Der 31. Oktober 2017 gibt Gelegenheit, ein historisch realistisches Bild von Luther und der Reformation zu gewinnen und damit zugleich neue Wege der Verständigung zu erschließen. Denn die Zeiten sind vorbei, in denen die einen den Wittenberger Augustinermönch heroisierten und politisch-national oder ideologisch instrumentalisierten und die anderen ihn verteufelten und für alle ihnen missliebigen Erscheinungen der jeweiligen Gegenwart verantwortlich machten. Das fünfhundertste Reformationsgedächtnis, das in Deutschland bereits 2008 eingeleitet wurde, als der damaligen Vorsitzenden der EKD Bischof Wolfgang Huber die sogenannte Luther-Dekade eröffnete, ist durch drei memorialpolitische Besonderheiten gekennzeichnet:
Ein realistisches Bild von Luther und der Reformation zu entwerfen, bedeutet als erstes, den Wittenberger ebenso wie seine Gegenspieler von einer Jahrhunderte alten interessengeleiteten Rezeptionsgeschichte zu befreien und sie aus ihrer Zeit heraus zu verstehen.[1] Das späte 15. und frühe 16. Jahrhundert war eine Epoche des Umbruchs, des beschleunigten Wandels, der tiefen Verunsicherung der Menschen und der Suche nach verlässlicher Wahrheit. Seit Generationen herrschte in der lateinischen Christenheit ein tiefes Verlangen nach einer grundlegenden Kirchenreform, der Institutionen ebenso wie der Seelsorge und des Glaubens – eine Reform, die angesichts der damaligen engen Verschränkung von Kirchlichem und Weltlichem zugleich tiefgreifende politische und gesellschaftliche Veränderungen bringen würde.
Es herrschte somit ein soziopsychisches Klima, das uns heute fast vertraut erscheinen mag. Indes – die Strukturen von Politik und Gesellschaft waren grundlegend andere als wir sie gewohnt sind, ebenso die Denkweisen und Emotionen der Menschen, ihre Ängste wie ihre Hoffnungen. Denn die Reformationsepoche und die Gegenwart sind durch den fundamentalen Wandel des Aufklärungszeitalters von einander getrennt. Daher sind uns die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der damaligen Zeit fremd, ebenso viele der Grundprinzipien des menschlichen Denkens und Handelns: Magie und Glauben an ein direktes Einwirken von Hexen, Dämonen und Teufeln waren allpräsent, und zwar nicht nur bei breiten Volksschichten, sondern auch bei Gelehrten und an den Höfen und in den Kanzleien. Die Zeitgeschichte war zugleich Heilsgeschichte, das heißt die tagespolitischen Fronten wurden erlebt als das eschatologische Ringen zwischen Gott und Teufel, zwischen Kindern des Lichts und Kindern der Finsternis, als Ringen um Ordnung oder Unordnung im Diesseits wie im Jenseits und um Zugehörigkeit jeder einzelnen Menschenseele zu den Kräften des Guten oder des Bösen. Der Religion war eine Allzuständigkeit zugeignet. Religion und Gesellschaft, Kirche und politische Ordnung waren strukturell miteinander verschränkt. Staatliche Institutionen im modernen Sinne gab es erst in Ansätzen, und sie mussten in heftigen Auseinandersetzungen mit den älteren, vorstaatlichen Kräften, nicht zuletzt der Kirche und ihren Klerikern als „Erster Stand“ durchgesetzt werden.
[1] Die folgenden Darlegungen stützen sich auf meine Monographie Heinz Schilling, Martin Luther, Rebell in einer Zeit des Aufbruchs, 4. Aktualisierte Auflage München 2016.
