3. Der Absolutismus der Liebe, das Wagnis der Freiheit und die Überbietung der Sicherheit
Doch ist mit dieser Skizze das Konzept Schöpfung vollgültig erfasst? Ist Gott als Schöpfer nur prima causa, auf die in einer waghalsigen Reduktion eine allumfassende Mechanik der Sicherheit zurückzuführen ist? Das kann nur ein Gerüst sein, das eine lebendige Wirklichkeit trägt, von der es nichts weiß. Das biblische Idiom spricht von der Schöpfung nicht wie von einem Kausalzusammenhang, der auf eine Ursache zurückzuführen ist; dabar JHWHbezeichnet eine Handlung, die von einem handlungsfähigen Subjekt ausgeht; die von solcher Handlung hervorgebrachte Wirklichkeit ist demnach nicht nur verursachte, sondern gewollte Wirklichkeit. Das aber nennt ein Dictum, das mal Augustinus, mal Duns Scotus zugeschrieben wird, Liebe: amo – volo ut sis (ich liebe – das bedeutet: ich will, dass du bist). Schöpfung aus Liebe: das geht in keinem Kausalzusammenhang auf. Die damit in Gang gesetzte Subjektivierung der Schöpfung hat ihren entscheidenden Umschlagspunkt im Begriff des dabar JHWH, ist doch die Tat Gottes zugleich Wort Gottes. Als Handlung ist Schöpfung zugleich Wort: Wort, das sich adressiert. Die ganze Schöpfung trägt die Prägung einer Mitteilung: Gott bringt in diesem Wort, das die Schöpfung ist, sich zum Ausdruck und adressiert sich an eben diese Schöpfung: an jenes Geschöpf, das in der und für die Schöpfung antworten kann. Der Mensch ist das angesprochene Geschöpf. Dies ist seine Schöpfungswürde. Er ist nicht geschaffen, um als Sklave Kulturarbeit zu leisten, wie in babylonischer Mythologie. Er ist auch nicht mit dem Zweck geschaffen worden, von Gott angesprochen zu werden; er ist als der Angesprochene geschaffen, er ist für Gott Zweck in sich selbst, und durch ihn gilt das für die ganze Schöpfung. Deswegen: So sehr der Mensch als Geschöpf in das Gesamt der Schöpfung eingebettet ist, ist er in Hinsicht auf seine Schöpfungswürde aus allen Zusammenhängen herausgehoben. Am Menschen wird die Ordnung der Schöpfung als ein Absolutismus der Liebe ersichtlich – insofern das Absolute das Losgelöste ist. In den Diskurs der Sicherheit übersetzt heißt das: Der Mensch ist das entsicherte Wesen. So weit wird die Transformation der Idee des Kosmos getrieben, dass Schöpfung im Kontext des Diskurses der Sicherheit als dessen Dekonstruktion erscheinen muss.
Das Prinzip der Dekonstruktion oder der Ent-Sicherung ist das Subjekt. Wenn Schöpfung die Transformation von Kosmologie in ein von Gott initiiertes Subjektgeschehen bedeutet, geht alle Dynamik der Ent-Sicherung auf Gott selbst zurück. Es ist sein unableitbarer und unverfügbarer Freiheitsentschluss, dem die Schöpfung insgesamt und der Mensch insbesondere entspringt. Besonders der Mensch: geht er doch aus dem Wort Gottes als der von diesem Aus- und Angesprochene hervor; er ist das Wort, das Gott in freier Selbstverfügung („Lasst uns …“) grund-los (… ex nihilo) als die ihm entsprechende Eigen-Wirklichkeit („… als Bild Gottes“) aus-gesprochen hat. Das ausgesprochene Wort hat den Mund unwiderruflich verlassen. Das ist Gott nicht unterlaufen, wie ein Versehen, ist vielmehr Ausdruck seines Willens. Die Verselbständigung geschaffener Wirklichkeit entspricht dem göttlichen Schöpfungswillen. Der Absolutismus der Liebe ist nicht usurpierend, sondern freisetzend. Er will die Lebendigkeit des Anderen. Gott will, dass ein anderer als er selbst, anders als er selbst, lebendig ist: Diesen spricht er als sein Wort aus, diesen anerkennt er wie sich selbst („als sein Bild“). Im Maß seiner Geschöpflichkeit, ihrer materiellen Abhängigkeit, ihres real limitierten Fähigseins und ihrer befristeten irdischen Lebendigkeit, ist der Mensch in der Anerkennung Gottes absolut. Als Bild Gottes ist der Mensch selbst Gott unverfügbar. Ist der Mensch der von Gott in emphatischer Weise Ausgesprochene – nämlich als der Angesprochene –, hat vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten nicht einmal Gott Verfügung über dessen Antwort. Das Glücken der Schöpfung auf die unverfügbar freie Antwort des Menschen abzustellen heißt, das Ganze nicht zu sichern, sondern zu wagen. Ist Gott ein Hasardeur? Ein Liebender ist er.
