Die reformatorische Rede vom Ablass und vomGnadenschatz der Kirche, aus dem an die Bedürftigen und Überschuldeten verteilt wird
Luthers Aufzeichnungen über die Phase seines Lebens, die seiner reformatorischen Wende vorausging, zeugen von einer Person, die längere Zeit seelischen Qualen von großer Intensität und Dauer ausgesetzt war. Diese Qualen hatten im Wesentlichen mit der Frage zu tun, wie man eschatologische Gewissheit erreichen kann: Gewissheit, dass unsere Existenz und unser lebenslanger Aufwand sich vor Gott und seinem letzten Gericht, wo nichts mehr verborgen bleiben wird, nicht als wertlos, vergeblich und verfehlt erweisen würden.
Es hat viele Versuche gegeben, Luthers seelische Turbulenzen durch sein spezifisches, teilweise angeblich auch deviantes psychologisches Profil oder durch den Einfluss des Ockhamismus zu erklären. Heute geht man davon aus, dass im späten Mittelalter Angst und Furcht, wie sie Luther umgetrieben haben, eine Erfahrung vieler Menschen war, mit mehr oder weniger Schwankungen in der Intensität, und fast ein Merkmal dieser Epoche. Diese Tendenz kommt unter anderem auch durch die Bedeutung, die die ars moriendi in der zeitgenössischen Praxis der Seelsorge hatte, zum Ausdruck – denn sie bezog sich mit ihrem Trost ja gerade auf den Menschen, der vor der schmerzhaften Frage stand, ob er zu jenen für das Heil bestimmten gehörte und Erleichterung finden würde, oder zu jenen, die der endgültigen Verdammnis entgegeneilten.[1]
Andererseits stimmt es auch, dass Luther sich gerade in diesem Punkt von seiner Epoche unterschied. Der Unterschied bestand jedoch in seiner Antwort auf die eschatologische Furcht und Angst, die er mit seinen Zeitgenossen teilte.
Es soll darauf hingewiesen werden, dass die eindrucksvollsten Aufzeichnungen Luthers über seine seelischen Qualen in jene Schriften eingeflochten sind, in denen er die Ablasspraxis kritisierte: die Fünfundneunzig Thesen (1517) und die Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1517/1518). Der Grund dafür ist, das Luthers Suche nach einer anderen Antwort, bzw. sein Herauskommen aus der eschatologischen Furcht und Angst – die Suche, die de facto den Beginn der Reformation bedeutete – mit seiner Kritik an der mittelalterlichen Ablasslehre sowie der Theologie, die hinter dieser Lehre stand und der Praxis, die daraus abgeleitet wurde, korrespondierte.
Gerade aus diesem Grund nimmt das Problemfeld Ablasslehre einen wichtigen Platz in der Diskussion über die Genese von Luthers reformatorischem Profil sowie über die Bedeutung und den Umfang der Reformation ein. Jedoch überschreitet die Ablassfrage den Rahmen von Überlegungen zu Entfaltung und Geschichte der Reformation. Die Ablasspraxis ist nämlich – obwohl sie in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils unerwähnt blieb[2]und obwohl es im ökumenischen Dialog der letzten Jahrzehnten zu einem bedeutsamen Grad der Übereinstimmung zwischen der römisch-katholischen und der evangelischen Theologie gekommen ist – heute noch durchaus präsent im Katholizismus bzw. in der katholischen Frömmigkeit, wenn auch in einer revitalisierten und reformierten Form. Daher beinhaltet das Themader Luthers Ablasskritik immer noch eine Dimension der ökumenisch relevanten Problematik und damit auch die Dimension einer Fragestellung, die für das Selbstbild des christlichen Glaubens von großer Wichtigkeit bleibt.