Luther und seine Gegenspieler aus einer uns heute fundamental fremden Welt heraus zu verstehen, lässt die historisch kontingenten Elemente in den Motiven und Zielen ihres Handelns hervortreten. Der Luther, der am 31. Oktober 1517 seine Erkenntnis kundtat, war kein Revolutionär, sondern Mönch und Seelsorger, der in Bescheidenheit seiner Kirche dienen wollte. Und so hämmerte er seine Ablassthesen nicht an die Tür der Schlosskirche, sondern schickte sie seinen vorgesetzten Bischöfen, um sie um die Abstellung der Irrtümer zu bitten. Nachdem diese sich verweigerten und die Thesen ohne Zutun des Reformators im Druck verbreitet wurden, war erstmals in der seit langem die Christenheit beschäftigenden Reformdiskussion der Kreis intellektueller Kirchenkritik durchbrochen, und es war „Herr omnes“, also jedermann, in den Disput einbezogen. Wer nicht lesen konnte, dem wurden auf Marktplätzen, in Wirtshäusern oder Herbergen die reformatorischen Flugschriften vorgelesen. Dem Medienereignis „Reformation“ folgte die Reformation als Volksbewegung auf dem Fuß. Denn das reformatorische Gemeindechristentum sprach in Stadt und Land jedermann an. Und als dann allenthalben im Reich und darüber hinaus weitere Reformatoren auftraten – vor allem Huldrych Zwingli in Zürich und eine knappe Generation später Johannes Calvin in Genf – , brachen endgültig die Dämme, die Rom gegen die in der Christenheit ausgelöste Flut des Reform- und Erneuerungswillens errichtet hatte. Die Folge war die Herausbildung eigener, evangelischer Kirchen.
Von der damit ausgelösten Veränderungsdynamik wurde schließlich auch Rom erfaßt. Da Luther den Schutz des erstarkenden frühmodernen Staates erhielt und daher anders als frühere Kirchenkritiker nicht ausgeschaltet werden konnte, wurde er zum Stachel im reformunwilligen Fleisch des Renaissancepapstums. Der Papst sah sich gezwungen ein Reformkonzil einzuberufen, das im oberitalienischen Trient zusammentrat. Das war allerdings nur noch nominell ein allgemeines Konzil, da inzwischen rund ein Drittel der lateinischen Christenheit dem Papst den Gehorsam aufgekündigt hatte. Die zwischen 1545 und 1563 erarbeiteten Reformdekrete waren die Antwort der Papstkirche auf die vorangegangene evangelische Reformation. Sie legte damit die Grundlagen für die katholische Konfessionskirche der Neuzeit, die nicht anders als die Konfessionskirchen der Reformation eine neue Kirche war. Wie diese funktionierte sie als frühmodernes Kultur – und Weltanschauungssystem, das ganz ähnlich wie die protestantischen Systeme den Weg Europas in die Neuzeit wesentlich mitprägte, allerdings auf andere, eigene Weise.
Als der Wittenberger Augustiner Ende Oktober 1517 gegen den Ablasshandel protestierte, war angesichts des weit verbreiteten Reformverlangens eine „Reformation“ der Gesamtkirche durchaus möglich. Diese Chance wurde vertan, weil die deutsche und römische Kirchenhierarchie keine adäquate Antwort auf Luthers theologisches Anliegen gaben und dieser daraufhin sich sachlich und bald auch sprachlich-polemisch radikalisierte. Erst dadurch trat die Reformbewegung der spätmittelalterlichen Kirche in zwei alternative Wege des religiösen und kirchlichen Aufbruchs auseinander – in den radikalen Systembruch der „evangelischen“ Reformatoren Wittenbergers, Zürichs und Genfs einerseits und die systemkonforme und systemstabilisierende Tridentinischen Reform der römischen Kirche andererseits. Das Jahr 1517 war zur Epochenscheide in der Christentumsgeschichte geworden. Das beschwor Gegensätze herauf, die in der Perspektive des Jahres 1517 inhaltlich-sachlich unbegründet waren.
Die in den Geschichtsbüchern übliche Abfolge von „Reformation“ und „Gegenreformation“ entspricht somit nicht dem wirklichen Ablauf des Geschehens. Es handelt sich vielmehr um zwei Ausprägungen oder Konkretisierungen des in der lateinischen Christenheit lange vor Luther aufgebrochenen Reformverlangens, die unter dem Druck der Ereignisse – von Entscheidungen und Fehlentscheidungen beider Seiten – zu antagonistischen Entwürfen einer neuen Ordnung in Kirche und Gesellschaft wurden. Die Folge waren antagonistische Systemkonkurrenz und Fundamentalfeindschaft zwischen den frühneuzeitlichen Konfessionskirchen, die die europäischen Staaten und Gesellschaften über Generationen hin in Atem hielten.
