2. Imaginationen von Sicherheit zwischen Totalisierung und Dekonstruktion
In dem, was hier vereinfachend „Diskurs“ genannt wird, also in der kulturellen, gesellschaftlichen, geschichtlichen, etc. Bearbeitung der menschlichen Bedürfnisse, erweist „Sicherheit“ sich als letztlich uneingrenzbar. Haben die Menschen erst einmal die Welt als Ganze in Blick genommen – hat eine Universalisierung ihres Weltbildhorizonts stattgefunden –, ist es auch nicht weniger als die Totalität der Wirklichkeit, an der erst „Sicherheit“ ihr Maß findet. Hier lohnt der Blick auf die Antike als auf die formative Epoche der Méditerranée und aller in ihr Strahlungsfeld geratenen Regionen und Kulturen.
2.1. Die Idee des Kosmos
Die wesentliche Funktion der Idee des Kosmos besteht darin, Sicherheit zu gewährleisten, genauer: die Imaginierung eines tragfähigen Welt-Bilds der Sicherheit zu ermöglichen, eine bewohnbare Holographie. Wenn schon der Nahbereich der Lebenswelt als in allen Dimensionen – gesellschaftlich, politisch, militärisch, ökonomisch, aber auch und tatsächlich nicht zuletzt als Natur – sowohl als bedrohlich als auch als bedroht erfahren wird, als übermächtig wie als prekär, als unberechenbar und die Position des Menschen im Verhältnis zu dieser ihn umgebenden Bedrohung der Überwältigung wie des Wegbrechens als absolut ungesichert erscheint, dann soll wenigstens die Makrostruktur von einer Ordnung der Gesetzmäßigkeit beherrscht sein. Dass diese Stabilität und dadurch Sicherheit gewährleistende Ordnung kosmologisch makrostrukturell veranschlagt wird und damit jenseits der Reichweite sinnlicher Erfahrung, erschwert nicht, sondern begünstigt ihre Plausibilität: Das Sicherheit insinuierende kosmische Ordnungssystem ist nicht erfahrungsweise erreichbar, also über einen höchst irritationsanfälligen Erkenntnisweg – ist doch die Irritation, die Störung geradezu das Erkenntnisprinzip von Erfahrung. Sondern es ist erfahrbar auf dem Weg der Abstraktion, also der Ablösung von allem konkret Gegenständlichen, der Methodologisierung, also der Rückführung von Kohärenzen; nicht auf Erfahrungskontinuitäten, sondern auf eine regelgeleitete Grammatik, sowie schließlich der Spekulation, also der Ausbildung intellektueller Anschauung, die nicht mehr auf sinnlicher Wahrnehmung basiert. – Mit einem Wort: Die Idee des Kosmos als Modell von Sicherheit bringt mit der Astronomie das Paradigma der Naturwissenschaften hervor.
Unübersehbar pflegen die Hochkulturen quer durch die Kontinente und unabhängig voneinander ein zentrales Interesse an der Astronomie. Zentral ist deren Stellung, weil eng mit dem Kult und der Regierung verbunden. Das Interesse an der Astronomie kann sich prognostisch ausprägen: Günstige Tage für staatliche Akte oder auch für das Ausbringen der Saat sollen vorherbestimmt werden. „Günstig“: das ist Attribut der Relation zwischen Konstellation und Zeit, zwischen der Stellung der Sterne und dem Geschick der Menschen. Über ein Wissen dieser Relation verfügen heißt über die Zeit der Zukunft verfügen. Ein solches Wissen über das an sich Unbekannte – die Zukunft –, ein Verfügen über das Unverfügbare, wird gehandhabt als Durchsetzung von Sicherheit in einer nach aller menschlichen Erfahrung unabsicherbaren Dimension – in der Zeit, die als Zukunft absolut ausständig ist. Die Astronomie als Technologie der Prognose bewegt sich bis in die Neuzeit ungeschieden im selben Flussbett mit der Astrologie und Praktiken der Mantik.
Zeigt hier Astronomie sich als Applied Science, berührt sie als Grundlagenforschung ganz unmittelbar den Diskurs der Sicherheit. Denn das eigentliche Interesse der Hochkulturen, die sich die Astronomie zur Leitwissenschaft gewählt haben, zielt nur vordergründig auf die Errechnung der Verlaufsbahnen der Planeten; mit dieser Errechnung soll vielmehr erwiesen und mathematisch unzweifelhaft gemacht werden, dass die Planeten in ihren Bewegungen – und die Sterne in ihrer stabilitas – gesetzmäßig sind, einem Gesetz folgen, das nicht an sich selbst erreichbar sein mag, das aber den Bewegungen der Planeten und den Stellungen der Sterne abgelesen werden kann. Ist die Welt auch in ihrer Makrostruktur dynamisch, steht das für ihre Vitalität. Verläuft diese Dynamik aber regel-gerecht, lässt sich die Chaotik – die Ungeordnetheit und Destruktivität – konkret erfahrener Lebensdynamiken rückprojizieren in die gesetzmäßige Ordnung der planetaren Bewegungen, von wo sie als zu einer lebendigen, Leben ermöglichenden Ordnung herabgedimmt zurück scheinen. Wenn nur das unmittelbar mich bedrängende Chaos in der Distanzierung einer kosmischen Projektion als Ordnung sich dechiffrieren lässt, ist alles gut.
