« Gott in Zeit. Von der apokalyptischen Wurzel des Christentums »

von: Johann Baptist Metz
Münster (DE)


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Eine Fragestellung hat mich selbst – in den verschiedensten Zusammenhängen, auch bei der Diskussion um eine Neue Politische Theologie (NPTh) – immer wieder beunruhigt: die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von „Gott und Zeit“. Als Vertreter einer theologischen Disziplin, die sich um eine Begründung und Plausibilisierung des Glaubens in unserer Zeit bemüht, will ich hier zusammenfassen, was mich bei dieser Frage nicht in Ruhe lässt: vergessene – unvergessliche Apokalyptik. 

1. Es begann vor Jahrzehnten mit einem Märchen, nämlich mit meinem (umstrittenen) Versuch, das bekannte Märchen vom Wettlauf des Hasen und des Igels „gegen den Strich“ zu lesen, also mit einer verwegenen Option für den Hasen, der da läuft und läuft und stürzt und stürzt …[1], und dies alles, um das Risiko zu veranschaulichen, das man als Theologe eingeht, wenn man versucht, die Rede von Gott und der Wahrheit in ein Verhältnis zur Zeitlichkeit der Zeit zu bringen und damit den Schritt vom transzendentalen Identitätsdenken zu einem temporalen Nichtidentitätsdenken wagt, um auf den „Weg“ des Glaubens, auf seinen „Lauf“ (Paulus) durch die Geschichte und als Geschichte aufmerksam zu machen. Solch temporales Denken befragt zwar kritisch den m. E. zu individualistisch-bewusstseinsphilosophisch verschlüsselten transzendentalen Denkansatz Karl Rahners; es bleibt ihm aber in seiner „anthropologischen Wende“ der Gottesrede treu, mit der er die katholische Theologie in eine produktiv-kritische Auseinandersetzung mit der Moderne geführt hat, die Ihresgleichen sucht.

2. Nun bleibt im Umgang mit der (späten) Moderne zu beachten, dass das moderne Denken ein lernendes Denken ist, das sich z. B. nicht ohne historisches Gewissen in ein Verhältnis zur Wahrheit bringen kann und das deshalb seinerseits jeden Versuch, dieses historische Gewissen auszuschalten oder mit einem geschichtsfreien Idealismus zu kompensieren, als die eigentliche „Relativierung“ des Denkens ansieht. Dem wäre theologisch durch ein temporales Denken Rechnung zu tragen. Das kann z. B. von Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit im Katholizismus nur sprechen, wenn es in Betracht zieht, dass solche „Freiheiten“ zumeist gegen die kirchliche Lehre – vor allem in den Zeiten der Reformation und der politischen Aufklärung – erkämpft und durchgesetzt werden mussten. Darin drückt sich die selbstkritische Seite des zeitbezogenen Denkens in der Theologie aus, das sich einer anamnetischen Vernunft und ihrer geschichtlichen Dialektik verpflichtet weiß. Solch temporales Denken darf nicht nur erklärungswillig sein, es muss auch erfahrungsbereit sein, es muss sich nicht nur als belehrend, sondern unbedingt auch als lernend verstehen. Kurz gesagt, es darf selbst nicht immer schon zu viel gewusst haben wollen.

Dieses temporale Denken muss Geschichte wagen. Und wer im Horizont der Geschichte über die Zeit spricht, kann den Anfang der Zeit nur über ihr Ende (oder ihre „End-losigkeit“, ihre „Ewigkeit“) erläutern. Dieses Denken gehört, modern gesprochen, zur dialektischen Art erinnerungsbegabter praktischer Vernunft. Es wird seine jeweils neuen Erfahrungen mit seinem kirchlich vergewisserten theologischen Gedächtnis prüfen und durch Anknüpfung in kritischer Widerspruchsbereitschaft „dialektisch“ lernen – also gerade nicht mit einem „flachen“, bloß auf Anpassung zielenden Lernbegriff. Verzeitlichung und Relativierung des Denkens dürfen deshalb nicht gleichgesetzt werden. Dialektische Verzeitlichung der Zeit ist vielmehr der Weg zur End-gültigkeit innerhalb der Zeit: zur Wahrheit, zu Gott.[2] Es handelt sich dabei nicht um eine reine Begriffsdialektik, sondern um die geschichtliche Dialektik zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erinnern und Vergessen. Dieses Verständnis von Dialektik sucht den hermeneutischen Verstehensansatz zu überfragen und darauf aufmerksam zu machen, dass die handlungsorientierte Geschichtsdialektik auch einen zusätzlichen Verstehensgewinn bedeutet, den sie dem Primat der praktischen Vernunft verdankt. Wer kann den historischen Jesus als Christus „verstehen“ – ohne Nachfolge? Und wir sollten nicht vergessen: Der biblische Gott ist keine geschichtslose Idee, sondern a priori ein praktischer Gedanke.

