2. Das diskursiv-deliberative Modell von politischer Öffentlichkeit und seine kritischen Ergänzungen 

2.1. Diskursiv-deliberatives Modell (J. Habermas)

Sowohl in der Theorie von Öffentlichkeit als auch in deren theologischer Rezeption wird einem bestimmten Konzept besondere Aufmerksamkeit zuteil: dem vom prominenten Sozialphilosophen Jürgen Habermas vertretenen Modell einer diskursiv-deliberativen Öffentlichkeit.[6] Es ist durch (argumentativen) Austausch (Diskurs) und Entscheidungen durch Diskussion (Deliberation) gekennzeichnet.[7] In seinem instruktiven Überblick zur Öffentlichen Theologie streicht Florian Höhne heraus: „Besonders ertragreich für die Diskussion im deutschen Kontext erscheint mir das […] [in Anlehnung an Habermas formulierte] Öffentlichkeitsverständnis […]: Öffentlichkeiten meinen dann (zivilgesellschaftliche) Netzwerke ‚für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen‘ (Habermas).“[8]

Die (berechtigte) Strahlkraft des diskursiv-deliberativen Modells (bis in die Theologie hinein) ergibt sich daraus, dass es sehr eng an Grundlagen und Funktionsweisen des demokratischen Rechtsstaats gebunden ist. Für Habermas ist Öffentlichkeit, insbesondere als diskursiv-deliberative verstanden, strukturnotwendig für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie. In deren Zentrum steht bekanntlich die Gewaltenteilung aus parlamentarischer Legislative, der Exekutive von Regierung und Verwaltung sowie den Kontrollinstanzen der Judikative: „Der Kernbereich des politischen Systems bildet sich aus den bekannten institutionellen Komplexen der Verwaltung (einschließlich der Regierung), des Gerichtswesens und der demokratischen Meinungs- und Willensbildung (mit parlamentarischen Körperschaften, politischen Wahlen, Parteienkonkurrenz usw.).“[9] In der Peripherie dieses Herzstückes rechtsstaatlicher Demokratie muss es jedoch – unabdingbar zu ihrem Funktionieren – eine Öffentlichkeit geben, die zwar politisch ausgerichtet, aber außerhalb des institutionellen Zentrums der parlamentarischen Demokratie angesiedelt ist: „zuliefernde Gruppen, Assoziationen und Verbände […], die gegenüber Parlamenten und Verwaltungen, aber auch auf dem Weg über die Justiz, gesellschaftliche Probleme zur Sprache bringen, politische Forderungen stellen, Interessen oder Bedürfnisse artikulieren und auf die Formulierung von Gesetzesvorhaben oder Politiken Einfluß nehmen“[10]. Die zentrale Funktion dieser politischen Öffentlichkeit ist die Sensibilisierung für gesellschaftliche Notlagen, die im institutionell-politischen Betrieb durch dessen Betriebsblindheit außer Blick zu geraten drohen. „Öffentlichkeit ist ein Warnsystem mit unspezialisierten, aber gesellschaftsweit empfindlichen Sensoren.“[11] Infrastrukturell umgesetzt wird eine solche politische Öffentlichkeit, die der Funktion, der Kritik und der Kontrolle des institutionellen Parlamentarismus dient, durch Akteure der Zivilgesellschaft. Im Wesentlichen bilden diese ein Geflecht von Organisationen, Vereinigungen und Assoziationen, die weder zur Sphäre der Wirtschaft noch zur Sphäre der Staatsorgane gehören. „Ihren institutionellen Kern bilden vielmehr jene nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Zusammenschlüsse und Assoziationen auf freiwilliger Basis, die die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit in der Gesellschaftskomponente der Lebenswelt verankern.“[12] In dieser sich notwendig an das institutionelle Zentrum parlamentarischer Demokratie anlagernden Zone politischer Öffentlichkeit, die sich in Netzwerken zivilgesellschaftlicher Akteure verwirklicht, haben im Habermas’schen Modell auch Kirchen und Religionsgemeinschaften ihren (öffentlichen) Platz: „Das Spektrum [zivilgesellschaftlicher Gruppen] reicht von Verbänden, die klar definierte Gruppeninteressen vertreten, über Vereinigungen […] und kulturelle Einrichtungen […] bis zu ‚public interest groups‘ […] und Kirchen oder karitativen Verbänden.“[13]