Wie das konkret theologisch ablief, zeigt die Spaltung der Gnadenlehre: In Italien hatten sich eben in jenen Jahren, als in Deutschland der Weg in die Reformation eingeschlagen wurde, die italienischen Reformströmungen in der Bruderschaft des Oratorio del Divino Amore konkretisiert, zunächst in Genua, dann auch in Rom und anderwärts. Diese Reformgruppe, meist Kleriker, stellte nicht fromme Werke zu Gunsten des eigenen Seelenheils ins Zentrum, sondern das Ideal gelebter, die Person durchdringender caritas, die sie als eine von Gott geschenkte Gnade begriff – eine Distanz zur herrschenden Werkfrömmigkeit also, wie sie im selben Jahr auch in den Ablassthesen des Wittenberger Augustiners zum Ausdruck kam. Aus ihrer jeweiligen Gnaden-Lehre zogen der Wittenberger Mönch und die Oratorianer aber unterschiedliche Konsequenzen: Die Italiener setzten auf den Klerus selbst, der durch Verbesserung seiner Bildung, Frömmigkeit und Disziplin den Laienstand gleichsam organisch nach sich ziehen und damit die Priesterkirche wieder auf den Stand der Reinheit bringen sollte. Luther dagegen entwickelte aus seiner Gnadenlehre die These vom Priestertum aller Getauften und machte damit einen zur Vermittlung des göttlichen Heils notwendigen Priesterstand überflüssig.[2]
Indes, wie jüngst die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ von Lutheranern und Katholiken beweist, war selbst die Gnaden- und Rechtfertigungslehre als der innerste theologische Kern der reformatorischen Botschaft sachlich nicht unbedingt kirchentrennend. Der Zwang zur Kirchentrennung war zu einem nicht geringen Teil historisch kontingent, also nicht primär sachlich-theologisch bedingt, sondern den historischen Umständen geschuldet. In ihrer Gegnerschaft blieben protestantische und katholische Konfessionskirchen eng aufeinander bezogen – je radikaler die evangelischen Reformatoren die Papstkirche attackierten, um so entschiedener setzten die katholischen Reformer auf Abgrenzung und alternative Wege der institutionellen wie spirituellen Erneuerung.
Wie diese antagonistische Dynamik Gegensätze heraufbeschwor, die 1517 noch ganz und gar nicht vorhanden waren, zeigt sich bereits an der Einschätzung der Bibel:[3] Wenige Monate vor Luthers Ablaßthesen war in der spanischen Universitätsstadt Alcalá die sogenannte Complutensische Polyglottbibel zum Abschluß gebracht worden. Das war eine von Francisco Jimenez de Cisneros (1436-1517), Erzbischof von Toledo, mächtigster Kirchenmann Spaniens und zugleich Kopf der Reformer, veranlaßte und geförderte Gesamtausgabe der Bibel in den Originalsprachen. Die Reformkreise Spaniens hatten damit die erste große Bibelausgabe auf dem Stand der neuesten philologischen Erkenntnisse hervorgebracht, einen Meilenstein in der frühmodernen Bibelwissenschaft. – Hätte man 1517 unter europäischen Gelehrten eine Umfrage gemacht, wo das aktuelle Zentrum der modernen Bibelwissenschaft läge, wäre mit Sicherheit nicht Wittenberg, sondern Alcala genannt worden, daneben wohl noch Basel, wo 1516 Erasmus das griechische Neue Testament vorgelegt hatte.[4] Die Reformer forderten auch bereits die Verwendung volkssprachlicher Ausgaben im Gottesdienst, so in einem Leo X. 1513 bei seiner Thronbesteigung vorgelegten Gutachten zweier führender Kamaldulensertheologen.[5]
Indes, im Zuge der genannten Antagonisierung setzte sich die Hochschätzung der Bibel nur im Protestantismus fort und wurde zu dessen Markenzeichen. „Luther hat den Christen die Bibel gebracht“, dieses Lob hört man im Zusammenhang mit dem fünfhundertsten Reformationsjubiläum selbst aus katholischem Munde. Mit Blick auf die 1517 abgeschlossene spanische Polyglott-Bibel ist dieser Satz der Ergänzung bedürftig: Luther brachte dem einen Teil der lateinischen Christenheit die Bibel und nahm sie dem anderen Teil. Denn wenn im katholischen Bereich die Hochschätzung der Bibel abbrach, dann war das in erster Linie eine Reaktion auf die Reformation.