3. Die biblische Botschaft hat nicht eigentlich einen zeitlosen Kern, sondern einen Zeitkern. Verwunderlich genug hat die christliche Theologie nie einen eigenen Zeitbegriff entfaltet. Sie hat praktisch immer mit geborgten Zeitvorstellungen gearbeitet und dadurch zwangsläufig den heilsdramatischen Zusammenhang zwischen Gottesrede und Zeitvorstellung entspannt. Nun gibt es m. E. eine religionsgeschichtliche Ressource für die grundsätzliche Frage nach „Gott und Zeit“, nämlich die biblische Apokalyptik. Ich gehe hier von der religionsgeschichtlich gestützten Auffassung aus, dass die Verzeitlichung der Zeit eigentlich erst wirksam durch die biblische Apokalyptik in die Religions- und Kulturgeschichte der Menschheit eingedrungen ist.[3]

[1] Vgl. J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, § 9 (Mainz 51992, jetzt in: JBMGS [Johann Baptist Metz Gesammelte Schriften] Bd. 3/1, § 9). Ich möchte mir erlauben, wenigstens die Kurzfassung des Märchens aus diesem Band (über die nicht alle Leser verfügen werden) hier zu wiederholen. Ich will dort „an ein Märchen erinnern, das hierzulande zu den bekanntesten und beliebtesten zählt: das Märchen vom Hasen und vom Igel, näherhin die Geschichte von jenem krummbeinigen, aber pfiffigen ‚Swinegel‘, der am Sonntagmorgen auf dem Felde spazieren geht und dem Hasen, der ihn wieder einmal wegen seiner ‚schiefen Beine‘ gefoppt hatte, kurzerhand einen Wettlauf in den Ackerfurchen vorschlägt, und der dann vor dem Lauf erst noch einmal nach Hause geht (zum Frühstücken, wie er sagt, da es sich auf nüchternen Magen nicht gut laufe …), um seine Igelfrau zu holen – ‚die bekanntlich genauso aussieht wie ihr Mann‘ – und sie am oberen, entfernteren Ende der Ackerfurche zu postieren, während er selbst sich am unteren Ende neben dem Hasen zum Lauf aufstellt. Wie man weiß, fällt der Hase auf diesen Igeltrick herein: Er läuft und läuft in seiner Furche, der Igel ist, hier und dort, ‚immer schon da‘, und schließlich rennt und stürzt sich der Hase auf dem Ackerfeld zu Tode. Die ‚Kleinen‘, Zukurzgekommenen und ‚Langsamen‘ im Leben, zu deren Ermutigung das Märchen geschrieben ist, mögen mir gestatten, diese schöne Geschichte gegen ihre eigene, nur allzu berechtigte Intention zu lesen und einen Augenblick lang – für den Hasen Partei zu ergreifen, der läuft und läuft und sich schließlich im Wettlauf zu Tode stürzt, während der Igel durch einen Trick siegt, der ihm das Laufen überhaupt erspart. Die Option für den Hasen, das wäre hier die Option für das Eintreten in das Feld der Geschichte, das man nur im Lauf, im Wettstreit, im Flug (und wie immer die Bilder gerade der paulinischen Traditionen für das geschichtlich-eschatologische Leben der Christen lauten) durchmessen kann. Und diese Option für den Hasen bedeutet gleichzeitig den Versuch, die idealistische Sicherung gefährdeter Identität des Christentums, die absieht von der identitätsrettenden Kraft der Praxis (des Laufens), kritisch zu entlarven – sozusagen als theologischen Igel-Trick, der Identität und Sieg ohne die Erfahrung des Laufens (d. h. auch ohne die Erfahrung der Bedrohung und des möglichen Untergangs) verbürgt.“

[2] Vgl. J. B. Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, § 14 (Freiburg u. a. 2006, jetzt in: JBMGS 4, § 14): „Es ist an der Zeit, wieder dialektisch zu denken.“ Nochmals: Es geht hier keineswegs um „reine“ Begriffsdialektik, sondern um die geschichtliche Dialektik von Theorie und Praxis und von Erinnerung und Vergessen. In der gegenwärtigen Situation wäre es m. E. hilfreich, auch an die Diskussionen um den Problembereich „Hermeneutik – Dialektik“ zu erinnern. Vgl. auch in diesem Band den Teil 2 („Perspektiven“).