Die Prominenz des Habermas’schen diskursiv-deliberativen Modells in der Öffentlichen Theologie überrascht so nicht. Denn einerseits ist es nahe an den Mechanismen einer funktionierenden rechtsstaatlichen Demokratie angesiedelt, andererseits weist es den Religionsgemeinschaften einen Platz im Gefüge zivilgesellschaftlicher Akteure zu, in dessen Rahmen sich die religiös Praktizierenden mit Beiträgen zu politischem Diskurs und Deliberation am demokratischen Prozess öffentlich beteiligen können. Dennoch regt sich auch Kritik am Habermas’schen Modell, werden Ergänzungsnotwendigkeiten angemahnt, die für eine öffentliche und politische Theologie von hoher Relevanz sind.

2.2. Sozioökonomische Bedingungen deliberativen Austauschs (N. Fraser)

Die feministische Sozialphilosophin Nancy Fraser stimmt der Habermas’schen Idee einer für die Demokratie unverzichtbaren diskursiv-deliberativen Öffentlichkeit durchaus zu. Allerdings äußert sie erhebliche Zweifel, ob Habermas’ Idee in der Wirklichkeit real existierender Demokratien so ohne weiteres funktioniert. Nicht zuletzt aus den Erfahrungen der Frauenbewegungen speist sich Frasers zentrales Anliegen, die Beteiligung aller an einer diskursiv-deliberativen Öffentlichkeit nicht einfachhin vorauszusetzen, sondern auf deren notwendige Bedingungen hinzuweisen. Historisch und empirisch verweist Fraser auf den oft subtilen Ausschluss, den etwa Frauen, aber auch untere soziale Schichten (in ihrer Diktion: „plebejische Gruppen“) aus diskursiven und deliberativen Öffentlichkeiten zu erleiden hatten: „Frauen aller Klassen und Ethnien wurden wegen des ihnen zugeschriebenen Genderstatus von der offiziellen politischen Partizipation ausgenommen und plebejische Männer waren davon aufgrund ihrer Besitzverhältnisse formal ausgeschlossen.“[14] Aus diesen historischen Erfahrungen heraus fordert Fraser allgemein die Schaffung solch sozioökonomischer Bedingungen, welche die politische Beteiligung von Menschen unterschiedlicher sozialer Milieus de facto ermöglichen. Dies bedeutet auch die Realisierung eines Mindestmaßes an sozioökonomischer Gleichheit: „Es ist vielmehr eine notwendige Bedingung für die partizipatorische Gleichstellung, dass systembedingte soziale Ungleichheiten abgeschafft werden. Das bedeutet nicht, dass alle das gleiche Einkommen haben müssen, doch es erfordert eine annähernde Gleichheit, die mit den systemisch erzeugten Beziehungen von Herrschaft und Unterordnung unvereinbar ist.“[15]

