Michal Kaplánek – « Von bescheidener Sicherheit zu unsicheren Freiheit »

Der vergangene Jahr (2017) wurde durch einige Erscheinungen gekennzeichnet, die als Folgen der Extremströmungen zu interpretieren sind, sowohl im politischen als auch im kirchlichen Bereich: der Anfang des Brexit-Verfahrens, die Parlamentswahlen in vielen Ländern, bei denen rechtsextreme oder populistische Parteien erstaunlich viele Stimmen bekommen haben, die Proteste einiger Bischöfe und Theologen gegen Papst Franziskus usw.

Als wir nach dem gemeinsamen Nenner dieser Erscheinungen fragen, kommen wir unwillkürlich zum Schluss, dass die (europäischen) Gesellschaften und Kirchen sich in zwei Lager auseinander scheiden. Auf der einen Seite stehen Menschen, die auf Zusammenarbeit zwischen Nationen und Religionen vertrauen und immerhin an die Weiterentwicklung der Demokratie glauben und Bewahrung der Menschenrechte fordern. Auf der anderen Seite sind diejenigen Bürger und Christen, die dieses Vertrauen und diesen Glauben nicht mehr teilen können. Sie fühlen sich bedroht und verunsichert. Diese Situation ist für viele Länder Europas neu. Bei der Bewältigung der daraus folgenden Herausforderungen könnte die Erfahrung der Christen aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks vielleicht ein wenig helfen. In diesen Ländern gibt es nämlich schon seit der Wende ein latentes Misstrauen gegenüber den „westlichen Europawerten“, das sich aber in den letzten Jahren – anscheinend mit einer „ideologischen Hilfe“ von Moskau – radikalisiert. Bei der Beschreibung der Situation in den ehemaligen kommunistischen Ländern gehe ich von meinen persönlichen Erfahrungen aus (geb. 1962).

In diesem Beitrag möchte ich auf dem Hintergrund des Verlustes bequemer Sicherheiten des sog. realen Sozialismus jene wieder aufgetauchte Sehnsucht nach „dem schon einmal Sicherem“ im Staat und in der Kirche reflektieren und zugleich eine theologische Antwort auf die daraus folgenden Herausforderungen suchen.


Die Situation der Spätmoderne bzw. Postmoderne ist durch die Individualisierung gekennzeichnet. Einzelne Menschen müssen sich immer wieder für etwas entscheiden, doch es gibt keine allgemein anerkannten Kriterien, die ihnen helfen mögen, Entscheidungen zu treffen. Menschen sind zwar bei ihren Entscheidungen frei, sie müssen aber eigene Kriterien entwickeln oder traditionelle Kriterien aufnehmen bzw. sie auf die neuen Umstände adaptieren.[1] Der Prozess der Individualisierung ist ausschlaggebend auch für den Aufbau und für die Entwicklung des Verhältnisses des Einzelnen zum christlichen Glauben und zur Kirche. Die Folgen dieses Prozesses spiegeln sich in den Problemen mit der Weitergabe des Glaubens wider. Daher ist diese Problematik ein gutes Beispiel für die radikale Änderung der gesellschaftlichen Atmosphäre in den letzten 50 Jahren.

Viele Menschen leiden an der verlorenen Sicherheit der Traditionen oder auch eines Obrigkeitsbefehls. Die daraus folgenden Angstgefühle oder apokalyptische Szenarien sind eine Herausforderung auch für die Theologie. Wenn es gilt, es gäbe „in der Liebe keine Furcht“ (1 Joh 4,18), sollten in der Liebe Gottes verankerte Christen gegenüber der fatalen Verunsicherung resistent bleiben. Doch die Realität schaut anders aus: Die katholischen Bischöfe in der Tschechischen Republik fürchten sich vor der wirtschaftlichen Unsicherheit; manche Kurienkardinäle fürchten sich vor dem Verlust der Macht der Amtskirche, einige Bischöfe und Theologen prophezeien der Kirche unter der Führung von Franziskus einen Untergang in das Chaos. Es schaut so aus, als ob manche Christen, samt ihrer Amtsträger, lieber auf die Freiheit und Barmherzigkeit innerhalb der Kirche verzichten wollen, als die – sowieso schon stattgefundene – Verunsicherung zulassen.

Gibt es auf diese Herausforderungen eine theologische Antwort? – Diese Frage gehe ich, mit Hinweis auf das apostolische Schreiben Evangelii gaudium, zum Ende dieses Artikels kurz an.

[1] Vgl. BECK, Ulrich/BECK-GERNSHEIM, Elisabeth, Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: diess., Riskante Freiheiten. Individualisierung der modernen Gesellschaften, Frankfurt: Suhrkamp, 1994, 10-39.

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