3. Das kirchliche Recht der Macht

Ihre Missbilligung hat nicht wenig mit dem kirchlichen Recht der Macht zu tun, den kirchenrechtlichen Normen, die die Verteilung kirchlicher Macht vornehmen. Die Zuweisung von Macht folgt in der Kirche nämlich weitgehend einem zunehmend hinterfragten Kriterium: der Zugehörigkeit zum Klerikerstand. Kirchlicher Machthaber ist, wer über potestas verfügt. Dieser Begriff umfasst zwei Formen von Gewalt: Weihe- und Leitungsgewalt, die miteinander gekoppelt sind. Die durch die Priester- und Bischofsweihe verliehene Weihegewalt (potestas ordinis) – die Befähigung zur Setzung von liturgisch-sakramentalen Akten, die Geweihten vorbehalten sind, – bildet die Voraussetzung, um Ämter aufzufüllen, die über Leitungsgewalt (potestas jurisdictionis oder regiminis), also die Vollmacht zur Kirchenleitung verfügen. »Zur Übernahme von Leitungsgewalt«, so notiert der Gesetzgeber in c. 129 § 1 CIC/1983, »sind nach Maßgabe der Rechtsvorschriften diejenigen befähigt, die die heilige Weihe empfangen haben.« Hieraus folge: »Allein Kleriker können Ämter erhalten, zu deren Ausübung Weihegewalt oder kirchliche Leitungsgewalt erforderlich ist« (c. 274 § 1 CIC/1983).

Die Laiinnen und Laien werden vom geltenden Recht als befähigt gekennzeichnet, »bei der Ausübung dieser Gewalt nach Maßgabe des Rechtes mit[zu]wirken« (c. 129 § 2 CIC/1983). Was »mitwirken« (»cooperari«) bedeutet, ist gleichwohl unklar. Die Vorsilbe »mit-« weist die Handlungsmöglichkeiten der Laiinnen und Laien als Mittun an dem aus, was Kleriker tun. Welche Optionen dies jedoch einschließt, bleibt im Dunkeln. Es kursieren unterschiedliche Interpretationen der Norm. Während manch einer das Mittun der Laiinnen und Laien auf Zu- und Assistenzarbeiten zu klerikalem Handeln beschränkt wissen will, deuten andere »cooperari« als selbständige und eigenverantwortete Mitarbeit an kirchlichen Zielen.

Obwohl es zum Verständnis der Vollmacht von Laiinnen und Laien in der Kirche dringlich wäre, die Bedeutung dieses Begriffs zu klären, hat sich die höchste kirchliche Autorität bisher nicht dazu herabgelassen, den Umfang der Laienmacht näher zu bestimmen. Fast entschuldigend erläutert der Kanonist Hubert Socha, die Unklarheiten seien theologischem Nichtwissen über die innere Struktur der Kirchengewalt geschuldet. Gesetzgeberische Uneindeutigkeit sei daher notwendig, »um der theologisch nicht geklärten Frage, wie diese Vollmacht strukturiert ist, Rechnung zu tragen«[27].

Man kann das Schweigen des Gesetzgebers auch kritischer sehen. Denn so nebulös, wie das Kirchenrecht sich in der Frage verhält, welche Kompetenzen Laiinnen und Laien haben, so sehr profitieren kirchliche Entscheider von dieser Ungewissheit, gibt sie ihnen und ihrer Machtausübung doch maximalen Spielraum. Solange zweifelhaft ist, was Laiinnen und Laien vermögen, kann jeder kirchliche Machthaber selbst entscheiden, wie er die Norm auslegt. In einer Ortskirche, in der der Leitungsdienst der Laiinnen und Laien benötigt wird, verheißt »cooperari« Selbständigkeit und Eigenverantwortung. In einer Ortskirche, in der die Zahl der Kleriker ausreicht, ist außer Zu- und Assistenzarbeiten nichts drin. Macht, so zeigt dieses Beispiel, hat eine Schlagseite zur Willkür. Uneindeutiges Recht ermöglicht willkürliches Entscheiden.

