Regina Ammicht-Quinn – « Ein feste Burg ist unser Gott »

6. Gute Sicherheit herstellen

Das bedeutet: Es müssen ‚no-go-areas‘ für jedes Sicherheitshandeln markiert werden. Hier ist Kants kategorischer Imperativ hilfreich: Dort, wo Folter als ‚Rettungsfolter‘ verstanden wird; dort, wo ohne Anlass und Verdacht personenbezogene Daten über eine Vielzahl von Menschen aus deren unterschiedlichsten Lebensbereichen gesammelt und verknüpft werden; dort, wo um der Sicherheit willen die intimsten Bereiche mancher Menschen offengelegt werden; dort, wo nicht gefährliche, aber unangenehme Menschen exkludiert werden, damit andere sich sicherer fühlen – überall dort werden Menschen als Mittel zum Zweck benutzt. Überall dort kann eine solche Handlung nicht moralisch richtig sein. 

Im Herstellen von Sicherheit aber gibt es weit mehr Grauzonen und Ambivalenzen, bei denen wir mit kategorischen Normen nicht weiterkommen. Wir brauchen nicht nur einen kategorischen Imperativ, sondern auch einen „pragmatischen Imperativ“, der kein technisch-instrumenteller, sondern ein auf Moral, auch in ihren je kulturspezifischen Ausformungen, bezogener Imperativ ist. Damit kommt also die Klugheit ins Spiel.

In der europäischen Kunstgeschichte erscheint die Klugheit immer wieder als Figur an der Schnittstelle von „oben“ und „unten“; sie ist auch die Gestalt mit zwei Gesichtern, deren eines nach unten, deren anderes nach oben schaut. Damit wird sie als diejenige Tugend gezeigt, die die moralischen Ideale aus dem „Himmel“ auf die „Erde“ bringt. Die Klugheit ist die Tugend der Konkretheit und der Perspektivität. Sie erfasst die konkreten Umstände in ihrer Besonderheit, das menschliche Leben mit seinen Grauzonen und Ambivalenzen, in seiner Endlichkeit.

Solche pragmatischen Imperative sind keine strengen Handlungsanweisungen wie stark normative Aussagen, sondern Empfehlungen und Hinweise zur Entscheidungsfindung. Ihnen haftet etwas Provisorisches an, denn sie gehen davon aus, dass es im Konkreten nicht ein „ein für allemal“ und auch nicht ein „für alle ein für allemal“[1] gibt. Ihr Ausgangspunkt ist der Versuch, Subjekt und Welt, Affekt und Vernunft nicht grundsätzlich getrennt, sondern in der Selbstorientierung des Subjekts verbunden zu sehen, dort, wo ein Mensch einen Richtungssinn für das Leben entwickelt, der das Leben als Ganzes, auch in seiner Endlichkeit in den Blick nimmt: „Es ist die Endlichkeit, die eine Person dazu macht, was sie ‚eigentlich‘ ist“[2].

Diese Sicherheit, die durch Klugheit erworben wird, ist keine Sekurität – denn das Streben nach Sekurität führt dazu, sich ständig neu und besser versichern zu müssen. Der Klugheit geht es um eine Sicherheit, „die sich der Angst und Sorge um die personale Existenz stellt und ihr nicht ausweicht“[3]. Sicherheit ist dann nicht Sekurität, die uns so unverletzbar wie möglich macht, sondern Certitudo, die uns als Verletzbare so sicher wie möglich hält.


[1] Andreas Luckner (2005): Klugheit. Berlin/New York: de Gruyter, 168.

[2] Ebd., 170.

[3] Ebd., 172.


7. Religion als Anleitung zur Verunsicherungskompetenz 

Wir alle brauchen ein Grundmaß an Sicherheit, um in unserem Leben Handlungen planen, Kultur entwickeln, Gerechtigkeit verstärken und uns an Kindern freuen zu können. Zugleich aber brauchen wir genauso Unsicherheit in unserem Leben. 

Zygmunt Bauman beschrieb kurz vor seinem Tod die „Kardinalsünde“, die Migrant_innen in den Augen „Einheimischer“ begehen:

„Ihre Kardinalsünde, ihr unverzeihliches Vergehen besteht darin, ein Quell mentaler und praktischer Ratlosigkeit zu sein, die ihrerseits aus der Verunsicherung durch ihre mangelnde Verständlichkeit und Kategorisierbarkeit folgt (Verstehen bedeutet laut Wittgenstein bekanntlich, „jetzt weiß ich weiter“ sagen zu können).“[3]

Es ist also „unsere“ Unsicherheit, die „wir“ den „Anderen“ nicht verzeihen. Es ist schwer, vielleicht sogar unmöglich, die antike securitas, die Seelenruhe und Unerschütterlichkeit, in moderne, verflüssigte Leben zu übertragen – zu komplex, zu schnell, zu unübersichtlich sind diese Leben geworden. Die Komplexität, Schnelligkeit und Unübersichtlichkeit selbst erzeugt schon Unsicherheit. Wird sie gesteigert durch all diejenigen, die „anders“ sind, kann diese grundlegende Unsicherheit mit dem Herabwürdigen oder dem Ausschluss dieser jeweils „Anderen“ bearbeitet werden. Gerade in Kontexten des Glaubens kann Sicherheit anderes gedeutet werden: Die Zusicherung eines grundlegenden Angenommenseins jedes Menschen macht frei. Sie macht frei dazu, sich verunsichern zu lassen, und aus dieser Verunsicherung Menschlichkeit zu lernen. Es ist nicht nötig, dem Fremden, Neuen oder Anderen mit Angst oder Ausgrenzung zu begegnen. Und damit ist es Zeit, Religion als Anleitung zur Verunsicherungskompetenz zu verstehen. Diese Verunsicherungskompetenz beruht nicht auf einer antiken securitas, aber auf einer certitudo, einer Gewissheit und einem grundlegenden Vertrauen. Das ist die Ausrüstung, um gegen Sicherheit, die durch die Unsicherheit anderer erkauft ist, vorzugehen und um zu erkennen, dass wir uns nicht immer mehr versichern müssen, sondern leben können.


[3] Zygmunt Bauman (2017): Symptome auf ihrer Suche nach ihrem Namen und ihrem Ursprung, in: H. Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin: Suhrkamp, 37-56, 37.


Autor

Regina Ammicht-Quinn promovierte mit einer Dissertation über Fragen der Theodizee und erhielt seine Professur mit einer Dissertation über das Verhältnis von Theologie und Geschlecht. Nachdem ihr das kirchliche nihil obstat zur Lehre der katholischen Theologie an deutschen Universitäten verweigert worden war, wurde sie Dozentin für theologische Ethik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen.

Leave a Reply