1. Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens

Nach der politischen Wende im ehemaligen Ostblock (1989) wurden vereinfachte Deutungen der Situation des sog. „realen Sozialismus“ der 70er und 80er Jahre medial verbreitet. Es wurde behauptet, die Bevölkerung dieser Länder wäre durchaus unzufrieden, weil sie nach der Möglichkeit der freien Entfaltung von Wirtschaft und Kultur gesehnt hätte; die Menschen seien arm gewesen, weil sie – wegen der unsinnigen Planwirtschaft sowie wegen einer verfallenen Arbeitsmoral – keine wirtschaftlichen Leistungen erreichen könnten. Diese Behauptungen, die schon in der Zeit des Kalten Krieges durch die antisowjetische Propaganda verbreitet worden sind, entsprachen der Wirklichkeit nur teilweise. Es war zwar ein Großteil der Bevölkerung unzufrieden, doch nur ein ganz kleiner Teil sah die Lösung der prekären Situation der Gesellschaft in einer radikalen Befreiung vom Joch der kommunistischen Diktatur. Auch die Armut – zumindest in der Tschechoslowakei und der damaligen DDR – war nur relativ. Im Vergleich zum Westeuropa war der Unterschied gravierend, doch in den reichsten Ländern des Ostblocks durfte man schon damals über eine Konsumgesellschaft sprechen, weil die Mehrheit der Bevölkerung nach dem Abfall von christlichen Traditionen keine andere Perspektiven vor sich hatte, als einen „sozialistischen Wohlstand“ zu erreichen, nach dem die ältere Generation von heute mit der Nostalgie noch immer zurücksehnt.

Wie schaute der „sozialistische Wohlstand“ aus? – Die erste Errungenschaft dieses Systems war die Sicherheit. Jeder Bürger war verpflichtet „in die Arbeit zu gehen“ und der Staat garantierte jedem Arbeiter und Angestellten einen Arbeitsplatz mit Gehalt. Die Menschen „gingen in die Arbeit“ und viele von ihnen haben für ziemlich kleine Löhne fleißig und oft auch gern und gut gearbeitet, insbesondere im Bereich der Industrie, andere dagegen erledigten für deutlich größere Löhne führende Funktionen in Betrieben, Ämtern oder auch im Apparat der Kommunistischen Partei, und wieder andere nutzten die Gelegenheit, durch die bloße Anwesenheit auf dem Arbeitsplatz ihren Lebensunterhalt zu sichern. Darüber hinaus waren viele Dinge wie etwa Gesundheitsversorgung praktisch kostenlos. Manche Leute nutzten Möglichkeiten aus, Materialien von ihren Arbeitsplätzen (etwa Baumaterial) für eigene Privatzwecke zu verwenden. Es war zwar illegal, aber sehr verbreitet und meistens straffrei. Es galt ein Sprichwort: „Wer in der Arbeit nicht klaut, beraubt die eigene Familie.“

In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass die totalitären Umstände nur von bestimmten Segmenten der Gesellschaft kritisiert worden sind. Die Unzufriedenen waren jene Bürger, die ihre eigene Erfahrung mit der Einschränkung von Freiheiten oder mit der direkten Verfolgung hatten, nämlich die aktiven Christen, menschenrechtliche Aktivisten, freie Künstler, Philosophen oder Literaten bzw. diejenige deren Eigentum vom Regime enteignet wurde.


Diese Gruppen wurden vom Rest der Gesellschaft entweder bewundert oder verachtet. Bewundert von denen, die selber litten, aber keinen Mut hatten, sich dagegen zu wehren oder überhaupt darüber zu sprechen; verachtet dagegen von denen, die ganz zufrieden waren und die nicht verstanden, dass es sich jemand lohne, für „irgendwelche Ideen“ zu kämpfen. Es gab noch eine weitere ganz spezielle Gruppe der Unzufriedenen, die nicht selten zur privilegierten Gruppe von Parteigenossen angehörten. Diese konnten schon damals durch die Reisemöglichkeiten einen Vergleich mit dem Westen machen. Und das Ergebnis war klar: Wir wollen einen wirklichen Wohlstand!

Die Situation in den „reicheren Ländern“ des Ostblocks vor 1989 könnte man mit der Situation Israels in Ägypten vergleichen. Obwohl die Hebräer unter den Pharaonen gelitten hatten, haben sie sich in der Wüste nach den Fleischtöpfen Ägyptens gesehnt (vgl. Lev 16, 3).

Doch nicht nur durchschnittliche Bürger, sondern auch Wissenschaftler oder kirchliche Amtsträger haben heute oft den Eindruck, mit der Freiheit käme in unsere Gesellschaft auch Unsicherheit und Unordnung sowie manche negativen sozialen Erscheinungen.[1] In der Zeit des sog. realen Sozialismus ähnelte der Staat einem riesigen Hausarrest. Die Bürger und Bürgerinnen zogen sich in ihre Privatsphäre zurück, wo sie sich sicher und frei fühlten. Wenn jemand aus seiner privaten Nische hinausgehen wollte, musste er einen Mantel von ideologischen Floskeln und leeren Parolen anziehen und sich in die Schar der loyalen Mitläufer einordnen. Die amtliche Kontrolle durch den Apparat des Staates und der Kommunistischen Partei sowie die soziale Kontrolle der Bürger untereinander waren so dicht, dass die Gelegenheit gesetzeswidrig zu handeln in vielen Bereichen fast ausgeschlossen war. Dies galt etwa für den illegalen Import der klassischen Drogen (Kokain, Haschisch usw.). Der Import von diesen Stoffen war durch die totale Grenzensperre nahezu unmöglich. Darüber hinaus durfte die Existenz irgendwelcher sozialen Probleme nur ganz beschränkt öffentlich zugegeben werden.[2] Die Folge war, dass die Mehrheit der Bevölkerung keine Erfahrung mit der kleinen oder auch großen Kriminalität hatte. Die Menschen hatten nur wenige Ressourcen. Wenn sie aber gehorsam dem Regime gegenüber waren, erlebten sie ein Gefühl der Sicherheit. Zugleich schien das System so fixiert zu sein, dass keine Aussicht auf eine Wende bestand. Es herrschte eine Totenruhe. 

Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der Kontrast zwischen der „Sicherheit vor der Wende“ und der gegenwärtigen Unsicherheit von einem nicht kleinen Anteil der tschechischen Bevölkerung noch nach fast 30 Jahren immerhin schockartig erlebt wird.

[1] Ein Zeugnis über die ziemlich kritische Beurteilung des Stands der tschechischen Gesellschaft nach der Wende seitens der Vertreter der katholischen Kirche findet man z. B. im Schlussdokument der tschechischen Plenarsynode „Život a poslání křesťanů v církvi a ve světě“ (Leben und Sendung der Christen in der Kirche und in der Welt“ (Kostelní Vydří: Karmelitánské nakladatelství, 2007). Darüber berichtet der Verfasser dieses Artikels in seinem Beitrag in der Theologisch-praktischen Quartalschrift (2018, H1, im Druck) „Zwischen Diaspora und Tradition“. Auch einige Soziologen machen die Freiheit nach der Wende (direkt oder indirekt) für die negativen Entwicklungen in der tschechischen Gesellschaft verantwortlich, wie z. B. SAK, Petr, Proměny české mládeže [Metamorphosen der tschechischen Jugend], Praha: Petrklíč, 2000.

[2] Zum Thema der Tarnung von sozialen Problemen in der ČSSR vgl. z. B. MATOUŠEK, Oldřich et al., Základy sociální práce, Praha: Portál, 2012, 140-141.

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