Eine weitere Besonderheit des kirchlichen Rechts der Macht ist, dass es Macht nur in geringem Maße restringiert und kontrolliert. Das Kirchenrecht kennt keine Gewaltenteilung. Dies hat zur Folge, dass legislative, judikative und exekutive Gewalt in den Händen derselben Hierarchen liegen. Es gibt eine funktionale Scheidung der Vollmachten (vgl. c. 391 § 1 CIC/1983). Diese ist allerdings ausschließlich pragmatisch begründet (vgl. c. 391 § 2 CIC/1983) und hat nicht die in modernen staatlichen Ordnungen gewaltenteilige Trennschärfe. Die bei Papst, Bischofskollegium und Diözesanbischof (vgl. cc. 331, 336, 381 CIC/1983) angelagerte Macht ist nicht demokratisch differenziert, sondern absolutistisch kumuliert.

Die Kirche orientiert sich bis heute an Herrschaftsmodellen der Frühmoderne, wie die Kanonisten Nobert Lüdecke und Georg Bier beschreiben: »Das kirchliche Recht wird phänomenologisch und strukturell analog zum Recht im Staat verstanden, gleichwohl nicht dem des modernen demokratischen Rechtsstaates, sondern dem des neuzeitlichen absolutistischen Obrigkeitsstaates«[28]. Das absolutistische Ordnungsgefüge kulminiert im »nur moralisch gebundenen Monarchen an seiner Spitze, der das Gemeinwohl verwirklicht«[29] und hierbei vom bestimmenden Einfluss Dritter weitgehend frei ist. Ein Diözesanbischof verfügt in seiner Diözese über »alle ordentliche, eigenberechtigte und unmittelbare Gewalt, die zur Ausübung seines Hirtendienstes erforderlich ist; ausgenommen ist, was von Rechts wegen oder aufgrund einer Anordnung des Papstes der höchsten oder einer anderen kirchlichen Autorität vorbehalten ist« (c. 381 § 1 CIC/1983). Hiermit ist große Machtfülle angezeigt, die allerdings begrenzt wird. Sie ist funktional auf die zur Ausübung des bischöflichen Dienstes notwendige Macht beschränkt und konkurrenziell beschnitten, insoweit die bischöfliche Macht an den im universalen Kirchenrecht zugunsten anderer Autoritäten getroffenen Kompetenzentscheidungen ihre Grenze findet.

Anders gelagert ist der Fall des Papstes. Ihm wird »höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt«zugeschrieben, die er »immer frei ausüben kann« (c. 331 CIC/1983). Dass dies auf eine weitgehend einschränkungsfreie Macht hinweist, zeigt sich im kirchlichen Prozessrecht, das das päpstliche Handeln einer gerichtlichen Überprüfung entzieht (vgl. c. 1404 CIC/1983). Daher stellt sich beim Papst die Frage, ob und inwieweit ihn Kirchenrecht überhaupt bindet. Begrenzt ist er in seiner Amtsführung vom göttlichen Recht. Doch: was das göttliche Recht besagt, bestimmt der Papst selbst. Lüdecke und Bier betonen: »Was vom Amt des Papstes her gefordert ist, entscheidet der Papst in Verantwortung vor Gott.«[30] Dies umfasse die Entscheidung darüber, ob und wodurch das päpstliche Handeln beschränkt sei. Zwar mag der Papst moralisch gehalten sein, Kirchenrecht zu beachten. Tut er es aber nicht, muss er keine Sanktionen befürchten. Es gibt keine rechtliche Instanz, die ihn daran hindern könnte, sich über geltendes Recht hinwegzusetzen. 


[27] Hubert Socha, Kommentar zu c. 129, in: Klaus Lüdicke (Hg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici, Essen 2017, 7 Rdnr. 5.

[28] Norbert Lüdecke – Georg Bier, Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung, unter Mitarbeit von Bernhard Sven Anuth, Stuttgart 2013, 26.

[29] Ebd.

[30] Ebd., 118.

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