.[21] Schon das Zweite Vatikanische Konzil bezeichnete die Gemeinschaften von Ortskirchen, zu denen es in der modernen Zeit die Bischofskonferenzen rechnet, als Frucht der göttlichen Vorsehung (LG 23). Damit wird ausgedrückt, dass sie dem göttlichen Recht zumindest nahestehen.

c) Wenn sich die Kollegialität als untaugliche Grundlage für die Bischofskonferenzen erweist, heißt das nicht, dass es keine andere theologische Begründung gäbe. Eine solche kann in der Synodalität[22] gefunden werden. Laut Papst Franziskus ist der Weg der Synodalität das, was sich Gott von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet.[23]

[21] Huizing, Piet, „Göttliches Recht” und Kirchenverfassung, in: StdZ 183 (1969) 162-173, 165; PreeHelmuth, Der Rechtscharakter des kanonischen Rechts und seine Bedeutung für die Kirche, in: Folia Canonica 7 (2004) 49-70, 63.

[22] Escalante, Luis Fernando, El CELAM. La estructura jurídica y sinodal del Consejo Episcopal Latinoamericano  y de la “Reunión de los Obispos de la Iglesia en América” (ROIA),Roma 2002, 23; Wijlens, Myriam, Structures for Episcopal Leadership for Europe. The CCEE and the ComECE, in: Jurist 61 (2001) 190-212, 209.

[23] Franziskus, Ansprache (Fn. 19).

Bei einer künftigen Reform des Kirchenrechts könnte die potestas ordinaria et propria der Bischofskonferenzen ausgebaut werden. Schon jetzt könnten ihnen aber einfach auf dem Weg der Delegation Kompetenzen des Apostolischen Stuhls übertragen werden. Wenngleich es sich dabei nur um potestas delegata handelt, wäre dies doch ein Schritt in Richtung Dezentralisierung.[24]

[24] Anderer Ansicht: Landra, Mauricio, La aplicación del Principio de subsidiariedad como un criterio de buen gobierno del Obispo diocesano, Buenos Aires 2007, 49.

Papst Franziskus hat mit seinem bisher wichtigsten Gesetz Mitis iudex vom 15.8.2015 keineswegs die mittlere Ebene, sondern die Einzelbischöfe gestärkt. So lässt er eine Skepsis gegenüber den Bischofskonferenzen erkennen (Kriterium Nr. VI). Insbesondere entzog er ihnen die Zuständigkeit für die Erlaubnis, einen Einzelrichter einzusetzen (c. 1673 § 4 CIC neue Fassung). Schließlich schwächte er den Bestand von Interdiözesangerichten, indem er den Bischöfen ermöglichte, sich ohne weiteres von diesen zurückzuziehen (Art. 8 § 2 Ratio procedendi). Mit diesen Maßnahmen wird zwar die untere Ebene gestärkt, doch muss dies nicht unbedingt im Sinne des Subsidiaritätsprinzips sein. 

Was die mittlere Ebene betrifft, so erstrecken sich die Bischofskonferenzen in der Regel auf das Territorium eines Nationalstaats. Dies muss aber nicht für alle Materien die angemessene Regelungsebene sein, zumal die Staaten der Erde unterschiedlich groß sind. Das zeigt sich etwa bei der Herausgabe liturgischer Bücher in der Volkssprache (c. 838 § 3 CIC).  Während manche Sprachen weit über einen einzelnen Staat hinaus verbreitet sind (z.B. französisch), ist in einigen Staaten eine Vielzahl von Sprachen beheimatet (z.B. Indien). In den indischen Bundestaaten bestehen unterhalb der nationalen Bischofskonferenz regionale Bischofsräte, deren Funktion weiterer Klärung bedürfte.[25]

[25] Vgl. Wilfred, Felix, The Catholic Bishops‘ Conference of India. A Critical Review and a Look into the Future, in: Word & Worship 16 (1983) 199-207, 204.