[3] Zum religionsgeschichtlichen Rang der biblischen Apokalyptik vgl. N. Cohn, Die Erwartung der Endzeit. Vom Ursprung der Apokalypse, Frankfurt am Main 1997, bes. 216ff.

Das Problem für die Theologie ist also nicht eigentlich die Zeit als solche, sondern die Frage nach ihrer Verzeitlichung. In den vielen gegenwärtigen Aussagen zur Zeit gibt es nämlich m. E. zu viel zeitlose Zeit, beginnlose und endlose, verheißungslos-„leere“ und überraschungsfreie Zeit, eben „Ewige Zeit“. Dieser Zeithorizont herrscht m. E. auch in der heutigen Wissenschaftswelt, vor allem in den digitalen Technologien der Naturwissenschaften, insofern sie bereits an der Entzeitlichung des Menschen – zur „Maschine“ – arbeiten, eben an einer Zeit ohne Gedächtnis und Vergessen; schließlich braucht der so durchcomputerisierte „Mensch“ kein Gedächtnis mehr, weil er selbst ja auch nichts mehr vergessen kann.

Der Theologie aber geht es in ihren Zeitaussagen um die verzeitlichte Zeit, um Zeit mit Anfang und Ende, also um die Zeitkonzeption der biblischen Apokalyptik. Diese biblische Apokalyptik ist nämlich keine Katastrophenlehre, sondern, wenn schon, eine Zeitlehre. Die Zeit erhält durch sie einen Anfang und ein Ende, kurzum ihre Verzeitlichung. Und die biblische Apokalyptik versucht die durch sie verzeitlichte Zeit von ihrem Ende her zu begreifen: Zeit als befristete Zeit – sowohl für den Einzelnen wie für die Weltzeit der Menschheit.[4] Im Blick der biblischen Apokalyptik erscheint die Weltzeit nicht als anonyme Naturzeit, sondern als Geschichtszeit der Menschheit.

[4] Die nachfolgende Überlegung bezieht sich ausschließlich auf die Weltzeit der Menschheit. Die rein naturzeitlich orientierte Big History bleibt hier unerörtert. Gegenüber einem solchen naturzeitlich orientierten Weltverständnis bringt die biblische Religion den geschichtlichen Horizont der Welt zur Geltung und damit auch unausweichlich die Frage nach der Zeit: „Ewige“ Naturzeit oder geschichtlich verzeitlichte Zeit, Zeit mit Anfang und Ende?

4. Diese späte „Unterbrechung“ der Ewigen Zeit, dieser späte Anbruch des Zeitlichkeitsdenkens durch die biblische Apokalyptik, diese zeittheoretisch relevante Wende der „Ewigen Zeit“ in ihre Verzeitlichung, d. h. in ihre Endzeitlichkeit, kann geradezu als Alleinstellungsmerkmal der biblischen Religion in der Religionsgeschichte der Menschheit betrachtet werden. Die Welt der Menschheit hat nun einen Anfang und ihre Zeit ein Ende. Und der Glaube an den biblischen Gott bricht in der Religionsgeschichte der Menschheit den Bann der Ewigen Zeit. Das Ende der Zeit hat nun einen end-gültigen Namen: Gott.

Dieses biblische Zeitlichkeitsdenken war nicht nur den (vorder-)asiatischen, sondern auch den griechisch-mediterranen Religions- und Kulturrräumen unbekannt. Das gilt sowohl für die (von Friedrich Nietzsche quasi postmodern erneuerte) „Ewige Zeit“ der Vorsokratiker, wie auch für den „Kosmos“ der griechischen Klassik. Und nicht nur die christlichen Platoniker, sondern selbst noch die theologischen Aristoteliker – wie Thomas von Aquin –, hatten bekanntlich große Schwierigkeiten, auf dieser Verzeitlichung ihrer Welt zu bestehen, um dem gnostischen Dualismus von heilloser Zeit und zeitlosem Heil auszuweichen. Denn das Geschichtsverständnis der biblischen Traditionen ist im Kern keineswegs dualistisch geprägt. Es gibt nicht eigentlich eine „natürliche“ Weltgeschichte und zusätzlich eine „übernatürliche“ Heilsgeschichte. Es gibt nur eine Geschichte, und die Heilsgeschichte ist jene Weltgeschichte, in der unabgeschlossene Vergangenheiten und eine end-zeitliche Hoffnung für alle verkündet und verteidigt werden.