Das Beispiel der Bibel lässt ein generelles Muster im nachreformatorischen Verhältnis der Konfessionen erkennen, nämlich die Funktion von Antagonismen und kommunizierenden Röhren: Wie in der Einschätzung der Bibel, so lässt sich ein solcher Antagonismus auch in der Einschätzung Mariens erkennen: Die Abwertung der Gottesmutter setzte nicht mit Luther ein – erinnert sei nur an seine Magnificat-Auslegung.[6] Die mir in den 1950er und 1960er Jahren in Köln noch sehr präsente Selbstidentifizierung der Protestanten als diejenigen, für die Maria keine Rolle spielt, war erst die antagonistische Reaktion auf die Blüte der katholischen Marienfrömmigkeit im Barockkatholizismus. – Inzwischen hat die protestantische Theologie und haben mit ihr viele protestantische Gemeinden Maria als Vorbild eines christlichen Lebens längst wiederentdeckt. Gleichwohl wirkt die Dichotomisierung des konfessionellen Zeitalters noch fort – etwa in einer oberhessischen Gemeinde, die sich noch jüngst schwer tat mit einem Marien-Wandbehang, den ihr eine Frauengruppe der katholischen Nachbargemeinde als Geschenk überreichte.
Ähnlich das Problem der Priesterehe. Vorreformatorisch war das quasi-eheliche Leben im Pfarrhaus fast die Norm, und es lässt sich kaum abschätzen, wie die Entwicklung ohne Luther weiter verlaufen wäre. Der Zölibat als Kernbestand der katholischen Kirche erscheint daher dem Historiker des 16. und 17. Jahrhunderts als Reaktion auf die Ehe des frühmodernen protestantischen Pfarrers, wie er umgekehrt bei den Protestanten fast so etwas wie eine Zwangsehe und eine Zwangsfamilie ausmacht, durch die sich der protestantische Pfarrer als solcher beweisen und von einem katholischen absetzen musste.
Selbst die Kirchenverfassung unterlag einem solchen Mechanismus: Die Papstverfassung der Römischen Kirche war nach und durch Luther weit gefestigter als zuvor. Man denke nur an die scharfen Attacken des Erasmus von Rotterdam, und zwar nicht nur auf den Kriegspapst Julius II., sondern auf das Papsttum generell, allerdings in klandestiner Baseler Runde. Erst die ungebärdigen Angriffe Luthers auf den Römischen „Anti-Christ“ , die den Feingeist als „pöbelhaft“ abstießen, veranlaßten den damals unbestrittenen Meinungsführer des lateinischen Europa zu einer Kehrtwende hin zur Solidarität mit der Papstverfassung der römischen Kirche. Es war Luther, der dem Papst das Überleben als souveräner Pontifex sicherte, und zwar selbst über den Systembruch der Französischen Revolution hinaus.
Schließlich die solus-Christus-Lehre, also ein dogmatischer Kern der Reformation. Auch sie wurde erst zu Mitte des 16. Jahrhunderts exklusiv protestantisch, von katholischen Konfessionalisten dazu gemacht. Das zeigt die Sterbeszene Kaiser Karls V., des großen Gegenspieler Luthers.[7] Karl wie sein Beichtvater Erzbischof Caranza lebten noch in der vorkonfessionellen Christusfrömmigkeit, die auch der Wurzelgrund der Christuslehre Luthers war. Und so reichte der Seelsorger Caranza dem Sterbenden ganz selbstverständlich ein Kruzifix, um ihm Trost und Zuversicht zu spenden. Erst der Häresieprozess, den Angehörige der jungen, konfessionalistisch denkenden Generation im spanischen Klerus gleich nach der Beisetzung gegen Caranza und fast gegen den toten Kaiser selbst anstrengten, repräsentierte die neuzeitliche protestantisch-katholische Dichotomie in der Christusfrömmigkeit. Da der Kaiser und sein Beichtvater nicht anders als Luther auf dem Boden der spätmittelalterlichen Christusfrömmigkeit standen, war für sie ein Kruzifix als letzter Trost für einen Sterbenden ganz und gar selbstverständlich. Anrüchig wurde das erst für diejenigen, die im konfessionellen Antagonismus des 16. Jahrhunderts erzogen und auf Abgrenzung von protestantischen Lehren und Frömmigkeitsformen bedacht waren – um die „pestis Germaniae“ vom Leib der Kirche und der Nation Spaniens fernzuhalten. (Wenn wenige Jahre vor dem 500. Reformationsgedächtnis ein deutscher Papst als sein theologisches Hauptwerk eine mehrbändige Christusdarstellung vorleglegt hat[8], so ist zu hoffen, dass das auch als Hinweis auf den Katholiken wie Protestanten gemeinsamen Wurzelboden in der spätmittelalterlichen Christusfrömmigkeit verstanden wird.)