Außerdem gibt es eine Ebene über den Nationalstaaten, deren Bedeutung zunimmt: die Kontinente bzw. sozio-kulturellen Weltregionen. In den Jahren 1991-1999 fand eine Reihe von Sonderversammlungen der Bischofssynode statt, die sich jeweils auf eine Weltregion bezogen.[26] Außerdem sind auf dieser Ebene einige Verbände von Bischofskonferenzen entstanden wie z.B. CELAM (Lateinamerika), CCEE (Europa), COMECE (EU), FABC (Asien) und SECAM (Afrika). Sie haben keine Leitungsgewalt, sondern nur beratende und koordinierende Funktion. Die vierte Generalkonferenz des lateinamerikanischen Episkopats spricht ausdrücklich von „subsidiären Rollen“, die den Bischofskonferenzen, Kirchenprovinzen und Kirchenregionen, aber auf der kontinentalen Ebene auch dem CELAM selbst zukommen.[27] In seiner Ansprache zur 50-Jahr-Feier der Bischofssynode erwähnte Papst Franziskus diese Verbände hingegen nicht, obwohl er alle anderen Ebenen auflistete.[28] Im geltenden Kirchenrecht finden sie in c. 459 § 1 CIC nur eine implizite Stütze. Bei einer künftigen Reform wird es unerlässlich sein, ihren Status genau und ausdrücklich festzulegen. Außerdem ist es grundsätzlich möglich, ihnen Leitungsbefugnisse zu delegieren. Wenn es darum geht, Kompetenzen von der universalkirchlichen Ebene nach unten zu verlagern, dürfen die Kontinente als nächstgelegene Ebene keinesfalls übersehen werden. 

[26] In den daraus hervorgegangenen nachsynodalen apostolischen Schreiben fühlten sich aber nicht alle hinreichend wahr- und ernstgenommen, vgl. Phan, Peter, The Asian Synod. Texts and CommentariesNew York 2002, 27.

[27] Cuarta Conferencia General del Episcopado Latinoamericano, Documento conclusivo de Santo Domingo (12.-28.10.1992), Conclusiones 69.

[28] Franziskus, Ansprache (Fn. 19).

3. Verwaltungsgerichte

Paul VI. schuf mit der zweiten Sektion der Apostolischen Signatur erstmals ein universalkirchliches Verwaltungsgericht. Das siebte Prinzip der Kodexreform richtete sich auf den Schutz der subjektiven Rechte und verlangte dazu die Einrichtung dezentraler Verwaltungsgerichte.[29] Ohne Begründung wurde dies im CIC/1983 aber nicht umgesetzt.

[29] Communicationes 1 (1969) 77-85.

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hängt eng mit dem Subsidiaritätsprinzip zusammen. Als Kompetenzverteilungsprinzip wirft es die Frage auf, ob die Verwaltungsgerichte nicht auch auf den unteren Ebenen eingerichtet werden sollten. Noch wichtiger ist aber, dass das Subsidiaritätsprinzip die Freiheit der einzelnen Personen schützt, deren subjektive Rechte durch das Verwaltungshandeln der kirchlichen Autoritäten verletzt werden können.[30] Dagegen böten Verwaltungsgerichte wirksame Hilfe. Sie entsprächen einer Option für die Schwachen,[31] die sich sonst nicht zur Wehr setzen können. Der Zugang zur Apostolischen Signatur fällt vielen Menschen schwer, sei es wegen der geographischen und kulturellen Entfernung, der lateinischen Amtssprache oder der hohen Kosten (Anwaltspflicht).[32] Verwaltungsgerichte in den Teilkirchen lägen den Menschen näherund verstünden den Kontext der Fälle besser. Das alles sind Aspekte des Subsidiaritätsprinzips.

Nach 1983 wurde die Forderung nach dezentralen Verwaltungsgerichten mehrmals erneuert.[33] Der Codex hat sie keineswegs verboten. In einigen Ländern wie den USA und den Niederlanden gab es mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, sie einzurichten.[34] In Deutschland wurde zwar der Gesetzesentwurf der Würzburger Synode nie realisiert,[35] doch wurden kirchliche Arbeitsgerichte geschaffen.