Die Liebe wagt alles, vor allem sich selbst, und darin den Liebenden. Die Liebe hofft auf ein Ja, ersehnt es, spielt das Spiel der Verführung, um eine bejahende Antwort herbeizuführen, ist verzweifelt, wenn sie ausbleibt – und braucht bei all dem das Ja nicht, um zu sein was sie ist: Liebe. Dabei ist sie alles andere als selbstgenügsam: Wer liebt, ist nicht bei sich, hat sich rückhaltlos geöffnet, preisgegeben, ist aber auch nicht so bei der geliebten Person, dass alles sich in einer gesättigten Dyade schließen und zur Ruhe kommen würde, ist vielmehr – bei der Liebe selbst, hat Aufenthalt genommen in einer prekären Balance der Hingabe. Zu lieben heißt, die geliebte andere Person absolut – losgelöst von allem – zu beanspruchen – und sie, um der Liebe willen, in dieser Beanspruchung in ihrer ebenso absoluten Unverfügbarkeit anzuerkennen. Liebe setzt frei, anerkennt, realisiert, will – Freiheit, die Freiheit der geliebten anderen Person, diese als andere Freiheit.
Gott, der die Welt aus Liebe erschaffen hat – ex nihilo: aus nichts anderem als seinem freien Selbstentschluss, sie zu wollen –, hat mit der Schöpfung kein Haus der Sicherheit errichtet, mit der Kirche womöglich als dessen safe room. Er hat vielmehr das Wagnis der Liebe in die bzw. als Welt gesetzt, mit der Freiheit, die Gott selbst ist, als Prinzip. Gottes Wagnis der Liebe kommt zu sich selbst im Menschen, dessen unverfügbare Freiheit bestimmend ist auch für das Verhältnis Gottes zum Menschen, seinem Bild (Gen 1,26–28).
Diese Dekonstruktion der Sicherheit durch den Absolutismus der Liebe legt einen vorläufig letzten Halt an einer Station der Bedeutungsgeschichte des Christentums ein, die einen unerwarteten Ausblick auf den Umschlag der Sicherheit in ihre Aufhebung gewährt:[1] Die Gradualgesänge des Gregorianischen Chorals enthalten im Mittelteil Vertonungen von Psalmen. Diese werden musikalisch interpretiert, selten durch Texteingriffe. Um so aussagekräftiger ist deswegen das Graduale Laetatus sum, eine Vertonung von Ps 121/122.[2] Die hier interessierende Zeile lautet: „Friede wohne in deinen Mauern, / Sicherheit in deinen Palästen“ (Ps 121,7). Dies wünscht der Psalmist in diesem Wallfahrtslied dem Ziel seiner Pilgerfahrt, Jerusalem.[3] Tatsächlich hat die auf einen Auftrag des II. Vatikanischen Konzils zurückgehende (DV 22) und 1979 erschienene, revidierte Nova Vulgata dort, wo die Zürcher Bibel „Sicherheit“ und die Einheitsübersetzung „Geborgenheit“ hat, securitas. Die Vulgata aber, deren Text im Graduale gesungen wird, hat nicht securitas, sondern abundantia: überfließende Fülle. In christlicher Adaption ist diese antik-heidnische Personifikation des Überflusses zum Alias-Wort für die göttliche Gnade geworden. Wollte man aus jenem Wort-Wechsel in einem mittelalterlichen Graduale eine Aussage ziehen, müsste sie lauten: Nicht Sicherheit, die wie ein knappes Gut errungen und verteidigt werden muss, sondern die Fülle des Überflusses, Abundanz jenseits aller Ökonomie, kann das Versprechen von Sicherheit einlösen. Wir Menschen kennen, wiewohl sie uns unmittelbar sind, unsere Bedürfnisse nicht. Und bringen wir sie ins Wort, verfehlen wir sie. Was der Diskurs der Sicherheit als das ihm zugrunde liegende Bedürfnis identifiziert, begehrt womöglich ganz anderes: das, was zutreffender als durch securitasbezeichnet wäre durch abundantia: Gnade.
[1] Vgl. zum Folgenden Andreas Odenthal, „Abbondanza“ – Die Liturgie als „Sakrament des Überflusses“, in: Guido Schlimbach/Stephan Wahle (Hg.), Zeit – Kunst – Liturgie. Der Gottesdienst als privilegierter Ort der Ästhetik, Einhard: Aachen 2011, 12–15.
[2] Die Vulgata, die der Zählung der Septuaginta folgt, hat diesen Psalm unter der erstgenannten, die modernen Übersetzungen unter der zweiten Ziffer.
[3] Hier wiedergegeben nach der Übersetzung der Zürcher Bibel, Zürich 2007.
Autor
Knut Wenzel ist seit 2007 Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt am Main. Promotion zum Dr. theol. in Regensburg 1996, Habilitation in Regensburg 2001. Veröffentlichungen (Auswahl): Offenbarung – Text – Subjekt. Grundlegungen der Fundamentaltheologie, Freiburg 2016; Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine Einführung, Freiburg-Basel-Wien 2014; Zwischen Mythos und Subjekt. Zur Kritik der (theologischen) Hermeneutik, in: Günter Kruck/ Joachim Valentin (Hg.), Rationalitätstypen in der Theologie, Stuttgart 2017 (= QD 285), 17–50; Sicherheit als Zeichen der Zeit. Zeitdiagnostische und theologische Anmerkungen, in: Michelle Becka (Hg.), Ethik im Justizvollzug. Aufgaben, Chancen, Grenzen, Stuttgart 2015, 17–32.