[2] Ausführlich Schilling, Luther, S. 153-156.
[3] Zum folgenden mit den nötigen Nachweisen: Heinz Schilling, 1517 – Weltgeschichte eines Jahres, München 2017.
[4] Martin Wallraff (u.a.), Basel 1516: Erasmus‘ Edition of the New Testament, Tübingen 2016.
[5] Schilling, Luther, S. 269.
[6] Jüngst dazu die Untersuchung des protestantischen Theologen Christoph Burger, Marias Lied in der Deutung Luthers, Tübingen 2007.
[7] Ausführlich dazu Heinz Schilling, Karl V. und die Religion, in: Hugo Soley (Hg.), Karl V., Antwerpen / Köln 1999, S. 285-363 (englische, niederländische und französische Fassung Antwerpen / Mercatorfonds 1999).
[8] Gemeint ist natürlich das im Herder-Verlag erschienene dreibändige Werk von Benedikt XVI,, Jesus von Nazareth, Prolog: Die Kindheitsgeschichten (2012); Bd. 1: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung (2007); Bd. 2: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung (2011).
Die womöglich wichtigste Folge der Reformation, die die europäische, später auch die globale Neuzeit tief prägte und auf die heute kaum jemand verzichten möchte, ist die kulturelle und weltanschauliche Differenzierung. Das war aber nicht das Ergebnis Lutherischer Theologie. Diese blieb dem traditionellen Denkmuster der Einheit von bürgerlicher und konfessionell kirchlicher Gemeinde verhaftet. Entscheidend war schlicht die Tatsache, dass sich Luther im Unterschied zu früheren Reformern behaupten konnte und sich mit Hilfe der zum Bruch mit Rom bereiten Obrigkeiten neue, oder besser gesagt alternative christliche Kirchen etablieren konnten.
In der Perspektive der Christenheitsgeschichte ist das als „Kirchenspaltung“ negativ konnotiert; allgemeingeschichtlich aber wird man das als einen gewaltigen Differenzierungsschub, und damit positiv bewerten. Die kirchliche Pluralisierung des Christentums war eine wesentliche Voraussetzung für die weit über den religiösen und kirchlichen Bereich hinaus die weltanschauliche, kulturelle und politische Differenzierung Europas vorantrieb – bis hin zur pluralistischen und säkularen Zivilgesellschaft der Gegenwart. Das war allerdings ein Ergebnis, das sich keiner der Theologen des 16. Jahrhunderts vorgestellt hatte. Entscheidend war, dass mit der Etablierung weiterer Kirchen neben der römischen der von den Theologen beider Seiten weiterhin erhobene absolute Wahrheitsanspruch samt der ebenfalls aufrechterhaltenen religiös-ideologischen Einheitsidee zur Fiktion geworden war und sich die Menschen in Europa – oder die Christenheit, was noch lange synonym blieb – Zug um Zug daran gewöhnten, in der Realität mit mehreren Wahrheiten zu leben und die normativ verpflichtende Einheitsidee durch die Idee der Freiheit zu ersetzen.
Allein, es gab auch eine tiefe inhaltliche Prägung der europäischen Kultur / Identität infolge der Reformation, und zwar letztlich nicht nur für die protestantischen, sondern auch für die römisch-katholischen Gebiete Europas wie anderer Kontinente: Durch Luther kam es zur Reaktivierung von Religion als heilsgeschichtlich gerichtetem, existentiell gelebtem und daher tief in die Gesellschaft hineinwirkendem Glauben. Mit der Reformation setzte nicht – wie Kritiker vor allem aus katholischem Umfeld gelegentlich noch heute behaupten – die neuzeitliche Verweltlichung im Sinne von Religionslosigkeit ein. Vielmehr kehrte Religion mit ganzer Macht als Leitkraft in das private und öffentliche Leben Europas zurück.
