Macht des Rechts – Recht der Macht.
Zur Bedeutung des Kirchenrechts

in kirchlichen Machtfragen

von Judith Hahn



Über Macht und Recht zu sprechen, setzt drei Klärungen voraus. Es bedarf der Festlegung, was Macht und was Recht meint, sowie der Herstellung einer Verbindung von Macht und Recht. Dies wird dadurch erschwert, dass Macht in den Sozialwissenschaften ein hochumstrittener Begriff ist;[1] der Soziologe Steven Lukes spricht von einem »essentially contested concept«.[2] Über Macht zu reden, erfordert eine Entscheidung für einen der elaborierten Machtbegriffe. Für eine Studie über den Zusammenhang von Macht und Recht bietet sich das von Niklas Luhmann entwickelte Machtverständnis an, insoweit dieser nicht nur einen aufeinander bezogenen Macht- und Rechtsbegriff nutzte, sondern überdies eine belastbare Verknüpfung zwischen beiden herstellte.

1. Macht, Recht und ihr Zusammenhang

Luhmann definierte, »daß Macht eine Chance ist, die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern.«[3] Es klingt Max Webers berühmte Aussage an, der Macht bestimmte als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«[4] Anders als Weber aber hält sich Luhmann nicht mit dem gegen die Machtausübung gerichteten Widerstreben der Machtunterworfenen auf, sondern blickt auf die Selektionsleistung der Macht. Aus den für eine Handlung zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die zu verfolgen, die nicht naheliege, zeuge von Macht.[5] Deren Verwirklichung werde von den Machtunterworfenen überwiegend mitgetragen, insoweit auch diese alternative Möglichkeiten – wie Sanktionen – auszuschließen suchten. Luhmann notiert: »Das Vermeiden von (möglichen und möglich bleibenden) Sanktionen ist für die Funktion von Macht unabdingbar.«[6] Über die Funktionsweise der Macht führt er aus: Macht »stellt mögliche Wirkungsketten sicher unabhängig vom Willen des machtunterworfenen Handelnden – ob er will oder nicht.«[7] Diese Unabhängigkeit der Machtausübung vom Willen der Machtunterworfenen hat bei Luhmann eine geringere Gewaltneigung als beispielsweise bei Weber. Er betont: »Die Kausalität der Macht besteht in der Neutralisierung des Willens, nicht unbedingt in der Brechung des Willens des Unterworfenen. Sie betrifft diesen auch und gerade dann, wenn er gleichsinnig handeln wollte und dann erfährt: er muß ohnehin.«[8]

Unter Recht versteht Luhmann eine »Struktur […], die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht«[9]. Während viele Definitionen bei einer Verhaltenssteuerung durch Recht ansetzen, gewichtet Luhmann Verhalten als nachrangig. Er meint über das Recht: »Seine primäre Funktion liegt nicht in der Bewirkung bestimmten Verhaltens, sondern in der Stärkung bestimmter Erwartungen«[10]. Recht sei eine Normativität, bei der »erwartet werden kann, daß normatives Erwarten normativ erwartet wird«[11]. Diese Erwartungsstruktur ist gleichwohl nicht zureichend, um Recht zu identifizieren, denn sie trifft auf alle Normen zu. Von anderen Normen hebe sich Recht als die Kommunikationen ab, die sich über die Codierung Recht/Unrecht identifizieren lassen.

Binäre Codes nutzt Luhmann auch, um den Zusammenhang von Macht und Recht herauszuarbeiten. Macht sei primär codiert als Macht/Ohnmacht, nutze aber ebenso eine Zweitcodierung. Diese erfolge »in unserer Tradition durch den binären Schematismus von Recht und Unrecht.«[12] An anderer Stelle spricht Luhmann von einer »Doppelnatur des Macht-Codes, bestehend aus Stärke/Schwäche und Recht/Unrecht«[13]. Hierdurch macht er kenntlich, dass er bei Macht in modernen westlichen Gesellschaften hinter der Machtausübung durch direkte Einwirkung auf andere eine strukturell verfestigte zweite Ebene am Werk sieht: die Ausübung von Macht durch Recht. Er bemerkt: »Das Alltagsleben einer Gesellschaft ist in sehr viel stärkerem Maße durch Rekurs auf normalisierte Macht, namentlich auf Rechtsmacht, bestimmt, als durch brutalen und eigensüchtigen Machtgebrauch.«[14] Als »normale« Form, in der Menschen alltäglich der Macht begegnen, ist die Rechtsmacht eine Kraft, die das gesellschaftliche Miteinander steuert.[15]