2.2. Das Konzept Schöpfung
Ist das so? Hier scheint für einen Moment die Lösung der Kunst auf: Die Kunst hat in der Projektion das Gezeigte schon gebannt; doch nur dem Schein nach.[1] Eine Projektion macht nichts gut. Dass alles gut sei, dies sagt (oder singt) aber der Refrain des Schöpfungslieds, mit dem die Bibel beginnt.[2] Der biblische Weltbildentwurf teilt mit der griechischen Idee des Kosmos die Epoche und axial den Diskurs des Sicherheitsbedürfnisses, stellt innerhalb der Antike aber ein alternatives Konzept dar. Biblisches Schöpfungsdenken formt sich in der Konfrontation eines geschichtstheologisch bestimmten JHWH-Glaubens, der Schöpfung als Idee des Anfangs von allem nicht genuin hat, sondern sozusagen inmitten von Geschichte, von Welt einsetzt, mit einer kosmologisch bestimmten Hochreligion, noch dazu im Verhältnis einer politisch-militärischen Unterlegenheit: Babylonien löscht die Eigenstaatlichkeit Judas aus und verschleppt die Elite nach Babylon. Dort lernt die Theologie der JHWH-Tradition Kosmologie als Theologie der Begründung der Einheit aller Wirklichkeit kennen – und adaptiert sie zu ihren Bedingungen.
Diese Adaption lässt sich als Transformation in die Theologie eines monotheistischen und geschichtssouveränen Gottes verstehen. Die dabei erfolgenden Weltbild-Umbauten betreffen zuerst den Status der Gestirne; in Babylon als Gottheiten verehrt, schraubt der biblische Schöpfergott sie als Leuchtmittel in den Plafond der Welt: eine ironiegesättigte Geste der Religionskritik in einem religiösen Gründungstext. Letztlich aber ist von dieser Transformation die Semantik, das Bedeutungsmaterial babylonischer Schöpfungstheologie insgesamt betroffen: Der erste biblische Schöpfungsbericht (Gen 1,1–2,4a) nimmt kosmologische Semantik auf, um damit aber nicht eine Kosmologie in kosmogonischer Absicht zu entwerfen: nicht wie die Welt real entstanden ist, interessiert diesen Text, sondern dass sie, wie auch immer sie entstanden ist, aus ihrem Ursprung gut ist, nämlich als originäre Heilstat Gottes: um das zu erzählen, wird das Anfangen der Welt erzählt. Dass nach einem langen und komplexen Entstehungs- und Redaktionsprozess die Text-Welt der Bibel mit dem Erzähl-Lied der Schöpfung beginnt – mit der Identität von Text-Anfang und Welt-Anfang –, versinnbildlicht die Eigentümlichkeit des Gottesworts, des dabar JHWH, in dem das Sprechen des Worts und das Tun der Tat in eins fallen. Der Schlussstein dieser Transformation findet sich in Gen 2,4a, wo mit der toledot-Formel das Schöpfungswerk in den Zusammenhang der Heilsgeschichte eingeordnet wird, als deren erste, Ursprung setzende Heilstat.
Im Ergebnis dieser Transformation liegt die Konzeptualisierung eines absoluten Monotheismus vor, der den konkurrenzlos einen und einzigen Gott als universal zuständig denkt, derart, dass er eben auch dafür verantwortlich ist, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Gott als Schöpfer ist die Erstursache aller Wirklichkeit, diese gründet ausschließlich in seinem Schöpfungsentschluss und in sonst nichts. Das ist mit dem theologoumenon der creatio ex nihilo gemeint. Sicherheitsdiskursiv wird im Unterschied zur Idee des Kosmos im Konzept der Schöpfung Sicherheit nicht als Einbettung in ein gesetzmäßig ablaufendes Gefüge harmonischer Bewegungen gedacht, sondern durch die Rückführung aller Wirklichkeit auf ein einziges Verursachungsprinzip gewährleistet. Da ist nichts, was von diesem einen Prinzip nicht erfasst wäre; kein Haar bleibt ungezählt, deswegen braucht Furcht nicht zu sein: unmittelbarer kann das Bedürfnis nach Sicherheit nicht angesprochen werden (vgl. Mt 10,30f). Im biblischen Konzept einer Schöpfung mit heilsgeschichtlicher Realisation ist es hinsichtlich der Schöpfung die Schöpfungsmacht (Ps 8,2.4.8–10) und die in der Gutheit der Schöpfung sich ausprägende Güte Gottes, hinsichtlich der Geschichte die Handlungssouveränität (Jer 20,11) und die Treue (Dtn 7,9) desselben Gottes, aus welchen Attributen Sicherheit sich herleiten lässt.
[1] Diese basale Dialektik entdeckt Adornos ästhetische Theorie in der Kunst. Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetik (1958/59), Suhrkamp: Frankfurt, 2009, bes. 56–71.
[2] Vgl. zum Folgenden Erich Zenger, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte, Verlag Katholisches Bibelwerk: Stuttgart, 1983.