Zwischen den Gegensätzen wachsen

In seinem programmatischen Schreiben Evangelii gaudium führt Franziskus vier Gegensatzpaare ein, die er im direkten Verhältnis zur Soziallehre der Kirche sieht[1]. Bei den vier Gegensätzen handelt es sich nicht um Widersprüche. Es geht auch nicht um die dialektische Aufhebung der Gegensätze auf einer höheren Ebene. Seine Gegensätze bleiben bestehen und bedingen sich in ihrem Zusammenspiel. So entstehen innerlich zusammenhängende Handlungsfelder. Als Menschen können wir in der Zeit und im Raum handeln. Wir können die Einheit und den Konflikt bemühen, um in einer offenen Frage weiterzukommen. Die Handlungsdynamik kann von Ideen und von der Wirklichkeit gesteuert sein, vom Anliegen für das Ganze und vom Interesse an einem besonderen Teil

Ich nenne diesen neuen Zugang gerne „die Papst-Franziskus-Formel“[2]. Es geht um mehr, als um seine Art und Weise mit moralischen und pastoralen Fragen umzugehen. Es handelt sich um eine schlüssige Kurzformel, die sich gut in den Kanon der anerkannten Prinzipien und offenen Sätzen der Soziallehre einfügen lässt. 


[1] Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Evangelii gaudium“ an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen des gottgeweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhl 194), Bonn 2013 (im Folgenden „EG“), Nr. 217ff.

[2] Siehe etwa: Erny Gillen, Gesund geführt im Krankenhaus. Die Papst Franziskus Formel, 2. erweiterte Auflage, Lit Verlag: Zürich, 2017.

Der MSK im Spannungsfeld von Raum und Zeit

Sicherheit und Freiheit werden im Raum und in der Zeit unterschiedlich erlebt. Auf den ersten Blick bietet der Raum mehr Sicherheit und Freiheiten als die Zeit. Unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Sicherheit fühlt sich Achmed im kleinen Boot auf dem offenen Mittelmeer sicher, während Hussein sein Einzelzimmer als Aussperrung erlebt. Der Raum ist einfacher zu beschreiben als die Zeit. Er ist greifbar. Die Zeit hingegen zerrinnt einem zwischen den Händen. Achmed sieht nur die Zukunft, also die Zeit, die noch nicht angekommen ist. Sie gibt ihm Hoffnung, in das kleine Boot zu steigen. Für Hussein bleibt die Zeit in seinem Raum als Jetzt-Zeit stehen. Er sieht keinen Ausweg in der kommenden Zeit, nur eine von ihm selber geschlossen gehaltene Tür.

Der erste heuristische Satz von Papst Franziskus lautet: „Die Zeit ist mehr wert als der Raum“ (EG, 221). Er leitet den Ethiker, Politiker oder Sozialarbeiter auf die richtige Fährte im Umgang mit dem MSK. Denn es ist wenig zielführend, Achmed oder Hussein mit ihren jeweiligen Räumen vertraut machen zu wollen. Das Boot und das Zimmer bekommen ihre Bedeutung erst im Spannungsverhältnis zur Zeit. Weil das Boot für Achmed nur ein Übergangsraum für eine neue Heimat ist, lässt er sich auf das kurze Abenteuer ein und blendet alle Ängste um sich und seine Familie aus. Hussein hingegen erkennt den ihm angebotenen sicheren Hafen eines Einzelzimmers in seinem Zeiterleben nicht. Der Raum fällt ihm auf den Kopf und lässt die Zeit ohne Zukunft stillstehen.

Für den politischen Umgang mit dem MSK unter der Rücksicht des ersten Satzes der Papst-Franziskus-Formel heißt dies zuerst, der Zeit die nötige Zeit zu geben. Auffanglager für Flüchtende auf dem afrikanischen Kontinent ohne konkrete Perspektive werden zu Elendszentren verkommen, wenn sie in keine klar zu erkennende Zeitlogik eingebettet sind. Entwicklungshilfe, die ankommt und die Menschen erreicht, verändert mehr deren Zeithorizont als deren Räumlichkeiten. Die Politik, selber Gefangene einer beraumten Zeit, schafft lieber überschaubare materielle Räume (die man auch noch öffentlich wirksam einweihen kann), als offene Zeiten, die ihrer Kontrolle im Ergebnis entzogen sind. Genau deswegen braucht etwa eine dem Phänomen des MSK angemessene Migrationspolitik den Verzicht auf die ständige Politisierung. Wie alle Fragen der sozialen Sicherheit ruft auch die heutige Migration in und um Europa nach einer strukturellen Lösung, auf die Menschen von fern und von nah sich verlassen können. Es ist höchste Zeit, einen solchen sozialen Rahmen EU-weit und weltweit zu erarbeiten und bekannt zu machen. Die Antwort liegt in der Zeit und weniger im Raum, auch wenn beide natürlich untrennbar zusammengehören.

Für den ethischen Diskurs im Umgang mit dem MSK bedeutet dies unter Berücksichtigung unseres ersten heuristischen Satzes, den Wechsel von einem im engen Sinn normativen zu einem hermeneutisch tugendethischen Ansatz. Normative Forderungen, nach mehr Sicherheit und Schutz sind indirekt Forderungen nach räumlichen Interventionen. Die Anerkennung der Not und des Leidens lässt dagegen weit mehr Optionen offen, bis hin zum passionierten Mitleiden ohne Aktivismus (im Sinne des Englischen “compassion”). Hier setzt auch eine aufgeklärte soziale Arbeit an: Menschen werden Perspektiven und keine fertigen Lösungen angeboten. Lazarette sind temporäre Einrichtungen. Sie ersetzen weder das Krankenhaus noch das Zuhause. Eine kreative ethisch-politische Aktion könnte etwa fordern, die den Steuerverwaltungen entzogenen “internationalen” Gelder einem oder mehreren Fonds für Migranten zuzuführen. So käme das geparkte Geld wieder in den Fluss der Zeit und könnte denen helfen, auf deren Buckel es erwirtschaftet wurde — den Armen außer Sichtweite.

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