In Anknüpfung an die ebengenannten Fragen werde ich diese alte und gleichzeitig aktuelle Thematik angehen und zwar unter folgenden Aspekten:
Zuerst werde ich kurz auf die Ablassproblematik während der Reformationszeit eingehen und die wichtigsten Linien sowie den Sinn von Luthers Kritik der Ablasspraxis darstellen. Danach werde ich versuchen, die eventuellen Grenzen dieser Kritik zu umreißen und die bleibende Bedeutung bzw. die Authentizität der Probleme hinter der aus ökumenischer Sicht umstrittenen Ablasslehre hervorzuheben, da deren Betrachtung das Potenzial hat, zu einem erhöhten Verständnis zwischen den christlichen Kirchen beizutragen.
[1] Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Vandenhoeck&Ruprecht, Goettingen 1995, S. 102-104. Vgl. auch B. Lohse, Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, Verlag C. H. Beck, München 1997, S. 38-39.
[2] Das Ablassthema war jedoch in den Debatten des Zweiten Vatikanischen Konzils durchaus präsent.
Im Hintergrund der spätmittelalterlichen Ablasslehre stand ein dreigliedriges Verständnis des Sakramentes der Versöhnung.
Derjenige, der gesündigt hatte, musste zuerst bereuen und seine Sünden bekennen, erst danach verkündete der Priester die Vergebung. Aber da die Sünde nicht nur Schuldeingeständnis, sondern auch Strafe zur Folge haben sollte, waren für den Menschen, der gesündigt und somit in dieser oder jener Weise seine Bestimmung verfehlt hatte, die Beichte und die Sündenvergebung nicht ausreichend. Wenn alles in der Beziehung zwischen Mensch und Gott wieder an seinen Platz kommen sollte, musste man auch den Prozess der Sühne durchmachen. Dieser bestand aus Strafe oder Genugtuung, die man entweder im irdischen Leben oder im Fegefeuer ableisten musste, wobei die letzterenicht voraussehbare Ausmaße annehmen konnte.
Das Konzept des Ablasses[3] entwickelte sich im 11. Jahrhundert als ein Mittel, das die Kirche als Erleichterung darbot, um diemit der Sühne verbundene eschatologische Angst zu lindern. Das Auftreten des Ablasses wurde von der Entwicklung der Lehre vom Gnadenschatz der Kirche begleitet: Es waren die „überschüssigen“ Verdienste Christi und der Heiligen, die von der Kirche verwaltet wurden und in die sie jederzeit „hineingreifen“ konnte, um denjenigen zu helfen, die auf dem Weg der Sühne und Strafe stolperten. Sie tat es dadurch, dass sie die ihnen vorgeschriebene Genugtuung für die Sünde durch eine leichtere Form ersetzte. Es dauerte nicht lange, bis solche „Erleichterungen“ verkauft wurden und sich somit der Ablassbrief zu einem Dokument entwickelte, das diese Vergünstigung bestätigte.[4]
Luther trat mit einer scharfen Kritik gegen den Ablasshandel hervor, den er als schweren Missbrauch der eschatologischen Angst durch die Kirche betrachtete. Im Rahmen dieser Kritik – der Ablassstreit war der erste große Konflikt zwischen Luther und der römischen Kirche – entwickelte er seine alternative Position, welche für die Entfaltung der Reformation so entscheidend war. So hat er der Vorstellung, dass man in irgendeiner Weise sühnend leiden musste, um seine Versöhnung mit Gott zu vollenden (wobei die Kirche über die Art und Dauer der Sühne entschied) eine Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben entgegengestellt. Diese besagt, dass Gott derjenige ist, der den Menschen rettet und dass allein durch Gottes Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit Christi die menschliche Existenz Rechtfertigung erfährt. Diese Gerechtigkeit Gottes wird wiederum in seinem unwiderruflichen Versprechen der unbedingten Zuwendung zum Menschen geoffenbart, weshalb sie immer eine iustitia aliena oder iustitia passiva bleibt. Es ist eine Gerechtigkeit, die als eine fremde Gerechtigkeit dem Menschen extra, bzw. als eine iustitia imputa zukommt –sagt Luther inBezug auf Röm 4.