Fazit
Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind für die koranische Vorstellung von Gott und seinem Handeln an den Menschen zwei gleichermaßen wichtige Leitbegriffe. Die Spannung zwischen beiden lässt sich weder zugunsten der einen Eigenschaft noch zugunsten der anderen mit Leichtigkeit auflösen. Von einer „bedingungslosen“ oder „absoluten“ Barmherzigkeit Gottes im Koran zu sprechen,[37] ist darum nicht sachgerecht. Die Barmherzigkeit, die Gott den Menschen durch fürsorgliche Einrichtung der Schöpfung und gütige Versorgung erweist, ist nach dem Koran tatsächlich ihnen allen ohne Vorbedingungen zugewandt. Im innergeschichtlichen Verlauf wird Barmherzigkeit in Gestalt der Offenbarung ebenfalls allen Menschen zuteil, in einzelnen Erfahrungen der Begnadung oder Errettung vorzugsweise den Rechtgläubigen und Gerechten; auch Sünder, die rechtzeitig bereuen, dürfen ihrer in Form der Vergebung gewiss sein. Der Koran erzählt jedoch häufig auch von innerweltlichen Strafgerichten, die Gott im Laufe der Geschichte über sündige, den monotheistischen Glauben verweigernde Völker verhängte; mit ihnen setzte sich schon hier auf Erden seine Gerechtigkeit durch. Im Jüngsten Gericht ist es dann eindeutig die Gerechtigkeit Gottes, die entscheidet: Nichtmuslimen und solchen Menschen, deren Sünden schwerer wiegen als ihre guten Taten, sind ewige Höllenstrafen angedroht; nur diejenigen, die ins Paradies kommen, erhalten Gottes Barmherzigkeit als Lohn.
Wenn heutige muslimische Theologen mit ihrer Arbeit zu einem vertieften Verständnis der Bedeutung der göttlichen Barmherzigkeit im Islam beitragen möchten, ist das zu begrüßen. Von ihnen darf aber erwartet werden, dass sie auch dem Gewicht der göttlichen Gerechtigkeit im Koran Rechnung tragen, statt Gottes Barmherzigkeit gegen den koranischen Textbefund absolut zu setzen. Tun sie das nicht, dann ist die Frage aufgeworfen, welche Normativität der Koran für sie noch hat.
Literaturverzeichnis
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[37] So Khorchide 2012, S. 53, 72.