Keine Sicherheit ohne Friede und Gerechtigkeit
Die hebräische Wortwurzel, die dem deutschen Stamm „sicher/Sicherheit“ ziemlich genau entspricht, nämlich das Verb bāṭaḥ bzw. das Nomen bæṭaḥ, beschreiben zweierlei, „den Zustand oder die Gemütsverfassung des Sicherseins“.[1]Beides ist nicht identisch. Im Zustand des Sicherseins ist der Mensch wirklich sicher, während die Gemütsverfassung des Sicherseins trügerisch sein kann. „Diese Ambivalenz ist für den Gebrauch der Wurzel bezeichnend.“[2]
Viele Texte des Alten Testaments sprechen von einer „Gemütsverfassung des Sicherseins“, die sich letztlich als trügerisch erweist. Israel mag sich in seinen „hohen, festgefügten Mauern“ sicher fühlen, sie werden doch unter dem Ansturm des Feindes fallen – eine Erfahrung, die man bei den Angriffen der assyrischen und babylonischen Heere vielfach gemacht hat (Dtn 28,52). Ez 38–39 inszeniert in gewaltigen Bildern den Angriff des Gog von Magog, hinter dem sich wahrscheinlich Nebukadnezzar von Babel verbirgt,[1] gegen ein Israel, dass sich sicher wähnt:
[1] Zu dieser Identifizierung vgl. Ruth Poser, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur (SVT 154), Brill: Leiden / Boston, 2012, 599-613.
Aus den Völkern wurde es herausgeführt und sie alle wohnen in Sicherheit. … Du sagst: Ich will gegen das ungeschützte Land hinaufziehen, will über die friedlichen Menschen kommen, die dort in Sicherheit wohnen – sie alle wohnen ja ohne Mauern und sie haben keine Riegel und Tore. … An jenem Tag, wenn mein Volk Israel in Sicherheit wohnt, wirst du es erkennen. Dann kommst du von deinem Ort heran … (Ez 38,8.11.14-15).
Aber auch die große Stadt Babel, von der nach Ez 38–39 der Angriff auf das sich sicher wähnende Israel ausgeht und die von sich selbst glaubt, dass sie „in Sicherheit lebt“ (Jes 47,8), muss in den Staub fallen.
Die „Gemütsverfassung des Sicherseins“ kann trügerisch sein. Doch wie kann man zum echten „Zustand … des Sicherseins“ gelangen?
Die Hebräische Bibel benutzt vielfach die Wortzusammenstellung „sicher wohnen“. Ihre häufige Wiederholung belegt, wie stark das Gefühl der Verunsicherung gewesen sein muss. Sicher wohnen zu wollen ist ein individueller Wunsch.
Psalmbeter sehnen sich danach, dass Gott sie dahin kommen lässt: „du allein, Jhwh, lässt mich sicher wohnen“ (Ps 4,9; vgl. 16,9). Die göttliche Weisheit verspricht dem, der ihr folgt: „Wer auf mich hört, wohnt in Sicherheit“ (Spr 1,33). Was hier mit der Wendung vom „sicheren Wohnen“ ausgedrückt wird, entspricht den Bildern von Gott als sicherem Ort, die oben vorgestellt wurden.
Häufiger jedoch als einzelne Menschen wird das Volk Israel mit der Vorstellung vom sicheren Wohnen in Verbindung gebracht. Hier wird dann oft die Ortsangabe „(sicher wohnen) im Land“ hinzugefügt. Auf dem Befolgen der göttlichen Gebote liegt die Verheißung:
Ihr sollt meine Satzungen befolgen und meine Rechtsentscheide bewahren und sie ausführen; dann werdet ihr im Land in Sicherheit wohnen. Das Land wird seine Frucht geben, ihr werdet euch satt essen und in Sicherheit darin wohnen“ (Lev 25,18-19; vgl. 26,4-5; Dtn 33,28).
Sicher im Land zu wohnen ist der Inbegriff dessen, was Israel sich für die Zukunft ersehnt (Jer 23,6; 32,37; 33,16; Ez 28,26 u.ö.). Gelegentlich wird das Wort „Sicherheit“ mit einer Vokabel kombiniert, die man gewöhnlich mit „Ruhe“ übersetzt.