[5] Nach dieser Gerechtigkeit soll sich ein Christ sein ganzes Leben richten. Somit ist seine Versöhnung mit Gott in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt von seinen eigenen Taten, seiner eigenen Sühne, Strafe oder Genugtuung abhängig. Sie wird dadurch erreicht, dass man Gottes unwiderrufliche Versprechen durch den Glauben annimmt (Röm 1,17: „per solam fidem qua Dei verbo creditur“.[6])
Obwohl Luthers Verwendung des Begriffs Zurechnung/imputatioan die mit der Ablasspraxis verbundene Übertragung von Verdiensten aus dem Gnadenschatz erinnern mag (mit dem Unterschied dassdiese Übertragung jetztalleindurch den Glaubengeschieht,wobei dieKirche ihr Monopol als Vermittlerin verliert), soll in dieser Hinsicht unterstrichen werden, dass Luther jede quantitative und unpersönliche Auffassung vonGerechtigkeit, die in irgendeiner Übertragung von Verdiensten Christi auf den Gläubigen verwirklicht werden könnte, ausschließt. Mit dieser Auffassung brach Luther in seiner Rechtfertigungslehre völlig mit der Anwendung des Konzepts der Verteilungsgerechtigkeit auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott. Dadurch kritisierte er nicht nur die Idee, man könnte und sollte sein Heil vor Gott verdienen, sondern auch generell die Vorstellung, dass man die Verdienste anderer in Anspruch nehmen könnte und sollte. Daher wirdRechtfertigung bei Luther nicht als eineÜbertragung von Christi Verdiensten auf die Gläubigen verwirklicht, sondern vielmehr als eine Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus. Die Rechtfertigung wird somit zum „wunderbaren Tausch“ ,admirabile commercium[7], in dem alles, was den Gläubigen gehört, auch zu Christi Eigentum und alles, was Christus gehört, zu dem der Gläubigen wird. Luther kann demnach auch sagen, dass die Teilnahme der Gläubigen an der Gerechtigkeit extra nos sich als eine Art Übergang des Gläubigen in Christus offenbart und dass der Gläubige daher extra se existiert. In dieser Hinsicht liegt in Luthers Rechtfertigungslehre höchstwahrscheinlich eine Anknüpfung an die mystische Tradition vor, welche die Existenz des Gläubigen als eine ekstatische Existenz beschreibt.[8]
Man könnte somit sagen, Luthers Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben sei ein absoluter Gegenpol zur Vision des Menschen als eines Sammlers religiöser Verdienste und Zurückzahlers der Schulden, der sich unter dem Druck der Ungewissheit unbedingt auf sich selbst konzentriert und so in seinem eigenen religiösen Käfig gefangen bleibt – incurvatus in se.[9]
Es ist eine Vision des Menschen, der sich von Gottes Händen umfasst versteht und aus diesem Grund seine ganze Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als gerechtfertigt und überlebenswert betrachtet. So ist eine finnische Interpretation von Luthers Verständnis der Rechtfertigung durch den Glauben nicht ganz unangemessen, die ihn als dem Verständnis von Vergöttlichung in der orthodoxen Theologie nahe stehend beschrieben hat.[10]
[3] Lat. indulgentia; vgl. indulgere: gnädig, rücksichtsvoll oder sanft sein.
[4] T. Schirmacher, Indulgences. A History of Theology and Reality of Indulgences and Purgatory. A Protestant Evaluation, Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn 2011, 25ff. Ablässe wurden zuerst von den Bischöfen erteilt; mit den Kreuzzügen wurden sie jedoch zum ausschliesslichen Zuständigkeitsbereich der Päpste.
[5] WA 39 I, 83,37; Vgl. 39 I, 83.35; 40 III, 350, 4; 97,18 – 40 I, 229,29; 39 I, 109, 1.
[6] WA 56, 172.
