4. Fazit

Das kirchliche Recht der Macht leistet somit nur eine schwache Machtkontrolle. Dass die kirchlichen Autoritäten in geringem Maß mit den Mitteln moderner rechtsstaatlicher Machtbegrenzung konfrontiert sind, mag sie zunächst mächtiger erscheinen lassen als säkulare Machthaber, doch bleibt ihre Macht mit einem Illegitimitätsverdacht behaftet. Das kirchliche Recht der Macht erzeugt in seiner Offenheit für willkürliche Machtausübung und absolutistische Machtkumulation bei den Kirchengliedern Anfragen. Machtsoziologisch liegt das nahe, wie man bei Luhmann nachvollziehen kann. Denn in unserer Kultur nehme man »eine normative, rechtliche und moralische Bindung des Machthabers an seine Macht«[31] an. Wer Macht in Form von Rechtsmacht ausübe, dürfe sich unter Legitimitätsgesichtspunkten nicht willkürlich verhalten, sondern müsse sich auf »Konsistenzzwänge«[32] einlassen. Es sei eine Eigenart von Macht in der westlichen Moderne, dass »eine normative Form der Legitimation oder gar eine juristische Durchformulierung der Macht den Machthaber verstärkt dazu zwingt, konsistent zu sein.«[33] Macht werde um ihre »Elastizität in der Handhabung« gebracht, insoweit es ihren Inhaberinnen und Inhabern nur selten »erlaubt wird, opportunistisch zu verfahren.«[34] Dies erklärt, warum das Recht – ganz unabhängig von seinem Inhalt – vor allem durch seine eigene Macht zur Einhegung politischer Macht, die so genannte »Herrschaft des Rechts« (»rule of law«), Legitimität erzeugt. Recht weist Macht als legitime aus, indem es sie begrenzt und kontrolliert. 

Macht erweist sich also in der Moderne dadurch als anerkennungswürdig, dass sie durch Recht Begrenzung erfährt. Ihre Legitimität schwindet hingegen in dem Maße, in dem Recht die Machthaber nicht bindet, sondern absolutistischer Willkür Raum gibt. Mangelnde Gewaltenteilung, geringe Machtkontrolle, durchbrochene Bindung kirchlicher Autoritäten an Recht und Gesetz durchlöchern die Herrschaft des Rechts und tragen zur Delegitimierung des Kirchenrechts bei.

Es verwundert daher kaum, dass kirchliche Machthaber auffällig zurückhaltend sind, Macht und Recht aufeinander zu beziehen. Die Machtfrage wird ungern artikuliert. Nicht selten wird sie hinter anderen Begriffen verborgen, zum Beispiel in die Terminologie des Dienstes gehüllt. So betont beispielsweise Franziskus, dass es eine primäre Aufgabe des Papstes sei, »alle daran zu erinnern, dass die Macht der Kirche der Dienst ist«[35].

Dies ist theologisch nachvollziehbar – und hat doch einen Beigeschmack. Denn Franziskus‘ Bemerkung kann man als symptomatisch für Versuche bewerten, durch Theologisierung der Macht den Blick auf die Macht der Kirche und die Macht in der Kirche zu verstellen. Wer Macht hinwegtheologisiert, erschwert es den Kirchengliedern, Machtstrukturen zu identifizieren und Machtasymmetrien zu kritisieren. Und er leistet einer fragwürdigen Logik Vorschub. Denn wenn Macht Dienst ist, leistet der, der mehr Macht hat, einen größeren Dienst.

Hieraus ergeben sich zwei Anfragen. Von Steven Lukes stammt der wichtige Hinweis, dass man Macht in zweifacher Weise zu verstehen habe, als »Macht zu« und »Macht über«. Vor allem Letzteres, bemerkt Lukes, gerate häufig aus dem Blick.[36] Beim Kirchenrecht scheint dies der Fall zu sein. Der »Macht zu« schenkt man als Vollmacht, Kompetenz oder Ermächtigung im Dienst an der Kirche und ihren Mitgliedern Aufmerksamkeit. Hierüber wird jedoch gerne vergessen oder übergangen, dass Macht immer zugleich »Macht über« andere ist. Sie begründet Herrschaftsverhältnisse über andere. Ob der, der mehr Macht hat, auch mehr dient, sei dahingestellt. Unzweifelhaft aber ist, dass der, der mehr Macht hat, andere in stärkerem Maße dominiert. Das sollte man in keiner Theologie der Macht vergessen.Auch ein weiterer wertvoller Impuls geht von Steven Lukes Machtheorie aus. Lukes betont, dass Macht stets mit Verantwortlichkeit zusammenhängt: »The point […] of locating power is to fix responsibility for consequences held to flow from the action, or inaction, of certain specifiable agents.«[37] Für das Kirchenrecht konkretisierte Rainer Bucher diesen Gedanken in der Forderung, die Macht des Kirchenrechts aufzudecken, denn dies schließe eine Identifizierung verantwortlicher Akteure ein: »Die Machtfrage zu stellen heißt also zu fragen: Wer ist für das Kirchenrecht verantwortlich?«[38] Wenn etwas Wahres darin liegen soll, dass der, der mehr Macht hat, einen größeren Dienst leistet, müsste sich dies darin niederschlagen, dass der mit der größeren Macht auch ein Mehr an Verantwortung für die Kirche und ihre Gläubigen trägt. Doch dieser Zusammenhang wird bisher nicht ausreichend deutlich: Das eklatante Führungsversagen kirchlicher Machthaber im Umgang mit den Missbrauchsfällen zumindest hat in Deutschland noch kein Diözesanbischof zum Anlass genommen, um als Zeichen der Größe seiner Verantwortlichkeit von seiner Macht Abstand zu nehmen und sein Amt niederzulegen.


[31] Luhmann, Macht, 47.

[32] Ebd.

[33] Ebd., 28.

[34] Ebd.

[35] Franziskus, Ansprache zum Abschluss der III. Generalversammlung der außerordentlichen Bischofssynode, Synodenhalle, 18. Okt. 2014, w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/october/documents/papa-francesco_20141018_conclusione-sinodo-dei-vescovi.html. (24.6.2019).

[36] Vgl. Lukes, Power, u.a. 163.

[37] Ebd., 58.

[38] Bucher, Noch ziemlich rücksichtsvoll, 169. 


Author

Judith Hahn ist Professorin für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Sie forscht zur Kirchenrechtstheorie und -soziologie, zu religiösem Recht im Rechtspluralismus und der Stellung der Kirche in säkularem Staat und pluraler Gesellschaft. Ihre jüngsten Publikationen umfassen zwei Monographien: Church Law in Modernity. Toward a Theory of Canon Law between Nature and Culture, Cambridge University Press: Cambridge 2019, und Grundlegung der Kirchenrechtssoziologie, Springer: Wiesbaden 2019

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