Der christliche Glaube wurde „welthaft“, das heißt, er wurde in die Welt hinein getragen. Dort hatte er sich im alltäglichen Handeln der Christenmenschen zu bewähren.[9] Wichtigster und vornehmster Ort für den Glauben und das von ihm generierte Handeln waren nicht mehr Klöster, Abteien, Stifte oder andere Orte separierter Sakralität; sondern der Alltag in der Welt. Indem Luthers eschatologische Theologie Glaube und Welt zusammenbindet und die Welt als Ort des Heilsgeschehens begreift, wurde das Weltliche zu einem Teil der Heilsordnung. Ehe, Sexualität, Beruf, Politik wurden aufgewertet und erhielten eine neue Legitimität. Das setzte im privaten wie im öffentlichen Leben eine Dynamik frei, die unter der Herrschaft der mittelalterlichen Leistungsfrömmigkeit der Welt entzogen gewesen war. Glauben ohne Wirken in der Welt galt ebenso als Sünde wie Handeln in der Welt ohne Glauben. Auf dieser Grundlage wurde Religion über die Jahrhunderte hin zu einer gestaltenden Kraft der Neuzeit, kulturell, gesellschaftlich und politisch.
Von dieser lutherischen Zentrierung auf die Religion profitierte schließlich auch die römische Kirche. In der tridentinischen Reform wurde auch der aus der mittelalterlichen Kirche hervorgewachsene päpstliche Zweig des neuzeitlichen Christentums zu einer „neuen“ Kirche, zur katholischen Konfessionskirche. Auch hier stand die Religion wieder im Zentrum, so dass auch die römische Konfessionskirche in ganz ähnlicher Weise wie die mit ihr konkurrierenden protestantischen Konfessionskirchen einen spezifischen Beitrag zur frühmodernen Dynamisierung leisteten konnte. Das belegen die Marianischen Kongregationen der Jesuiten ebenso wie der katholische Kult der Heiligen Familie, mit denen ganz ähnlich wie bei der Pfarrfamilie oder dem Bürgergeist der Protestanten „in Familie und Gesellschaft wie im religiösen Leben genügend Neues“ einsetzte, um „ein modernes Christentum“ zu begründen, das auch in den katholischen Regionen Europas „die Entstehung der bürgerlichen Kultur förderte.“[10]
Diese neuzeitliche Welthaftigkeit des Katholizismus folgte ohne Zweifel dem von Arnold Toynbee aufgestellten weltgeschichtlichen Prinzip von challenge and response – von reformatorischer Herausforderung und römischer Antwort. Sie war aber auch ein Fortwirken der vorreformatorischen Renaissance-Religion und deren Verbindung von Christentum und antiker Welthaftigkeit, konkret der „Entzauberung der Welt“, die nicht nur eine Ästhetisierung, sondern auch bereits eine frühe Rationalisierung des Christentums gebracht hatte.[11]
Die tiefe kulturelle und gesellschaftliche Prägung des neuzeitlichen Alltags durch das Christentum wurde von allen neuzeitlichen Konfessionskirchen vorangetrieben, von den protestantischen wie der katholischen. „Modernität“ kann daher nicht länger als Monopol des Protestantismus gelten, wie es in der Nachfolge von Max Weber bei Sozialwissenschaftlern und Journalisten immer wieder zu lesen ist. Umgekehrt sind die „Säkularisation“ und ihre Folgen kein von den Protestanten zu verantwortender Sündenfall, sondern Ergebnis der gemeinsamen Christentumsgeschichte. Denn recht betrachtet war die frühneuzeitliche Säkularisierung nicht ein Prozess, der die Religion aus der Welt verbannte. Im Gegenteil, in der Konsequenz der betonten Welthaftigkeit des neuzeitlichen Christentums wurde die Religion zu einem Hauptakteur und Gestalter der Welt, im katholischem wie im protestantischen Umfeld.
[9] Schilling, Luther, Epilog.
[10] Louis Chatellier, L’Europe des dévots, Paris 1987, S. 127, 151.
[11] Bernd Roeck, Über die Entzauberung des Raumes in der europäischen Renaissance, in: Staatliche Kunstsammlung Dresden (Hg.), Luther und die Fürsten, Aufsatzband, Dresden 2014, S. 47-64.
Die großen Erfolge, die die Päpste seit Johannes Paul II. mit ihren Inszenierungen des Religiösen vor allem bei der Jugend feiern, wären ohne die von Luther gegen das Renaissancepapsttum erzwungene Wende zurück zur existentiellen Religiosität des Christentums kaum vorstellbar. Luther als Garant neuzeitlicher Religiosität – unter dieser Perspektive können sich somit auch die katholische und alle anderen christlichen Kirchen 2017 eingeladen fühlen, zusammen mit den Lutheranern den Reformator wo nicht zu feiern, so doch zu würdigen.