Die Macht des Rechts stelle einen hohen »Technisierungsgrad der Macht«[16] dar, so Luhmann. Recht nämlich biete der Macht die Möglichkeit »ihre[r] relativ kontextfreien Verwendbarkeit.«[17] Luhmann skizziert Recht in diesem Sinne als ein beliehenes Machtgefälle, insoweit es Machtverhältnisse herstelle, die sich aus der direkten Konfrontation nicht ergäben: »Man kann sich dann in Situationen, in denen keiner der Beteiligten kraft eigener Machtquellen eindeutig Macht über den anderen hat, doch auf ein eindeutiges Machtgefälle beziehen, das auf einem der Situation fernstehenden Machthaber beruht und durch das Recht vermittelt wird. Wer in der Situation Recht hat, hat dann auch die Macht, Macht zu mobilisieren.«[18] Luhmann nennt Recht daher »einen Klingeldraht zum Machthaber«[19].

Diesem Zusammenhang von Macht und Recht kann man auf mehreren Ebenen nachgehen. Zwei Perspektiven wird dieser Beitrag in Bezug auf das Kirchenrecht nachvollziehen, die Macht des Rechts und das Recht der Macht. Die Rede von der Macht des Rechts deutet auf die soziale Bedeutung des Rechts als Machtphänomen der besonderen Art (2.). Der Verweis auf das Recht der Macht hebt hervor, dass Recht Machtverhältnisse erzeugt, indem es Machtzuweisung betreibt (3.). Beide Dynamiken, die Macht des Rechts und das Recht der Macht, stehen mit jeder Rechtsordnung in Verbindung,[20] das Kirchenrecht eingeschlossen.[21] Dessen Macht und sein Umgang mit Macht stehen aktuell in der Kritik. Über machttheoretische Gründe hierfür wird ebenfalls zu sprechen sein (4.).


[1] So u. a. Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975, 1–2.

[2] Vgl. Steven Lukes, Power. A Radical View, Basingstoke 2005, 110–124, unter Bezugnahme auf Walter Bryce Gallie, Essentially Contested Concepts, in: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1956), 167–198.

[3] Luhmann, Macht, 12.

[4] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, besorgt von ‎Johannes Winckelmann. 5. rev. Aufl., Tübingen 1972, 27.

[5] Vgl. Luhmann, Macht, 22–23.

[6] Ebd., 23.

[7] Ebd., 11.

[8] Ebd., 11–12.

[9] Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Wiesbaden 2008, 105.

[10] Niklas Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), 175–202, 179–180.

[11] Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, 144.

[12] Luhmann, Macht, 34.

[13] Ebd., 65.

[14] Ebd., 17.

[15] Nicht wenige Gegenwartsstimmen kritisieren dies als Pathologie der Verrechtlichung des Sozialen. Zu aktuellen Kritiken aus dem deutschsprachigen Raum vgl. u.a. Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015; Daniel Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2212), Berlin 2017.

[16] Luhmann, Macht, 48.

[17] Ebd.

[18] Ebd., 48–49.

[19] Ebd., 49.

[20] Zur Bedeutung beider Perspektiven für das staatliche Recht vgl. u.a. Georg Zenkert, Die Macht des Rechts – das Recht der Macht, in: Volker Gerhardt u.a. (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 2011, Berlin 2011, 11–24.

[21] Dass der Zusammenhang von Kirchenrecht und Macht freilich nur selten thematisiert und auch von Kanonistinnen und Kanonisten häufig übersehen wird, hielt mir einmal – völlig berechtigt – der Pastoraltheologe Rainer Bucher vor: vgl. Rainer Bucher, Noch ziemlich rücksichtsvoll, in: Lebendige Seelsorge 69/3 (2018), 168–169. Den vorliegenden Beitrag verstehe ich daher auch als einen Versuch, diesen blinden Fleck der Macht im Kirchenrecht zur Sprache zu bringen.

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