Rainer Kessler – « Individuelle und kollektive Sicherheit im Licht der Hebräischen Bibel »

„An einen sicheren Ort möchte ich eilen“ (Psalm 55,9)

Wer verunsichert ist, wer sich bedroht fühlt, sehnt sich nach einem sicheren Ort. Die Psalmen Israels sind voll der Bilder, in denen Gott als sicherer Ort ersehnt und gepriesen wird. Für die Bedrohten ist Gott Schild und Zuflucht. „Im Schatten seiner Flügel“ kann sich der oder die Bedrängte bergen (17,8; 36,8; 57,2; 63,8). Er ist Fels, Burg und Festung. Ps 18,3 ist eine einzige Aufzählung von Bildern für Gott als dem sicheren Ort, den sich der Beter herbeiwünscht:

Jhwh, du mein Fels und meine Burg und mein Retter; 
mein Gott, mein Fels, bei dem ich mich berge, 
mein Schild und Horn meines Heils, meine Zuflucht.

Die Flucht zu Gott als dem sicheren Ort ist keine Flucht aus der Welt in eine innerliche oder jenseitige Provinz, in der die Bedrängten sicher leben können. Denn die Bewegung aus der Bedrohung hin zu Gott ist nur der Anfang. Beterin und Beter erwarten, dass der Gott, bei dem sie Sicherheit suchen, nun seinerseits hinausgeht in die Welt und die Ursachen ihrer Unsicherheit beseitigt. 

Exemplarisch kann man diese Doppelbewegung an Psalm 55 verdeutlichen. Ausgangspunkt ist das Gefühl der Verunsicherung, das oben schon zitiert wurde: „Klagend irre ich und bin verstört wegen des Geschreis des Feindes, unter dem Druck des Frevlers“ (V. 4). Daraus ergibt sich der Wunsch, zu Gott als dem sicheren Ort zu fliehen:

Da dachte ich: Hätte ich doch Flügel wie eine Taube,
dann flöge ich davon und käme zur Ruhe.
Siehe, weit fort möchte ich fliehen,
die Nacht verbringen in der Wüste. 
An einen sicheren Ort möchte ich eilen
vor dem Wetter, vor dem tobenden Sturm (V. 7-9).

Doch das ist noch nicht das Ziel. Denn jetzt folgt die Aufforderung an Gott, die Feinde, die die Ursache der eigenen Unsicherheit sind, in die Schranken zu weisen:

Entzweie sie, Jhwh, verwirr ihre Sprache! …
Der Tod soll sie überfallen,
lebend sollen sie hinabfahren ins Totenreich! …
Er (Gott) hat mich befreit, mein Leben ist in Sicherheit
vor denen, die gegen mich kämpfen …
Gott hört und beugt die Feinde nieder (V. 10.16.19-20).

Die meisten Psalmen sind so offen formuliert, dass die auslösende Notlage oft nicht eindeutig festzumachen ist. Menschen, deren Sicherheit auf unterschiedlichste Weise bedroht ist, können sich in diesen Texten wiederfinden. Eindrucksvoll ist der Versuch von Ulrike Bail, Ps 55 als das Gebet einer vergewaltigten Frau zu lesen; der Versuch geht auf erschreckende Weise auf.[1] Aber auch ökonomische Unsicherheit kann im Gebet vor Gott gebracht werden. So lässt sich völlig ungezwungen Ps 35 als das Gebet eines ökonomisch Bedrängten lesen, der von Gott erwartet, dass er zu seinen Gunsten einschreitet.[2]


[1] Ulrike Bail, Gegen das Schweigen klagen. Eine intertextuelle Studie zu den Klagepsalmen Ps 6 und Ps 55 und der Erzählung von der Vergewaltigung Tamars, Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh, 1998, bes. 160-212.

[2] Zum Vorschlag, Ps 35 so zu lesen, vgl. Rainer Kessler, Das hebräische Schuldenwesen. Terminologie und Metaphorik, in: ders., Studien zur Sozialgeschichte Israels (SBAB 46), Katholisches Bibelwerk: Stuttgart, 2009, 31-45, bes. 41-44.

Auch die allgegenwärtige Verunsicherung durch Kriege und ihre Folgen wird in den Psalmen zur Sprache gebracht. Ps 46 thematisiert Krieg als Katastrophe mit kosmischen Ausmaßen: Die Erde wankt, Berge stürzen ins Meer, Wasserwogen tosen und schäumen, sodass die Berge erzittern (V. 3-4). Aber es wird auch militärisch: „Völker toben“ (V. 7), sie belagern die „Gottesstadt“ (V. 5), also Jerusalem. Angesichts dieser Bedrohung ist Gott der sichere Ort. Er ist „Zuflucht und Stärke“ (V. 2), er ist „unsere Burg“ (V. 8.12). Weil er in der Gottesstadt gegenwärtig ist, darum wird sie „nicht wanken“ (V. 6). Aber es bleibt nicht bei der defensiven Schutzfunktion, die denen Sicherheit gibt, die in Mitten der Stadt sind. Gott kommt aus der Burg heraus und beseitigt die Ursachen der Kriege:

Er setzt den Kriegen ein Ende
bis an die Grenzen der Erde.
Den Bogen zerbricht er,
die Lanze zerschlägt er;
Streitwagen verbrennt er im Feuer (V. 10).

Erst mit dem Ende der Kriege ist wirkliche Sicherheit möglich.

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