4. Evangelisierung – Antwort auf die geistliche Not des Menschen von heute
Eine der Nöte der heutigen Menschheit ist der praktische Atheismus, unter dessen Einfluss die Menschen keinen transzendentalen Lebenssinn sehen können, und daher auf der Oberfläche der Konsumorientierung bleiben oder in einer diffusen Aussichtslosigkeit geraten, wie schon im Gaudium et spes festgestellt wurde:
„Wenn … das göttliche Fundament und die Hoffnung auf das ewige Leben schwinden, wird die Würde des Menschen aufs schwerste verletzt … und die Rätsel von Tod, Schuld und Schmerz bleiben ohne Lösung, so dass die Menschen nicht selten in Verzweiflung stürzen. Jeder Mensch bleibt vorläufig sich selbst eine ungelöste Frage, die er dunkel spürt. … Auf diese Frage kann nur Gott die volle und ganz sichere Antwort geben…“[1]
Wenn wir den missionarischen Auftrag der Kirche nicht mehr als Pflicht, das Christentum wie eine Ideologie zu verbreiten, sondern als selbstlose Antwort der Kirche auf die Not der Menschen wahrnehmen, bekommt das Wort Evangelisierung wieder den vollen Sinn, den ihm Paul VI. im Evangelii nuntiandi gab und den durch Evangelii gaudium von Franziskus bekräftigt wurde. Die Bischofssynode 2012 wurde zwar der Evangelisierung gewidmet. Es handelte sich aber um die „Neue Evangelisierung zur Weitergabe des Glaubens“ (so der Titel der Synode). Durch diesen Titel sowie durch die Vorbereitungsdokumente dieser Synode wurde ein falscher Eindruck geweckt, als ginge es bei der Synode nur um pastorale Strategien zur Erneuerung der traditionellen kirchlichen Sozialisation. Im Hintergrund stand tatsächlich die Besorgnis um die Entwicklung des Christentums angesichts der Säkularisierung und der Verbreitung des Islam. Doch das Ergebnis der Synode war letztendlich ganz anders. Das postsynodale Schreiben Evangelii gaudium wurde eigentlich zum Programmwort des neuen Papstes.[2]
Für Franziskus besteht die Aufgabe der Evangelisierung weniger in einer Werbung für den christlichen Glauben (propaganda fidei) als im Prozess der tiefen Metanoia der einzelnen Christen sowie der kirchlichen Strukturen. Es gibt zwei Motivationsquellen dieses Prozesses: das Erlebnis der befreienden Liebe Gottes und die Berührung des leidenden Leibes Christi. Diese Motivationsquellen stehen im Gegensatz zu weiten Teilen der missionarischen Praxis der Kirche, die in den vergangenen 50 Jahren scharf kritisiert wurde.[3] Während die Missionare der Vergangenheit – im besten Fall[4] – durch das Ideal der „Seelenrettung“ zu ihren Auftragen beseelt wurden, ist die Motivation, mit der Franziskus rechnet, die persönliche Erfahrung mit der befreienden Kraft des Evangeliums. Durch diese Erfahrung ist der Christ (nicht nur Missionar, Priester oder Ordensmann/Ordensfrau, sondern jede Christin/jeder Christ), zur Missionierung wie gezwungen (vgl. 2 Kor 5,14 oder 1 Kor 9,16): „Wenn nämlich jemand diese Liebe angenommen hat, die ihm den Sinn des Lebens zurückgibt, wie kann er dann den Wunsch zurückhalten, sie den anderen mitzuteilen?“[5]
Es handelt sich um keine ideologische Manipulation, sondern um einen aus der Liebe stammenden Wunsch, mit anderen Menschen das zu teilen, was den konkreten Christus-Zeugen persönlich gerettet hat. Man muss aber dazu noch die Not der anderen spüren. Das ist nur möglich, wenn ich Mitleid habe (vgl. Mt 9,36). Daher wurde im Evangelii gaudium auf das menschliche Leid aufmerksam gemacht: Die evangelisierende Gemeinde soll „mit dem leidenden Leib Christi in Berührung“ kommen und den „Geruch der Schafe“ verspüren.[6]
Aus den Gedanken von Papst Franziskus kann man sein tiefes Verständnis der soziokulturellen Wende von der (scheinbar selbstverständlichen) kirchlichen Sozialisation über die Krise der Säkularisierung bis hin zur persönlichen Glaubensentscheidung jedes einzelnen Christen herauslesen. Diese Entscheidung (metanoia) wird durch die Erfahrung bestätigt und wird zu einer treibenden Kraft der Evangelisierung.
Die Neuevangelisierung darf man aber nicht im Sinne der Restaurierung der traditionellen Glaubenssicherheiten missverstehen, die ein vermeintlich unwandelbares und in sich geschlossenes System darstellen. Das Evangelisierungsverständnis von Franziskus eröffnet Horizonte eines persönlichen Glaubens, der aus der Not durch die erfahrene Erlösung herauswächst und dadurch auf die Notleidenden (auch im Sinne der bereits erwähnten geistlichen Not) ausgerichtet bleibt und sie zu befreien vermag. Doch die Zufriedenen wollen keine Befreiung (sowie der große Teil von Tschechen und Ostdeutschen vor der Wende) und die „Materialisten“ suchen herkömmliche Sicherheiten, die aber nicht zurück zu gewinnen sind.
Wenn ich den Papst richtig verstehe, besteht seine theologische Antwort auf den Mangel menschlicher Sicherheiten in der heutigen Welt im bewussten Verzicht auf jene auf der Politik oder Wirtschaft begründeten Sicherheit zugunsten der anderen Sicherheit, die auf dem Vertrauen auf die Verheißungen Gottes aufgebaut wird. Diese Haltung gibt dem Papst die Freiheit, mehr sich auf die Erfüllung der Missio der Kirche zu konzentrieren als auf die Bewahrung ihrer Strukturen. Diese Haltung eröffnet der Kirche die Zukunft, in der sie nicht für jeden Preis eine privilegierte gesellschaftliche Position anstreben muss, sondern sich zum „Zeichen und Werkzeug“ der Basileia[7] entwickeln soll. Wenn wir uns diese Glaubenshaltung aneignen, werden wir vielleicht wenig Sicherheit spüren, desto mehr werden wir für die neuen Wege offen, die sich uns erst in Zukunft erscheinen lassen.
[1] Gaudium et spes, 21.
[2] Gründlicher zu diesem Thema: KAPLÁNEK, Michal, Das sich wandelnde Verständnis von Evangelisierung in den vergangenen 50 Jahren, in: Teil oder Fremdkörper? Die Positionierung der Kirchen in postkommunistischen Gesellschaften, Gniezno/Wien: Post-Netzwerk, 2016, 126-136.
[3] Wie z. B. in: ERHARTER, Helmut (Hg.), Von der Missionierung zur Evangelisierung. Wien: Kerle-Verlag, 1992.
[4] Man darf die politischen Motivationen und die militärischen Übergriffe aus der Geschichte der neuzeitlichen Kolonien und Missionsgebieten nicht einfach wegdenken.
[5] Evangelii gaudium, 8.
[6] Vgl. Evangelii gaudium, 24.
[7] Vgl. Lumen gentium, 1.
Autor
Michal Kaplánek seit 1998 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Südböhmischen Universität und seit 2011 ist er Dozent an der Salesianischen Sozialakademie in Prag. Zu seinen wissenschaftlichen Interessen gehören Jugendarbeit und Freizeitpädagogik.
Adresse: Südböhmische Universität, Theologische Fakultät, Knœská 8, 370 01 Œeské Budējovice, Tschechische Republik.