5. Der biblischen Religion geht es nicht um den Dualismus von Zeit und Ewigkeit, sondern um die Zeitlichkeit der Zeit, um die endzeitlich befristete Zeit – und um das Da-sein Gottes in ihr. Exodus 3,14: Ich bin der „Ich-bin-da“. Der biblische Gott stellt sich sozusagen in einem Zeitverweis vor. Er macht uns gewissermaßen zu Zeit-Genossen seines Da-seins. Wer dies gläubig wahrnimmt („Meine Zeit in Deinen Händen“, Ps 31,16), lebt und handelt in einem end-gültigen Zeithorizont. 

Der Glaube an den biblischen Gott bricht in der Religionsgeschichte der Menschheit den Bann der Ewigen Zeit. Auch die Jesusgeschichte ist in meinen Augen eine apokalyptische Geschichte. Selbst sie steht unter dem „apokalyptischen Vorbehalt“ gegenüber einer Ewigen Zeit, unter deren Herrschaft alles vor-läufig und prinzipiell überholbar bleibt – z. B. auch jede christologische Aussage über Jesus. Zwischen der christologischen Botschaft und der Zeitbotschaft der biblischen Apokalyptik besteht deshalb ein enger Zusammenhang. In diesem Sinn muss auch die Jesusgeschichte als eine apokalyptische Erzählung verstanden werden. Schließlich ist es diese biblische Apokalyptik, die mit ihrer Verzeitlichung der Zeit die geschichtliche Verankerung des historischen Jesus als Christus Gottes vorbereitet.

6. Die damit angezeigte „Unterbrechung“ der „Ewigen Zeit“ wurde nicht in Athen, nicht in der Logoskultur der Griechen angedacht, sondern in Jerusalem bzw. in der prophetisch-anamnetischen Kultur Israels erfahren, erlitten und erzählt. Bis heute bleibt der christlichen Theologie – „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – die Auseinandersetzung mit diesem metaphysisch weithin stummen Zeitbewusstsein im Ersten Testament aufgetragen. Es geht m. E. darum, den gedächtnisgenährten, den narrativ praktischen Boden dieses apokalyptischen Zeitbegriffs wahrzunehmen und dialektisch zu sichern. Der Versuch einer sog. hermeneutischen Sicherung des biblischen Zeitdenkens mit Hilfe der sog. Weltbildthese scheint mir allerdings problematisch – worauf ich schon an anderer Stelle hingewiesen habe. Man unterscheidet dabei nämlich zwischen archaischen und modernen Weltbildern und verschenkt dann großzügig die Apokalyptik und ihre Theodizee und die damit verbundenen Wahrnehmungen der Welt an die mythischen Weltbilder archaisch-biblischer Zeit. Dabei tun die Vertreter solcher Weltbildthesen so, als gäbe es zunächst ein weltbildindifferentes, gewissermaßen ein geschichtlich und kulturell nacktes Christentum, einen nackten biblischen Gottesgedanken, den man wie Platons Ideen denken und nachträglich mit höchst unterschiedlichen, womöglich einander ausschließenden Weltbildern bekleiden kann. Doch die Wahrnehmung der Welt der Menschheit im Blick auf das Ende der Zeit steht für die christliche Gottesrede, die ihren biblischen Wurzeln treu bleiben will, nicht zur Disposition.

Nicht transzendental-idealistisches Identitätsdenken, sondern nur dialektisches Zeitlichkeitsdenken kann m. E. den Herausforderungen der biblischen Apokalyptik Rechnung tragen und den Verzeitlichungsfaktor vor allem in Christologie und Eschatologie einklagen. Die theologische Rückgewinnung des Zeit- und Geschichtskerns im Christentum kann nicht über eine selbst schon von allen Unterbrechungserfahrungen gereinigte Eschatologie geschehen, sondern nur über ein von der biblischen Apokalyptik (und ihrer Theodizee) angestoßenes Nichtidentitätsdenken. Christuswissen kann nicht ausschließlich am Schreibtisch und vor der einschlägigen Bücherwand erworben werden. Dieses Wissen muss die „Weisheit der Praxis“, der zeitbezogenen Nachfolgeerfahrung in sich aufgenommen haben. Die konkrete Nachfolgesituation gehört schließlich zur „Definition“ des Christseins.[5]

[5] Vgl. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Vorwort zur 5. Aufl. und speziell § 4 (JBMGS 3/1).