[7] WA 7, 25, 28.
[8] B. Lohse, Luthers Theologie …, 81. Vgl. V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016.
[9] WA 56, 324, 24-32.
[10] Vgl. Union with Christ: The New Finnish Interpretation of Luther, hrsg. von Carl E. Braaten & Robert Jenson, W.B. Eerdmans Publishing Company, Grand Rapids, Michigan/Cambridge, 1998.
Luthers kritisierte die Ablasslehre sowohl als eine Schöpfung der mittelalterlichen Theologie als auch als eine äußerst schädliche Innovation, die von der Kirche genutzt wird, um die Menschen in einem sorgfältig dosierten Zustand, genauer gesagt „Zwischenzustand“ der Unsicherheit[11] zu halten und dadurch ihre eigene institutionelle Macht zu sichern. Insofern sollte Luthers Reformation als Ergebnis eine Gemeinschaft von Personen haben, die – erleuchtet und durch die Erfahrung der Rechtfertigung durch den Glauben gestärkt sowie von der eschatologischen Angst befreit – ihre Kräfte in Arbeit und schöpferischer Tätigkeit einsetzen.
Trotz allem: auch derjenige, der in der Ablassfrage i.a. mit Luthers Ansicht und der Ansicht reformatorischer Theologie übereinstimmt, sollte nicht blind und unempfindlich für die Tatsache sein, dass dieses ursprünglich mittelalterliche Gebilde einem authentischen und bemerkenswerten Problemfeld des christlichen Glaubens entsprach, wenn auch etwas verdeckt. Das Bemerkenswerte, das hinter der Ablassfrage hervorschimmert und hier hervorgehoben werden soll, isteinerseits die Tatsache des realen menschlichen Leidens und Elends –man könnte sagen, der Existenz von realen zeitlichen Strafen, insofern man reales Leiden und Elend im Sinne von zeitlichen Strafen verstehen konnte. Andererseits ist es die Erkenntnis, dass im Prozess der Erlösung von zeitlichen Strafen – was immerhin eine wichtige Neuerung war, welche die Ablasslehre im Bezug auf den Begriff der Buße im früheren Mittelalter brachte[12] – der Gemeinschaft der Gläubigen eine wichtige Rolle zukam. Umso mehr ist es beachtenswert, dass Luther genau an diesen Aspekten des mittelalterlichen Gebildes anknüpfte und ihm seine eigene Theologie inkorporierte.
Somit kritisierte Luther nicht das Grundkonzept von Sühne oder gar der Existenz einer Art zeitlicher Strafen. Was für ihn in diesem mittelalterlichen Gebilde fraglich war, bestand in der Art und Weise, wie Sünde und zeitliche Strafen miteinander verknüpft wurden. Luther versteht Sünde als eine Konstellation von Versagen in der Beziehung zwischen dem Menschen und Gott, oder mit sich selbst, oder mit anderen Menschen. Dieses Versagen bringt mit sichdie Qual auf persönlicher und sozialer Ebene.[13] Jedoch darf diese Qual nicht als von Gott verordnete Bedingung für die Vollendung seiner Versöhnung mit dem Menschenverstanden werden, sondern als Folgeerscheinung der Verirrungen in menschlichen Zwischenbeziehungen.
