3. Unterschiede unter den Christen aus einer anderen Sicht

Ein Problem der großen Kirchen auf dem Alten Kontinent besteht darin, dass sie ihre Mitglieder, vornehmlich Kinder und Jugendliche, für die aktive Teilnahme am kirchlichen Leben immerhin vielmehr durch die traditionelle kirchliche Sozialisation als durch die Förderung der mündigen Lebensentscheidung gewinnen wollen. Als Karl Rahner (1972) die persönliche Glaubensentscheidung der einzelnen Christen als Voraussetzung der Zukunftsfähigkeit der katholischen Kirche Deutschlands forderte, rechnete er offensichtlich zu wenig mit der Trägheitskraft des Kulturchristentums. Gerade in den traditionell christlichen Regionen herrscht die volkskirchliche Mentalität noch mehr als 50 Jahre nach dem Konzil vor.[1]

In den letzten 50 Jahren gab es mehrere Ansätze zur Wiederbelebung des christlichen Glaubens in Europa. Doch die Realität des kirchlichen Lebens weist nach wie vor manches Zeichen von Ungleichzeitigkeit auf.[2] Es leben in der katholischen Kirche (nicht nur im ehemaligen Ostblock) mehrere „Generationen“ zusammen – oder besser gesagt nebeneinander. Wir begegnen diejenigen, die  ein starkes Bedürfnis haben, die heilige Kirche vor den „feindlichen Anfechtungen“ zu verteidigen, oder jenen, die sich den Gedanken der Orthopraxis eigen machten und sich für die Notleidenden einsetzen, und wieder andere, die aus den Erlebnissen der Gebetsgemeinschaften oder geistlichen Bewegungen ihre Glaubenserfahrungen schöpfen, oder auch jene, die ihre Glaubenssicherheit in dem alten tridentinischen Ritus wiederfinden wollen.   

Durch diese radikale Pluralität innerhalb der Kirche entsteht in manchen Partikularkirchen[3] eine absurde Situation. Die ohnehin ziemlich kleine Anzahl der Katholiken ist nochmals in mehrere Gruppierungen gespalten, Anhänger unterschiedlicher Strömungen schimpfen in den Sozialnetzwerken gegeneinander und die Bischofskonferenzen verfügen nur über eine begrenzte Konsensfähigkeit.


Es gibt nur wenige Gelegenheiten zu sachlichen Auseinandersetzungen unter den Christen unterschiedlicher Meinungen. Dadurch ist die Situation mit der Zeit nicht besser sondern eher schlimmer geworden. Gibt es denn einen Ausweg?

Ohne die Erfahrung der postkommunistischen Länder mit der Verfolgung der Gläubigen würden wir nur schwierig ein Hoffnungslicht auf den grauen Horizont der Kirchen Mittel- und Westeuropas sehen. Doch die Geschichte belehrt uns: Die Krisensituationen sind ambivalent. Manchmal geraten Menschen durch solche Situationen in eine Isolation und suchen ihre Sicherheit in einem Ghetto; manchmal aber öffnen sie sich zueinander und lernen durch die gemeinsam erlebte Not auch einen gemeinsamen Weg zu gehen.

In den kommunistischen Gefängnissen der 50er Jahre entstanden echte Freundschaften zwischen den Menschen verschiedener Meinungen und sehr oft wurde ein fester Grund für die gelebte Ökumene von Geistlichen unterschiedlicher Kirchen gesetzt. Erst in den Extremsituationen menschlicher Not unterscheidet man zwischen dem Substanziellen und dem „Rest“. 

Meine Erfahrungen mit den Hausmessen, geheimen Ferienlagern oder den „Sicherheitsmassnahmen“ der Staatspolizei bedeuten für mich auch einen Schlüssel für das Verständnis des Einsatzes von Papst Franziskus für arme Menschen, Flüchtlinge oder Verfolgte. Wenn über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede unter den Christen in einer Aula der theologischen Fakultät diskutiert wird, schaut das anders aus als wenn die Menschen im Lebensgefahr entscheiden sollen, ob sie gemeinsam beten oder sogar das heilige Abendmahl feiern dürfen. Papst Franziskus erlebte in seinem Leben solche Situationen, in denen er das Wesentliche von dem Zweitrangigen unterscheiden musste. Und er nimmt solche Situationen auch heute wahr, indem er mit den (ungültig) verheirateten katholischen Priestern oder mit den Geschiedenen und Wiederverheirateten persönlich spricht.

[1] Vgl. RAHNER, Karl. Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1972, 25-26.

[2] Den Begriff „Ungleichzeitigkeit“ führte in den theologischen Diskurs K. Rahner ein (Strukturwandel, 38-41); eine Aktualisierung für die gegenwärtige Umstände findet man z. B. in KAPLÁNEK, Michal/WIDL, Maria, Život katolických křesťanů „padesát let poté“ [Das Leben der katholischen Christen „fünfzig Jahre danach“], in: ŠRAJER, Jindřich/KOLÁŘOVÁ, Lucie, Gaudium et spes padesát let poté [Gaudium et spes fünfzig Jahre danach], Brno: CDK, 2015, 208-220.

[3] Mit dem Begriff „Partikularkirche“ werden die kirchlichen Gemeinschaften innerhalb einer Bischofskonferenz gemeint, im Gegensatz zur „Ortskirche“, die als die Bezeichnung für einzelne Diözesen gilt.

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