In den Reformvorhaben von Papst Franziskus spielt die Verwaltungsgerichtsbarkeit bislang jedoch keine Rolle. Franziskus war die Reform des Eheprozesses wichtiger. Daraus lassen sich aber durchaus Querverbindungen zur Verwaltungsgerichtsbarkeit herstellen. Zu den Leitideen von Mitis iudex gehörte es, dass die Prozesse schneller, erschwinglicher und leichter zugänglich sein sollten, um die Rechte der Individuen wirksamer zu schützen. Das sind dieselben Ziele, die für Verwaltungsgerichte in den Teilkirchen sprechen. Der Verzicht auf die obligatorische zweite Instanz[36] deutet auf eine Dezentralisierung der Gerichtsorganisation hin. Andererseits hat Mitis iudex die potestas iudicialis des Diözesanbischofs gestärkt.[37] Das lässt nun nicht erwarten, dass derselbe Diözesanbischof, wenn er als Träger von potestas exsecutiva tätig ist, selbst einer gerichtlichen Kontrolle unterstellt werden sollte. Ebendies brächte die Verwaltungsgerichtsbarkeit aber mit sich.

Die überzeugenden Argumente, die in der Kanonistik zugunsten dezentraler Verwaltungsgerichte vorgebracht werden, können und müssen hier nicht wiederholt werden.[38] Mittels Subsidiaritätsprinzipssoll nun aber aufgezeigt werden, welches die ideale Ebene für die erste Instanz von Verwaltungsgerichten wäre. Da diese möglichst tief liegen sollte, ist zunächst an die Diözese zu denken. Das erscheint aber problematisch, wenn Verwaltungsakte des Diözesanbischofs selbst angefochten werden. Da er die potestas exsecutiva und die potestas iudicialis in sich vereint, müsste er letztlich über sich selbst zu Gericht sitzen. Das ließe sich vermeiden, indem ein vom Apostolischen Stuhl delegiertes Gericht für das Gebiet jeder Diözese eingerichtet würde. Ein solchestrügeaber dem Subsidiaritätsprinzip nicht voll Rechnung, weil es einer Filiale des Papstesgleichkäme. Besser scheint daher die Metropolie als erste Instanz geeignet zu sein.[39] Damit würde eine alte kirchliche Institutionmit neuem Leben erfüllt. Der Metropolit übte immer Kontrollfunktionen über die Suffragane aus. Als praktische Erwägung kommt hinzu, dass seit dem Wegfall der doppelten Konformität in den Metropolitangerichten Kapazitäten frei sein müssten. Folglich kann der Mangel an ausreichend qualifiziertem Personal und Mitteln nicht länger als Einwand dienen. Das Verwaltungsgericht könnte als spezielle Sektion des Metropolitangerichts eingerichtet werden. Als zweite Instanz böte sich die Ebene der Bischofskonferenzen an. Wenn sie schon in manchen Gesetzgebungs- und Verwaltungsangelegenheiten über potestas ordinaria et propria verfügen, dann müsste dies auch in der Rechtsprechung möglich sein. Die zweite Sektion der Apostolischen Signatur würde dann als dritte Instanz dienen. Gegen Verwaltungsakte der Bischofskonferenzen und der Römischen Kurie bliebe sie wohl die erste Instanz.

[30] Vgl. Montini, Gian P., I tribunali amministrativi locali, in: Per 91 (2002) 313-359, 359.

[31] Meier, Dominicus, Verwaltungsgerichte für die Kirche in Deutschland? Von der gemeinsamen Synode 1975 zum Codex Iuris Canonici 1983, Essen 2001, 455.

[32] Vgl. Schouppe, Jean-Pierre, Les procédures administratives face aux dysfonctionnements dans les communautés ecclésiales, in: ACan 46 (2004) 103-124, 121; Zuanazzi, Ilaria, La possibilità di tribunali amministrativi a livello particolare, in: Baura, Eduardo /Canosa, Javier (Hg.), La giustizia nell’attività amministrativa della Chiesa: Il contenzioso amministrativo, Milano 2006, 133-209, 184-185.

[33] Z.B. Memorandum Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch (4.2.2011), in: Heimbach-Steins, Marianne / Kruip, Gerhard / Wendel, Saskia (Hg.), Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch. Argumentezum Memorandum, Freiburg 2011, 33-36, Nr. 3.