Luther kritisierte ebenso wenig die Vorstellung, die in der seiner Meinung nach kontroversen Ablasslehre artikuliert war, dass nämlich die gesamte Gemeinschaft der Gläubigen in den Prozess der Sühne jedes einzelnen Beteiligten involviert sei. Für ihn war das Problematische in der Ablasslehre nicht die Beteiligung der Gemeinschaft der Gläubigen als solche, sondern vielmehr die Form, in welcher diese Gemeinschaftsbeteiligung zu verstehen war. Die Rolle der Gemeinschaft sollte nämlich nicht die sein, im Namen Gottes Buße oder zeitliche Strafen vorzuschreiben, um sie anschließend – wobei ein möglicher finanzieller Nutzen eine beachtliche Rolle spielte – durch die Ablässe zu mildern, sondern die, Gottes bedingungslose Vergebung zu verkünden und zur gleichen Zeit reale Situationen zu lösen, die als Folge einer Serie von Fehlleistungen in der menschlichen Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zu anderen Menschen zustande gekommen waren. Man kann somit sagen, dass Luther der zeitgenössischen Kirche nicht vorwarf, dass sie Ablässe erteilte, sondern dass sie diese legitime Autorität dadurch verdrehte und missbrauchte, dass sie den Menschen Strafen verhängte, welche Gott gar nicht verlangte, um sie anschließend durch die Ablässe abgeschafft oder als gelindert zu erklären. Sich auf den Namen Gottes beziehend, belastetedie Kirche die Menschen mit künstlich geschaffenen Bedürfnissen, wobei sie gleichzeitig ihren Blick vom wahren menschlichen Leiden und Elend abwendete.[14]
Gerade deshalb kann Luther sagen, dass Arbeit, Kreativität und gute Taten – auch wenn sie nichts anderes als Todsünden darstellen, falls man es versucht, sich dadurch mit Gott zu versöhnen oder sie als solche darzustellen, die andere für ihre Versöhnung mit Gott nutzen könnten – durchaus nötig sind. Sie werden jedoch nicht von Gott benötigt um den Menschen mit sich selbst zu versöhnen, sondern vom Nächsten, dem man „mit Predigten, Lehren, Kleiden und Speisen“ dienen soll, als ob er Christus selbst wäre.[15] Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass Luther seine (höchstwahrscheinlich) aus der Mystik übernommene Idee von der ekstatischen Existenz des durch den Glauben gerechtfertigten Individuums auch auf dessen Existenz im Dienst des Nächsten anwendet, wobei er sagt: „Ein Christenmensch lebt nicht in ihm selbst, sondern in Christo und seinem Nächsten; in Christo durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe.“[16] So wird der durch den Glauben gerechtfertigte und von der tödlichen incurvitas in se erlöste Mensch von der Realität einer Gemeinschaft der Gläubigen begleitet, der die Idee der „Übertragung“von Güternzugunsten des Nächsten, der sich in Not und Elend irgendwelcher Art befindet, alles andere als fremd ist. Und das unabhängig davon, ob der Nächsteseine Not und sein Elend durch seine eigene Schuld bewirkt hat oder sie als eine Folge sozialer, historischer oder anderer Umstände entstanden sind. Schulden – egal ob sie „Sündenschulden“ oder „reale Schulden“ sind – werden einfach, sagt Luther in den Fünfundneunzig Thesen, „um der heiligsten Liebe und um der höchsten Not der Seelen willen“ vergeben. Mit anderen Worten, Schulden werden vergeben, um den unerträglichen „Zwischenzustand“ der Unsicherheit zu beenden, in dem sich der Nächste befindet: „… ist er arm, dass wir ihm dienen lassen unsere Güter; ist er geschändet, dass wir ihm unsere Ehre lassen ein Deckel sein; ist er ein Sünder, dass wir ihn schmücken mit unserer Gerechtigkeit und Frömmigkeit.“[17]
Insofern ist für Luther der wahre Kirchenschatz nicht eine gegebene Schatzkammer mit den Verdiensten Christi und der Heiligen, sondern das Evangelium der Ehre und Gnade Gottes selbst, bzw. die Leben spendende Kraft des Glaubens, der seinen Ursprung im Vertrauen ins Evangelium der Rechtfertigung durch den Glauben hat und sich in dem Zusammenleben und dem Zusammenleiden mit dem Nächsten offenbart.[18] Denn für Luther weiß ein gerechtfertigter Mensch oder eine Gemeinschaft der Gerechtfertigten durch den Glauben, dass alles, was man hat – sei es die innere Begabung und Kraft oder der Besitz – dem Nächsten dienen soll, und alles, was nicht geteilt wird „besitzt man mit Unrecht und ist gestohlen vor Gott, denn vor Gott ist man schuldig zu geben, leihen und sich nehmen lassen.“[19] Man könnte somit sagen, dass Luther die Ablasslehre „verweltlichte“ und den Gnadenschatz der Kirche in die reale Welt der Menschen „übertrug“.