7. Was übrigens die Sprachwelt der biblischen Apokalyptik angeht, so findet sie sich m. E. in vielen Passagen quer durch beide biblischen Testamente. Sie ist besonders stark geprägt von der Krisensprache der Propheten, der Leidenssprache der Psalmen und von der Rede vom „Leiden an Gott“ in Teilen der Weisheitsliteratur. Diese negative Theologie in der Sprache der biblischen Apokalyptik sucht dem Schrei der Menschen ein Gedächtnis zu geben und der Zeit der Welt ihre Zeitlichkeit, d.h. ihre endzeitliche Frist. Für diese apokalyptische Sprache ist Gott gleichsam das noch nicht zu Ende gekommene Thema der Zeit. So darf ich hier noch einmal aus dem Alten Testament den eindrucksvollen Text zitieren: „Wächter, wie lange noch dauert die Nacht? Der Wächter antwortet: Es kommt der Morgen, es kommt auch die Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt wieder und fragt!“ (vgl. Jes 21,11ff.). Hier bereitet sich die Rede Jesu vom „Wachen“ und der apokalyptische Ruf am Ende des Neuen Testaments vor. Oder täuscht mich mein Eindruck, dass dieser apokalyptische Ton – bei aller sonstigen Polyphonie – beide Testamente unseres Glaubens durchstimmt, bis hin zu den Schlusstönen des Neuen Testaments und dass so überhaupt erst eine angemessene biblische Hermeneutik entstehen kann? Der apokalyptische Ruf nach der „Wiederkehr Jesu“ am Ende des Neuen Testaments meint ja nicht eine „Rückkehr Jesu“ unter den Horizont unserer (vom Tode gezeichneten) Zeit, sondern zielt auf das Ereignis des Endes eben dieser Zeit. Und für mich falsifiziert jedenfalls diese apokalyptische Sprache das neognostisch beliebte Axiom, wonach religionsgeschichtlich immer das Scheitern der Prophetie zur Heraufführung der Apokalyptik und das Scheitern der Apokalyptik allemal zur Gnosis führt. 

Die Zeit wird mit ihrer Thematisierung der biblischen Gottesfrage nie an ein Ende kommen; das Ende ist immer schließlich – Gott selbst. Der biblische Gott bleibt auch im verheißenen „Reich Gottes“ der Deus semper maior: Gott in beglückender Nähe (visio beatifica) doch auch fern (im Geheimnis seines ewigen Da-seins). Nicht die Zeit ist ewig, nicht der Mensch, sondern – Gott. Und alle Formen des Pantheismus sind der biblischen Religion fremd. Im biblischen Gott begegnet uns die ewige Einheit von Liebe und Gerechtigkeit, derentwegen wir Gott „heilig“ nennen, zu ihm beten und seinem Christus – auf den Straßen unseres Lebens – nachzufolgen suchen. 

Diese apokalyptischen Texte der Bibel sind deshalb in ihrem Kern keineswegs Dokumente leichtsinniger oder zelotisch angeschärfter Untergangsphantasien, sie sind auch keine gnostisch-spekulative „Entschleierung der letzten Weltgeheimnisse“, sondern literarische Zeugnisse einer Weltwahrnehmung, die die Antlitze der Leidenden „aufdecken“ will, Zeugnisse einer Weltsicht, die „wacht“ und das „enthüllt“, was wirklich „der Fall ist“ – gegen die in allen Weltanschauungen immer wieder auftauchende Neigung zur mythischen oder metaphysischen Verschleierung des himmelschreienden Unglücks in der Welt und gegen jene kulturelle Amnesie, die heute auch die vergangenen Leidenden unsichtbar und ihre Schreie unhörbar macht.