[34] Vgl. Martens, Kurt, Administrative Procedures in the Roman Catholic Church. Difficulties and challenges, in: EThL 76 (2000) 354-380, 365 und 379.

[35] Lüdicke, Klaus, Kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Zur Lage 20 Jahre nach dem Beschluß der Gemeinsamen Synode, in: Reinhardt, Heinrich (Hg.), Theologia et Ius Canonicum. Festgabe für Heribert Heinemann zur Vollendung seines 70. Lebensjahres, Essen 1995, 433-446.

[36] Mitis iudex, Kriterium Nr. I.

[37] Mitis iudex, Kriterium Nr. III. Die in diesem Kriterium gemachte Feststellung, dass die Rechtsprechung „delegierten Ämtern in der Diözesankurie“ überlassen wird, trifft nicht zu. Der Gerichtsvikar übt nämlich keine potestas delegata, sondern potestas ordinaria vicaria aus. Im Übrigen führt dieses Kriterium entgegen dem Subsidiaritätsprinzip zu einer Machtkonzentration beim Bischof.

[38] Vgl. Montini, Fn. 30, 355-356; Schouppe, Fn. 32, 120-121.

[39] Vgl. Zuanazzi, Fn. 32, 191.

Bisweilen wurde eingewandt, dass sich noch nicht alle Teile der Weltkirche imstande sähen, Verwaltungsgerichte einzurichten. Es sei diskriminierend, wenn der Rechtsschutz in manchen Gebieten besser sei als in anderen.[40] Dagegen legt das Subsidiaritätsprinzip gerade nahe, dass jene Teilkirchen, die dazu imstande sind, diese Aufgabe auch wahrnehmen sollen. Die anderen müssten gemäß dem Subsidiaritätsprinzip sukzessive dazu befähigt werden. Jedochist nicht zu erwarten, dass die Einrichtung von Verwaltungsgerichten durch diejenigen Leitungspersonenvorangetrieben wird, deren Akte sie kontrollieren sollen. In diesem Fall spricht das Subsidiaritätsprinzip für eine Anordnung durch eine höhere Autorität.

[40] Ebd. 205.

4. Reformen

Das Subsidiaritätsprinzip bleibt ein Anstoß für jede Kirchenrechtsreform. Nachhaltige Reformen müssen fundamentalen Prinzipien folgen statt momentanen Moden oder pragmatischen Nützlichkeitserwägungen. Als Maßstab bleibt das Subsidiaritätsprinzip unverzichtbar, sooft sich kirchliche Strukturen an einen neuen Kontext anpassen müssen. Einige Reformvorschläge wurden in diesem Aufsatz gemacht. Aber schon das geltende Kirchenrecht bietet mehr Möglichkeiten, als genützt werden.Das Subsidiaritätsprinzip ist kein bequemes Prinzip. Es kann nicht als Vorwand dienen, um angenehme Aufgaben an sich zu ziehen und unangenehme anderen Ebenen zuzuschieben. Es bietet auch keine Ausrede, um passiv zuzuwarten, bis übergeordnete Autoritäten tätig werden. Vielmehr enthält es den Imperativ, die eigene Verantwortung wahrzunehmen.[41] Das gilt ebenso für die allerunterste Ebene: die einzelnen Gläubigen. Wenn sie an ihrenOrten nicht aus dem Glauben leben, bleibt jede Reflexion über Strukturen leer.

[41] Vgl. Mückl, Stefan, DasSubsidiaritätsprinzip im kirchlichen Organisationsrecht, in: Rauscher, Anton (Hg.), Besinnung auf das Subsidiaritätsprinzip, Berlin 2015, 209-219, 219.


Autor

Burkhard J. Berkmann, geboren 1976, lehrt als ao. Prof. Kirchenrecht an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten (Österreich). Zudem ist er kirchlicher Richter und Jurist in der Rechtsabteilung der Diözese St. Pölten. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Katholische Kirche und Europarecht, karitative kirchliche Organisationen, Verfahren bei Sexualdelikten, Nichtkatholiken im katholischen Kirchenrecht, das interne Recht anderer Religionen. Er ist Mitglied der Consociatio internationalis studio iuris canonicipromovendo und des International Consortiumfor Law and Religion Studies.

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