2. Die Macht des Kirchenrechts

Die Wirkmächtigkeit des Rechts kennzeichnet seinen gesellschaftlichen Einfluss als soziales Phänomen von enormer Macht. Recht prägt die Realität. Es ist in menschlichen Sozialbeziehungen omnipräsent, wenn auch häufig versteckt oder verdeckt. Es wirkt subjektkonstitutiv: Nicht selten erzeugt das Recht die Subjekte, deren Handeln es reguliert.[22] Dies erläutert der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin in seiner Studie »Law’s Empire«, in der Dworkin die ausufernde Herrschaft des Rechts in der Moderne beschreibt, die in Politik, Ethik und andere gesellschaftliche Teilbereiche vordringe:

»We live in and by the law. It makes us what we are: citizens and employees and doctors and spouses and people who own things. It is sword, shield, and menace: we insist on our wage, or refuse to pay our rent, or are forced to forfeit penalties, or are closed up in jail, all in the name of what our abstract and ethereal sovereign, the law, has decreed […]. We are subjects of law’s empire.«[23]

Auch Kirchenrecht ist in dieser Weise mächtig. Wer sich im Raum der Kirche bewegt, befindet sich in einem Rechtsraum. Kirchliche Strukturen ruhen auf Recht auf. Es entscheidet sich auf Grundlage des Rechts, wer Laiin, Laie oder Kleriker ist, welche Voraussetzungen bedingen, zu Letzterem zu werden, und wie dies geschieht. Es hängt am Recht, welche Vollmachten Amtsträgerinnen und -träger in der Kirche haben. Es bestimmt sich rechtlich, wer Zugang zu den Sakramenten hat und wer nicht. Viele dieser Regulierungen beruhen auf der kirchlichen Doktrin. Doch erst mithilfe des Rechts erfahren sie Generalisierung, gerinnen zu Strukturen und werden Teil der kirchlichen Organisationsgestalt.

Die Macht des Kirchenrechts ist offenkundig und doch nicht ungebrochen. Denn gegenwärtig wird vielfach deutlich, dass das Kirchenrecht in allerlei Feldern an Kausalität einbüßt. Indem sein Einfluss auf die soziale Realität und auf die Beziehungen zwischen den Kirchengliedern in den westlichen Kirchen schwindet, verliert es an Wirkung. Als Instrument der Strukturbildung bleibt Kirchenrecht effektiv, seine Bedeutung für das Leben der Gläubigen nimmt jedoch tendenziell ab. Rechtliche Verbots- oder Gebotsnormen werden häufig missachtet. Nur wenige Katholikinnen und Katholiken in den Industriestaaten fühlen sich beispielsweise verpflichtet, der jährlichen Beichtpflicht nachzukommen (vgl. c. 989 CIC/1983), und wenn doch, dann kaum, weil das Recht dies gebietet. Nur selten haben Normübertretungen Sanktionen zur Folge. Erfahren kirchliche Autoritäten von Rechtsbrüchen, unternehmen sie regelmäßig nichts. Kaum ein Bischof käme auf die Idee, katholische Eltern, die ihre Kinder in einem anderen Bekenntnis taufen lassen, mit einem Strafverfahren zu überziehen (vgl. c. 1366 CIC/1983). Auch rechtlich eröffnete Möglichkeiten werden abnehmend wahrgenommen. Ob kirchliche Eheschließung oder Ehenichtigkeitsverfahren: zumindest in den Ländern des Westens ist die Nachfrage nach kirchenrechtlichen Institutionen und Rechtsschutzangeboten rückläufig. Rechtliche Entscheidungsnormen sind überwiegend Papierrecht. Mit Ausnahme der Missbrauchsverfahren kommen Strafverfahren selten vor, dasselbe gilt für zivile Klagen; Ehenichtigkeitsverfahren spielen eine Rolle, dies hierzulande aber weitgehend allein bei den Kirchengliedern, die im kirchlichen Dienst stehen und bei erneuter Heirat beschäftigungsrechtliche Konsequenzen befürchten. 

Der Einfluss des Kirchenrechts geht also merklich zurück. Was dies bedeutet, wenn Recht an Macht verliert, kann man bei Luhmann nachvollziehen. Dieser hielt zwei Phänomene für den rechtlichen Machtverlust verantwortlich: Inflation und Deflation von Macht. Eine Inflation von Macht erfolge durch »Entwertung der Motivationsmittel«[24], zum Beispiel durch »eine Kommunikationspraxis, die mit leeren oder nur ausnahmsweise gedeckten Drohungen arbeitet«[25]. Kirchliche Sanktionsdrohungen, die überwiegend ins Leere laufen, sind Zeichen einer Inflation des Kirchenrechts. Eine Deflation von Macht hingegen gehe einher mit dem »Nichtausnutzen der Chancen der Generalisierung mit dem Nachteil, daß Übertragungsmöglichkeiten ungenutzt bleiben«[26]. Deflationär ist Recht, wenn es hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Ein Kirchenrecht, das nur unzureichende Freiheitsrechte der Kirchenglieder garantiert, keinen durchgestalteten Verwaltungsrechtsweg kennt und in der Verfolgung von Missbrauchsdelikten versagt, weist deflationäre Züge auf. Es entpuppt sich in den betroffenen Feldern als ohnmächtiges Regulativ der Rechtsgemeinschaft Kirche.

Diese Probleme des Kirchenrechts schlagen sich in seiner Akzeptanz nieder. Mit der Anerkennung des Rechts schwindet die Befolgungsbereitschaft der Kirchenglieder. Sie begegnen dem Recht vielfach mit Ablehnung. Auch dies ist eine Form der Machtausübung. Die Kirchenglieder zeigen ihre Macht, indem sie inflationäres Recht nicht beachten und das deflationäre Nichtausnutzen rechtlicher Chancen beanstanden.


[22] Zum Zusammenhang von Macht und Subjektivierung vgl. Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., Analytik der Macht (Suhrkamp-Taschenbuch 1759), hg. von Daniel Defert und François Ewald, 5. Aufl., Frankfurt am Main 2013, 240–263.

[23] Ronald Dworkin, Law’s Empire, Oxford 1998, VII.

[24] Luhmann, Macht, 89.

[25] Ebd.

[26] Ebd.

Related Posts

Leave a Reply