8. Was aber geschah nun seit der Theologiewerdung des Christentums (vor allem unter dem Einfluss des hellenistischen Denkens, für das die Zeit keinerlei kognitive Relevanz hat)? Wie ist die frühchristliche Theologie mit diesem apokalyptischen Impuls der Bibel, wie mit der apokalyptischen Jesusgeschichte des Neuen Testaments umgegangen? Hat das Christentum bei seiner Theologiewerdung dieses apokalyptische Zeitlichkeitsdenken nicht zu schnell relativiert oder schließlich überhaupt wieder aufgegeben? Hat die christliche Theologie nicht versucht, das Problem der sog. Parusieverzögerung, die Krise der sog. Naherwartung im frühen Christentum dadurch zu überwinden, dass sie die zeitlichen Impulse in ihrer Religion schließlich völlig entzeitlicht und – vor allem mit Hilfe der Kategorien des Mittleren Platonismus – idealisiert (also zeitlos verallgemeinert) hat?[6] Hat man damit aber nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? Beginnt nicht hier schon eine bedenkliche Enttemporalisierung der christlichen Theologie und ihrer Begriffswelt?[7] Und wird durch diese Enttemporalisierung die Zeit selbst für die Theologie nicht zur leeren, überraschungsfreien Unendlichkeit, in der es nie mehr Zeit werden kann für ein „Ende der Zeit“? Und ist das nicht in gewisser Weise ein „moderner“ Stand der Theologie, die zwar (mit Recht) viel über Zukunft spricht, aber kaum über ein Ende, ein Ende der Zeit, das man lieber einer theologiearmen Sektensprache überlässt? Ich sehe jedenfalls in der systematischen Theologie, soweit sie sich als fundamentale Theologie begreift, die besondere Aufgabe, die verzeitlichte Zeit in die theologische Begriffsbildung entschiedener einzubeziehen – um des Begriffs der Wahrheit und der Gottesrede willen.

[6] Diese Aussagen berühren vielfach die sog. Hellenisierungsdebatte in der christlichen Theologie, die auch in anderen Arbeiten ausdrücklich zur Sprache kommt: vgl. z. B. Metz, Memoria passionis, § 16 (JBMGS 4) und ders., Neue Politische Theologie – Versuch eines Korrektivs der Theologie, zweiter Teil: Zum Vernunftkonzept der NPTh (JBMGS 3/2).

[7] Vgl. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Exkurs: „Dogma als gefährliche Erinnerung“ (JBMGS 3/1), 211–215.

9. Der biblische Gott und sein Christus kommen m. E. nicht primär im (hellenistischen) Seinshorizont, sondern im (apokalyptischen) Zeithorizont zur Sprache, nicht also in erster Linie „ontotheologisierend“, sondern „temporalisierend“![8] Die damit eingeforderte Verzeitlichung des theologischen Denkens ist nur für jene eine wahrheitswidrige „Relativierung“, die ein zeitlos idealisierendes Verhältnis zur Wahrheit haben, das dem zeitlichen Ereignischarakter der biblischen Botschaft in beiden Testamenten unseres Glaubens m. E. unangemessen bleibt. Diese Temporalisierung des theologischen Denkens ist keineswegs eine fahrlässige Preisgabe verbindlicher Vergangenheiten. In dieser Verzeitlichung arbeitet hier die Dialektik eines erinnerungsbegabten, anamnetisch-praktischen Denkens – und zwar sowohl in der Gestalt eines narrativ verwurzelten Vermissungswissens, das in der heute herrschenden kulturellen Amnesie „offene Vergangenheiten“ zu erzeugen sucht, wie auch in der Gestalt gefährlich-befreiender Erinnerungen im Blick auf den geschichtlichen Gang der Menschheit. Und schließlich weiß sich eine solche Verzeitlichung der Theologie herausgefordert wie auch gestützt vom (liturgischen) Gedächtnis einer Kirche, der der Blick auf das Ende der Zeit nicht fremd sein darf.

[8] Über das Verhältnis des Zeithorizonts zum „klassischen“ Seinshorizont (analogia entis) würde ich gern noch etwas schreiben, wenn mir – Deo adiuvante – die Zeit bleibt.

Ich erlaube mir abschließend noch einen Vorschlag für das bevorstehende Reformationsjubiläum (2017). Wäre dies nicht eine Gelegenheit, die in den Theologien beider Konfessionen immer wieder aufbrechende Hellenisierungsdebatte zu überfragen im Blick auf die in beiden biblischen Testamenten des christlichen Glaubens angebotenen Vorgaben für eine lebendige Einheit christlicher Theologie?


Autor

Johann Baptist Metz, Professor emeritus für Fundamentaltheologie war von 1963–1993 Lehrstuhlinhaber an der Universität Münster und im Anschluss mehrere Jahre Gastprofessor am Institut für Philosophie der Universität Wien. Er ist einer der Mitbegründer von CONCILIUM, ab 1966 Mitglied des Gründungsausschusses der Universität Bielefeld, ab 1969 Berater des römischen Sekretariats für die Nichtglaubenden, Berater der Synode der Diözesen der Bundesrepublik Deutschland in Würzburg (1971–1975). 

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