Die Verweltlichung der Ablasslehre ging wiederum Hand in Hand mit einer „Verweltlichung“ der mittelalterlichen Vorstellung von der Kirche als communio sanctorum. Im Gegensatz zu der mittelalterlichen Theologie, die die communio sanctorumeinerseits im Sinne einer Gemeinschaft der Heiligen undanderseitsim Sinne eines Anteils (mit Hilfe der Kirche als Vermittlerin) der lebenden Gläubigenan den Heiligen bzw. an ihren Verdiensten verstehen wollte,[20] sind für Luther dank dem admirabile commercium alle Christen heilig: er unterscheidet nur noch zwischen den lebenden Heiligen auf Erde und jenen, die schon gestorben sind (den Vollendeten).[21] Insofern bedeutet für Luther die communio sanctorum vor allem eine Gemeinschaft von lebenden Christen mit Christus und untereinander. Daher ist diese Gemeinschaft ein konkretes Volk und eine konkrete Versammlung, sowohl als Personengemeinschaft als auch als Gütergemeinschaft, die sich als Mit-Eingehen in die Lage des Bruders verwirklicht, als Solidarität mit seiner Gebundenheit und Mittel zu seiner Freiheit.[22] Insofern kann man sagen, Luther hat die Heiligen vom Himmel auf die Erde gebracht.[23] Freilich zweifelte Luther zu keinem Zeitpunkt an der Existenz einer transhistorischen Gemeinschaft aller Gläubigen und schloss die Möglichkeit einer Gemeinschaft zwischen der aktuell lebenden und der himmlischen Kirche nicht aus – zum Beispiel im Gebet bzw. der Eucharistie, in der die ganze Kirche immer anwesend ist, oder allgemein in der Kraft der Glaubenszeugnisse, die außerordentliche Christen früherer Zeiten der lebenden Kirche hinterlassen haben.[24] Aber er war auch äußerst entschlossen in seiner Behauptung, die wahre Gemeinschaft der Heiligen verwirkliche sich vor allem in den lebenden Heiligen. Dazu betonte er, eine Heiligengemeinschaft, wie die mittelalterliche Kirche sie lehrte, könne sich schnell in eine fromme Selbstsucht verwandeln, wo jeder nur danach strebt, Gnaden zu seinem eigenen Heil zu erwerben. Ein solcher christlicher Lebensstil, wo die Liebe „bei sich selber anhebt“, führe de facto in einen Gegensatz von Gemeinschaft.[25] In diesem Sinne erlaubte sich Luther auch sehr scharfe Worte gegen die Heiligenverehrung: „Aber uns ist recht geschehen, da wir die lebendigen Heiligen verachten, die unser bedurften, dass wir zufahren und suchten die verstorbenen Heiligen und suchten unsere Notdurf bei denselben.“[26]
So öffnete Luther mit seiner „Verweltlichung“ wieder die Tür zu der mächtigen und authentischen christlichen Idee der Solidarität, der Fürsprache und des Mitleids in der communiosanctorum (Gal 6,2; 1 Kor. 12,22ff), einer Idee, die hinter der mittelalterlichen Lehre von den Ablässen und dem Gnadenschatz der Kirche durchschimmert, wenn auch in einer eher zwiespältigen Form. War die Idee der Solidarität aller Gläubigen in der communio sanctorumverzerrt worden zu einer Geschichte von der Überschreibung der Verdienste vom Konto eines Gläubigen auf das Konto eines Anderen in einer Art himmlischer Kreditbank, wodurch künstlich geschaffene Bedürfnisse über die tatsächlichen Situationen der Menschen hinweg in Rechnung gestellt werden konnten, so holte Luther diese Idee der Solidarität aller Gläubigen dahin zurück, wo sie hingehörte und wo diese Solidarität geschehen sollte: auf die Erde, wo siezwischen den konkreten, wahren, lebendigen Menschen aktiv werden sollte. Und zwar als Solidarität mit jenen, die Qualen des Fegefeuer in ihrem jetzigen, irdischen Leben zu erleiden hatten, in einem „Zwischenzustand“ ihrer ungelösten persönlichen und sozialen Verhältnisse.