Noch vor dem Überschreiten des Jordans und der Einnahme des Landes beschreibt Mose die Zukunft mit folgenden Worten:
Wenn ihr aber den Jordan überschritten habt und in dem Land wohnt, das Jhwh, euer Gott, an euch als Erbbesitz verteilt, wenn er euch Ruhe vor allen euren Feinden ringsum verschafft hat und ihr in Sicherheit wohnt … (Dtn 12,10).
Im Rückblick kann der König Salomo den Gott preisen, „der seinem Volk Israel Ruhe geschenkt hat, wie er es versprochen hat“ (1 Kön 8,56). Dabei ist „Ruhe“ als Übersetzung „unzulänglich“[1], weil zu passiv gedacht. Worum es geht, lässt sich nach Jürgen Ebach mit den Begriffen von „Freiheit“ und „Heimat“ umschreiben.[2] Die Ruhe und Sicherheit, von der diese Texte sprechen, ist weder die Ruhe des Friedhofs noch die Sicherheit von Sklaven, die von ihren Herren beschützt werden, weil diese sich ihre Arbeitskraft erhalten wollen. Ruhe und Sicherheit gibt es nur in Freiheit und da, wo man zu Hause ist.
[1] So zu Recht Klaus Koch / Jürgen Roloff, Art. Freiheit, rechtlich und existentiell, in: K. Koch u.a. (Hg.), Reclams Bibellexikon, Reclam: Stuttgart, 72004, 161f, Zitat 161.
[2] Jürgen Ebach, Über „Freiheit“ und „Heimat“. Aspekte und Tendenzen der מְנוּחָה, in: ders., Hiobs Post. Gesammelte Aufsätze zum Hiobbuch, zu Themen biblischer Theologie und zur Methodik der Exegese, Vandenhoeck & Ruprecht: Neukirchen-Vluyn, 1995, 84-107.
Für das sichere Wohnen in Freiheit und Heimat gebraucht die Hebräische Bibel gelegentlich ein aussagestarkes Bild, das Bild von Weinstock und Feigenbaum, unter denen man sitzen (1 Kön 5,5; Mi 4,4), deren Früchte man verzehren (2 Kön 18,31 = Jes 36,16) oder unter denen man sich begegnen kann (Sach 3,10). Hinzu kommt im griechisch überlieferten 1. Makkabäerbuch das „unmarkierte Zitat von Mi 4,4“[1] in 1 Makk 14,12. Der jeweilige Kontext sagt allerhand darüber aus, was im Alten Testament unter Sicherheit zu verstehen ist.
[1] Michael Tilly, 1 Makkabäer (HThKAT), Herder: Freiburg u.a., 2015, 277.
Zum ersten Mal wird die Wendung gebraucht, als summarisch die Herrschaft des Königs Salomo beschrieben wird. Am Ende dieser Beschreibung heißt es: „Juda und Israel lebten in Sicherheit von Dan bis Beerscheba; ein jeder saß unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum, solange Salomo lebte“ (1 Kön 5,5). Aber diese Sicherheit beruht auf Eroberung und Herrschaft über fremde Völker. In den Versen davor wird gesagt, Salomo habe vom Eufrat bis zur Grenze Ägyptens geherrscht und alle Länder hätten ihm Tribut zahlen müssen. Die Sicherheit Judas und Israels ist die Sicherheit der pax Salomonica. Es ist ein imperialer Friede, der spätestens dann endet, als unter Salomos Nachfolgern das Reich zerbricht und man gegeneinander und mit den Nachbarvölkern endlose Kriege führt.
Noch fragiler ist die angebliche Sicherheit, die in 2 Kön 18,31 = Jes 36,16 in Aussicht gestellt wird. Jerusalem wird im Jahr 701 v. Chr. vom assyrischen Heer belagert. In einer Rede an die Belagerten fordert der Abgesandte des assyrischen Königs dazu auf, sich zu ergeben. Er verbindet das mit der Zusage: „und esst – jeder von seinem Weinstock und jeder von seinem Feigenbaum – und trinkt – jeder das Wasser seiner Zisterne“, um gleich im nächsten Vers einschränkend hinzuzufügen: bis ihr deportiert werdet. Sicherheit wäre erkauft mit Unfreiheit und dem Verlust der Heimat.
