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Regina Ammicht-Quinn – « „Ein feste Burg ist unser Gott“. Notwendigkeiten und Grenzen von Sicherheit »
„Sicherheit“, so der amerikanische Psychologe des letzten Jahrhunderts Abraham Maslow, ist ein Grundbedürfnis, das gleich nach den Bedürfnissen von Atmung, Schlaf und Nahrung kommt.[1] Dieses Grundbedürfnis wird heute fraglich:
Zum einen sind die katastrophalen Ungleichheiten der Welt dort zugespitzt sichtbar, wo es um Sicherheit geht – Sicherheit für Leib und Leben und Überleben. Nur ein wenig Sicherheit wolle sie, so hören wir die Mutter aus Damaskus, deren schlafendes Baby durchs Fenster von einem Bombensplitter getötet wurde.
Zum anderen ist Sicherheit insbesondere in den sicheren Ländern des Nordens zu einer dominanten Frage geworden, sodass hier das Leben der Bürger_innen gerade durch Sicherheitsmaßnahmen beschädigt werden kann.
Sicherheit also ist nötig. Und Sicherheit ist nicht einfach „gut“.
„Entsicherung“ ist für den Soziologen Wilhelm Heitmeyer in der letzten Folge seiner Langzeitstudie über „Deutsche Zustände“ (die durchaus exemplarisch für mitteleuropäische Länder sind) eines der prägenden Symptome des Jahrzehnts 2002-2012.[2] „Entsicherung“ heißt nicht notwendig der Verlust an objektivierter Sicherheit, wohl aber ein Verlust an Vertrauen. Signalereignisse wie der 11. September, die Finanzmarkt- und Schuldenkrise, aber auch gefühlte Zustände wie Kontrollverlust, Beschleunigung und kulturelle/politische Richtungslosigkeit führen, so Heitmeyer, zu dieser „Entsicherung“. „Entsicherung“ heißt aber auch: Weltweit sind heute mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als die Hälfte davon als Vertriebene innerhalb ihres Heimatlandes. Diese massive Unsicherheit, die Menschen aus ihren Heimatländern treibt, wird in den aufnehmenden Gesellschaften des Nordens wiederum von manchen der Einheimischen als Verunsicherung wahrgenommen. Geflüchtete sind in der erhofften Sicherheit mit neuen Unsicherheiten konfrontiert, die sich auf ihr Bleiberecht und ihre Zukunft, ihre Alltagsbewältigung, das Schicksal der Zurückgebliebenen und vieles mehr bezieht. In den Aufnahmeländern gibt es (neue) Akteur_innen im rechten politischen Spektrum, eine grundlegende Verschiebung der politischen Landschaft und neue „Signalereignisse“ wie die Terroranschläge in Europa: All dies verstärkt und verändert die Wahrnehmung von Sicherheit und Unsicherheit. Sicherheit wird zum gesellschaftlichen Auftrag, zu einem manchmal regressiven Sehnsuchtsbegriff und zugleich zu einem unlösbaren Problem: Welche Sicherheit? Wie viel Sicherheit? Sicherheit für wen? Sicherheit vor wem?
[1] Abraham Maslow (1954): Motivation and Personality. New York: Harper and Brothers. (Dt. Ausgabe: Motivation und Persönlichkeit. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 12. Aufl. 1981.)
[2] Wilhelm Heitmeyer (2012): Deutsche Zustände. Folge 10. Berlin: Suhrkamp.