[11]Dieses Halten von Menschen im „Zwischenzustand“ der eschatologischen Unsicherheit war auch Luthers Hauptkritik an der mit den Ablässen verbundenen Lehre vom Fegefeuer – obwohl ihm die paulinische Idee von der erlösenden Umprägung durch das Läuterungsfeuer (vgl. 1 Kor3, 10-15) nicht fremd war, vgl. WA 1, 555, 36. Wo er sich von der kritisierten Tradition abwandte, lag seine Betonung auf der Sicherheit und dem Vertrauen, mit denen der Gläubige seiner letzten Reinigung entgegengeht. Vgl. P. Althaus, Die letzten Dinge, Bertelsmann Verlag, Gütersloh, 1933, 202-222.
[12] Literatur bei: T. Schirmacher, Indulgences, 26ff.
[13]In diesem Zusammenhang kommt Luthers radikales Verständnis der Essenz der Sünde zur Geltung, welches in erster Linie sich in der Ansicht widerspiegelte, eine Person könne in einer Weise „verkrümmt in sich selbst“ (incurvatus in se) sein, dass seine einzelnen sündhaften Taten gleichsam nur als Nebenergebnis dieser grundsätzlichen„Verkrümmung“hervorkämen. Vgl. WA 56, 304, 25-29; WA 56, 355, 28-356, 6. Insofern unterscheidet sich Luthers Sündenverständnis von dem der früheren theologischen Tradition. Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie, 82-84, 264ff.
[14] Hier ist von Bedeutung, dass Luther am Anfang seines reformatorischen Auftretens nicht die Abschaffung der Ablässe verlangte, sondern ihre Reform, vor allem hinsichtlich von deren Bindung an die Lehre vom Fegefeuer und der damit verbundenen Unsicherheit des „Zwischenzustands“. In diesem Sinne war er anfänglich sogar mit der Existenz der zeitlichen Strafen einverstanden, jedoch nur als Kirchenstrafen. Aber bald distanzierte er sich auch vom Anspruch der Kirche,überhaupt Strafen vorzuschreiben. Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie, 117-119.
[15] WA 20, 513, 8.32. Vgl. WA 1, 356, 16f; 40 II, 452, 18, sowie: P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, Gerd Mohn, 1983., 111ff.
[16] WA 7, 38, 6.
[17] WA 10 III, 217,7.
[18] WA 1, 607, 38.
[19] WA 10 III, 275, 8.
[20] Vgl.: P. Althaus, Communio sanctorum, Chr. Kaiser Verlag, München, 1929, 10ff.
[21] WA 10 III, 407, 29.
[22] WA 6, 131, 4.
[23] P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 260.
[24] WA 50, 210, 10; 15, 789, 21.36; 2.742-58.
[25] WA 56, 390, 26.
[26] WA 17 II, 49, 34.