2.3. Performative Dimension der Öffentlichkeit (J. Alexander)

In ähnlicher Form wie Fraser würdigt auch der US-amerikanische Kultursoziologe Jeffrey C. Alexander das Modell einer diskursiv-deliberativen Öffentlichkeit, fordert jedoch ebenso seine kritische Ergänzung.[16] Auch bei Alexander ist die Zivilgesellschaft mit ihren Fähigkeiten zur politischen Willens- und Meinungsbildung zentral für eine funktionierende Demokratie. Wie aber Fraser das deliberative Element um den Fokus auf die sozioökonomischen Bedingungen der Möglichkeit zur Beteiligung an Diskursen und Entscheidungen erweitert, so betont Alexander den performativen, expressiven, dramaturgischen und nicht bloß diskursiven Aspekt von Öffentlichkeit. Ausdrücklich gegen Habermas formuliert er: „[…] publicness should be seen more in dramaturgical terms.“[17] Die Funktion von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft für die Demokratie ist bei Habermas und Alexander ähnlich. Öffentlichkeit ist ein „Warnsystem“, legt den Fokus auf soziale Pathologien, auf Diskriminierungen, auf soziale Schieflagen, die das Instanzengeflecht des demokratischen Rechtsstaats aus Legislative, Exekutive, Judikative nicht abfängt, möglicherweise nicht einmal wahrnimmt. Aber der Modus des Warnsystems ist nach Alexander ein anderer. Öffentlichkeit, auch die politische, ist eben nicht nur diskursiv, durch Debatten, Wortbeiträge, kommunikativen Austausch geprägt, sondern (ebenso) durch Performances, durch Rituale, Inszenierungen: „Dies [die Bildung öffentlicher Meinung] kann geschehen durch das Öffentlichmachen von Diskriminierung und Ausgrenzung, durch den öffentlichen Protest gegen Unrecht, durch das ‚gegenöffentliche‘ Ritualisieren, Inszenieren und Dramatisieren repressiv stillgelegter bzw. verdrängter sozialer Konflikte ‚auf der öffentlichen Bühne‘, durch symbolische Aktionen wie durch Übersetzung der jeweiligen Anliegen in den öffentlichen Diskurs.“[18]


[6] Vgl. auch den instruktiven Überblick von Edmund Arens, Going public. Öffentliche Religionen und Öffentliche Theologie, in: Ders. u.a. (Hg.), Integrationspotenziale von Religion und Zivilgesellschaft. Theoretische und empirische Befunde, Zürich 2016, 19–69. Arens unterscheidet im Hinblick auf öffentliche Religion und öffentliche Theologie vier Konzeptionen von Öffentlichkeit: diskursive, mediale, performative und politisch organisierte Öffentlichkeit. In diesem Artikel möchte ich vom konkreten (historischen wie aktuellen) Beispiel der „Politischen Nachtgebete“ ausgehend insbesondere auf das Potenzial der performativen Dimension von Öffentlichkeit und die Bedeutung sozioökonomischer Bedingungen für eine politisch-öffentliche Theologie hinweisen.

[7] Vgl. zum Verständnis einer deliberativen Demokratie bei Habermas im Überblick etwa Walter Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 2001, 91–117.

[8] Florian Höhne, Öffentliche Theologie. Begriffsgeschichte und Grundfragen, Leipzig 2015, 48.

[9] Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 2017, 430. 

[10] Ebd., 430.

[11] Ebd., 435.

[12] Ebd., 443.

[13] Ebd., 430f.

[14] Nancy Fraser, Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt/M. 2001, 122.

[15] Ebd., 127. Zur bleibenden Gültigkeit von Frasers Kritik an solch liberalen Öffentlichkeitskonzepten wie dem Habermas’schen vgl. auch: Michael Reder, Öffentlichkeit und Liberalismus. Eine pragmatische Neubestimmung anhand des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Religion, in: Judith Könemann/Saskia Wendel (Hg.), Religion, Öffentlichkeit, Moderne. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, 227–256; 232.

[16] Vgl. Jeffrey C. Alexander, The Civil Sphere, New York 2006; zur verdienstvollen Kurzdarstellung von Alexanders Modell vgl. Arens, Going public, 24–26. Auf die performative Dimension der auch öffentlichen interreligiösen Dialoge habe ich hingewiesen in: Ansgar Kreutzer, Die Performanz des interreligiösen Dialogs für die plurale Gesellschaft – und ihre theologische Bedeutung, in: Ansgar Kreutzer u.a. (Hg.), Vielfalt zeigen. Religion, Konfession und Kultur in Vermittlung [FS F.-J. Bäumer], Ostfildern 2019, 119–141. 

[17] Alexander, The Civil Sphere, 250.

[18] So die Umschreibung bei Arens für Alexanders Position: Arens, Going Public, 25f.

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