Im Lichte unserer historischen Analyse sollte das nicht nur negativ als „healing of memory“ geschehen. Vielmehr besteht guter Anlass für eine positive Würdigung und Dankbarkeit für Anreize und Entwicklungsimpulse – etwa in Bezug auf die von Luther leidenschaftlich geforderte Trennung des Papstamtes von politischer und militärischer Macht. In den Augen eines Allgemeinhistorikers wäre es ein wichtiger ökumenischer Schritt, wenn die römisch-katholische Kirche sich die in Folge der Reformation entstandene neuzeitliche Differenziertheit Europas positiv zueigen machen würde: Die im 16. Jahrhundert vollzogene Differenzierung der Christenheit in ihrem strukturellen Kern, also in den theologischen, spirituellen und kirchenrechtlichen Grundlagen, sollte nicht länger als sündenbehafteter Betriebsunfall gewertet werden. Auch nicht als Beginn neuzeitlicher Säkularität als Verfallsgeschichte. Von der konfessionalistischen Fundamentalfeindschaft früherer Jahrhunderte befreit, lässt sich heute die Vielfalt christlichen Glaubens, christlicher Kultur und Lebensweisen als Freiheit begreifen, die dem Christentum eingeboren war und ist.
Das befreit auch von der Utopie, moderne Ökumene sei nur als „Suche nach der verlorenen Glaubenseinheit“ denkbar.[12] Im Gegenteil, die Differenzierung auch des Glaubens und der Kirchen ist ein Signum der christlich-europäischen Neuzeit, das den Christen Freiheit des Blickes und der Selbstbestimmung gegeben hat und unverzichtbar zu unserer religiösen Kultur gehört. Auf einer solchen Basis ökumenisch-historischen Verstehens löst sich die Klage über die Trennung auf in der Freude am religiös-spirituellen wie kulturellen Reichtum der europäischen Christenheit – der Freude der Katholiken an Johan Sebastian Bach und dem protestantischen Kirchenlied oder der Protestanten an der barocken Marienfrömmigkeit. Diese Gemeinsamkeit, aber auch die sie verdeckenden Kräfte mag uns ein Beispiel aus der bildenden Kunst vor Augen stellen: Eine sehr bekannte Mariendarstellung, das Gnadenbild „Mariahilf“ des Innsbrucker Doms, das im süddeutsch-alpinen Raum in zahlreichen Kopien verbreitet ist, wurde von keinem geringeren als von Lukas Cranach d. Ä. gemalt, also von dem protestantischen Maler schlechthin![13]
Im Lichte unserer allgemein geschichtlichen Analyse könnte sich die katholisch-protestantische Freude am Reichtum christlichen Lebens heute bereits auf Ehen zwischen Angehörigen beider Konfessionskirchen als schönste Keimzelle ökumenischer Zukunft erstrecken. Ja, sie könnte selbst die Spannweite zwischen zölibatärer Priesterkirche und protestantischer Frauenordination überbrücken, vorausgesetzt beide Seiten verzichten darauf, ihr jeweiliges Verständnis als die einzig mögliche Auslegung von Christi Hirtenauftrag zu propagieren.
[12] Vgl. etwa Walter Kardinal Brandmüller, Zum Reformationsgedächtnis, in: Die neue Ordnung, Institut für Gesellschaftsgeschichte Walberberg, 67, August 2013, S. 269-274.
[13] Das in den späten 1530er-Jahren in Wittenberg entstandene Bild wurde von dem lutherischen Kurfürst von Sachsen Anfang des 17. Jahrhunderts Erzherzog Leopold V. geschenkt, der es zunächst nach Passau, dann in die Pfarrkirche St. Jakob (heute Dom) nach Innsbruck verbrachte.
Heinz Schilling, geb. 1942, bis 2012 Prof. für Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit , Humboldt-Universität Berlin. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Koninklijke Nederlandse Academie van Wetenschappen, der British Academy und der Academia Europea. – Dr.-A.H.-Heineken-Preis für Geschichtswissenschaften 2002; Dr. theol. h.c. Göttingen; Dr. phil. h.c. Trento.