Man könnte sagen, dass Luthers Umschreibung des mittelalterlichen Verständnisses von communio sanctorum im Sinne ihrer „Erdung“ und der Wiederherstellung ihrer Dimensionen von Solidarität, Fürsprache und Mitleid unter konkreten, lebenden Menschen das Potenzial hatte, eine umfassende Erneuerung des Christentums zu bewegen, und dass mit der Entwicklung reformatorischer Kirchen dieses Potenzial de facto realisiert wurde. Man könnte auch sagen, dass Luther – vor allem mit seiner Lehre vom Priestertum aller Gläubigen – die eigentliche Stärke und Gewalt der Gemeinschaft der Heiligen als der Gemeinschaft aller Christen mit Christus und untereinandererneut entdeckte und zum Ausdruck brachte. Es steht jedoch auch fest, dass diese legitime reformatorische Wiedererweckung der Idee der Gemeinschaft der Heiligen als konkreter, lebendiger Personen sich teilweise in eine nicht ganz unproblematische Fokussierung auf die communio sanctorum auf Erden im Sinne von Fokussierung auf das Konkrete verirrte. So sind im Protestantismus– obwohl natürlich nicht auf einem ganz linearen und einfach erklärbaren theologischen Weg der seinen Ursprung in der Reformation hätte, sondern zum Teil auch als Ergebnis spezifischer historischer Umstände, unter denen der Protestantismus sich als eine Reihe meist locker verbundener Landeskirchen entwickelte – auch Elemente entstanden, die sicher nicht in der Absicht der ursprünglichen Reformation lagen. So wird z. B. oft vergessen, dass communio sanctorum eine Gemeinschaft aller „Heiligen“ mit Christus und untereinander ist – aller „Heiligen“ auf Erden, aber auch den „Vollendeten”, wie Luther sagte.[28] Es wird auch zuweilenvergessen, dass die Stärke der communio sanctorum, die in der Verkündigung einer Versöhnung und der Lösung unlösbarer Situationen liegt, die eigentliche Stärke der Kirche als einer transhistorischen Gemeinschaft ist, deren Herrlichkeit in der Tat dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass sie als Ganzes „voller Vergebung der Sünden“ ist.[29] Es wird schließlich manchmal vergessen, dass die Wolke von Zeugen, die wir um uns haben (Hebr 12,1), nie aus den Augen verloren werden soll als eine Gemeinschaft, die auch dann präsent ist, wenn die lebende Gemeinschaft sich an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit aus irgendeinem Grunde als unzureichend beweist – denn dieses Aus-den-Augen-Verlieren kann in einem gewissen Sinne auch einen Verzicht auf die Stärke dieser Gemeinschaft bedeuten. Und gerade dieses Bewusstsein von der Stärke der communio sanctorum ohne Beschränkungen jeglicher Art hat die römisch-katholische Kirche besser erhalten – trotz ihrer aus der Sicht der evangelischen Theologie immer noch problematischen Lehre vom Gnadenschatz der Kirche.[30] Aus diesem Grund bleibt auch die Ablasslehre ein Thema von dauernder ökumenischer Bedeutung sowie ein Thema von Bedeutung für das Selbstbild des christlichen Glaubens und seiner Mission in dieser durch schwer lösbare Konflikte belasteten Welt.
[28] WA 10 III, 407, 29.
[29] WA 2, 722, 25.
[30] Vgl. z B.: P. Bühler, Ablass oder Rechtfertigung durch Glauben: Was brauchen wir zum Jubiläumsjahr 2000?, Pano Verlag, Zürich, 2000.
Lidija Matošević, geborene in Rijeka (Kroatien), hat katholische Theologie, Philosophie und Geschichte in Zagreb studiert und 2003 an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Heidelberg promoviert. Für ihr Buch „Lieber katholisch als neuprotestantisch. Karl Barths Rezeption der katholischen Theologie“ (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2005) hat sie 2007 den John Templeton Award for Theological Promise erhalten. Seit 2003 lehrt sie Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Theologischen Fakultät Matthias FlacciusIllyricus der Universität Zagreb; seit 2004 auch als Prodekanin. Ein von ihr verfasstes Lehrbuch der Dogmatik wird 2017 erscheinen. Lidija Matošević lebt in Rijeka und ist Ehefrau und Mutter von vier Kindern.