Weder die pax Salomonica noch die pax assyriaca können wirkliche Sicherheit garantieren. Diese wird es erst in einer erhofften Zukunft geben. Eher unbestimmt spricht Sach 3,10 von „jenem Tag“, an dem ihr „einander einladen werdet unter Weinstock und Feigenbaum“. Es ist erst die Vision von der Völkerwallfahrt zum Zion in Mi 4,1-4, die die Vorstellung vom endzeitlichen Frieden in einen umfassenden Zusammenhang stellt. Der Text macht klar, dass es Sicherheit nicht unter den Bedingungen imperialer Eroberungen gibt, sondern nur, wenn die Völker die Weisung und Schlichtung des Gottes Israels annehmen, wenn sie ihre Waffen vernichten und es gar nicht mehr lernen, Kriege zu führen. Weil das sichere Leben keine Folge von Unterwerfung ist, kommt nicht nur ein Volk in seinen Genuss, sondern „ein jeder“ – also doch wohl auch die Menschen aus den Völkern.[1] Des Weiteren ergibt sich aus der Stellung der Verse im Kontext, dass diese Sicherheit nicht nur eine Sicherheit vor fremden Soldaten, sondern auch vor den Mächtigen im eigenen Volk ist, die die Männer um Feld und Besitz bringen (Mi 2,1-2), die Frauen und Kinder aus den Häusern vertreiben (2,9) und dem Volk das Fell über die Ohren ziehen (3,2-3), wie oben zitiert.[2]
[1] Vgl. Willy Schottroff, Die Friedensfeier. Das Prophetenwort von der Umwandlung von Schwertern zu Pflugscharen (Jes 2,2-5/Mi 4,1-5), in: ders., Gerechtigkeit lernen. Beiträge zur biblischen Sozialgeschichte (ThB 94), Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 1999, 205-224, bes. 212.222.
[2] Vgl. Walter Brueggemann, “Vine and Fig Tree“: A Case Study in Imagination and Criticism, in: CBQ 43 (1981) 188-204, 193: „What usurps vine and fig trees is not just invading armies, but the tax structure and the profit system which are both cause and effect of military dangers. The poet envisions not simply a cessation of war, but the dismantling of the war apparatus and, undoubtedly, a major economic displacement.“
Wie um den besonderen Charakter dieser Sicherheit, die nicht auf Eroberung, sondern auf universalem Frieden beruht, zu unterstreichen, wird dem Satz vom sicheren Wohnen noch eine weitere Aussage angefügt: „Und ein jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand schreckt ihn auf.“ Erst die Tatsache, dass es keinen mehr gibt, der sie stören könnte, macht die Sicherheit wirklich sicher.
In geradezu programmatischer Weise stellt Jes 32,15-18 den Zusammenhang von Friede, Gerechtigkeit und Sicherheit heraus. Der Text spricht von einer Zukunft, in der „über uns der Geist aus der Höhe ausgegossen wird“ und in der in der Wüste das Recht und in den Gärten die Gerechtigkeit wohnen werden. Dann folgt der Satz, der alles zusammenfasst:
Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein,
der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer (V. 17).
Und die Folge wird eine Sicherheit sein, die kein Ende hat: „Dann wird mein Volk auf der Aue des Friedens weilen, an sicheren Wohnorten und an sorgenfreien Ruheplätzen“ (V. 18).
Nach der Hebräischen Bibel ist Sicherheit nichts, was durch militärische Stärke oder durch Investitionen in Programme der „inneren Sicherheit“ erreicht werden könnte. Sicherheit gibt es nur, wo Gerechtigkeit und Friede herrschen.
Autor
Knut Wenzel ist seit 2007 Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt am Main. Promotion zum Dr. theol. in Regensburg 1996, Habilitation in Regensburg 2001. Veröffentlichungen (Auswahl): Offenbarung – Text – Subjekt. Grundlegungen der Fundamentaltheologie, Freiburg 2016; Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine Einführung, Freiburg-Basel-Wien 2014; Zwischen Mythos und Subjekt. Zur Kritik der (theologischen) Hermeneutik, in: Günter Kruck/ Joachim Valentin (Hg.), Rationalitätstypen in der Theologie, Stuttgart 2017 (= QD 285), 17–50; Sicherheit als Zeichen der Zeit. Zeitdiagnostische und theologische Anmerkungen, in: Michelle Becka (Hg.), Ethik im Justizvollzug. Aufgaben, Chancen, Grenzen, Stuttgart 2015, 17–32.