Erny Gillen – « Menschliche Sicherheit ethisch aufladen »

Der MSK im Spannungsfeld von Einheit und Konflikt

Der zweite Leitsatz von Franziskus erhellt das Phänomen der menschlichen Sicherheit im Spannungszusammenhang mit der Freiheit von einer weiteren Seite. “Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt” (EG 226). Wiederum geht es um eine Spannung, die nicht aufgelöst werden kann. Die Einheit und die Integrität sind ein Ziel, das auch die Bestrebungen um die menschliche Sicherheit verfolgen. Analytisch betrachtet ist die Einheit ein Ruhezustand, in dem vorherige Konflikte für alle Betroffenen erträglich ausbalanciert sind. Neue und alte Konflikte legen die Bruch- und Nahtstellen immer wieder frei. Sie sind in einem gewissen Sinn die „Ur-Sprünge“ der Einheit. Das Franziskus-Prinzip zielt genau in diese Richtung: es geht darum, die Konflikte und deren Potential für eine bewegte und bewegliche Einheit zu nutzen. Eine festgefahrene Einheit grenzt aus und wird zu einem zeitlosen Raum der aktuell Herrschenden. Eine offene Einheit hingegen lotet ihr eigenes Wachstumspotential an den Rändern und in den Konflikten aus.

Achmed und Hussein ließen sich beide von einem Konflikt antreiben und verloren ihre Einheit als Familie und Person. Die hier als Aktionsfeld verstandene Einheit hätte beiden Alternativen eröffnet. Im Handlungsmodus des Konfliktes verliert Achmed seine Familie und Hussein sein Leben. Der losgelöste Konflikt fördert genauso wie die monolithische Einheit den alternativlosen Tunnelblick. 

Für den politischen Umgang mit dem MSK unter diesem zweiten Leitsatz von Franziskus heißt dies im Feld der Migration, auf die offene Einheit und die bewegte Integration zu setzen. Es geht um die Klugheit, den wichtigen Konflikten nicht auszuweichen und sich nicht in ihnen festzufahren, sondern sie für eine größere und immer wieder neu zu gestaltende Einheit zu nutzen.

Dies bestätigt die Präferenz für einen transformativen Werte-Ansatz gegenüber einem starr, normativen Zugang. Einheit und Konflikt sind innerlich verbundene Handlungsfelder. Dort, wo es gelingt, ihren Zusammenhang offen zu legen, verändern beide ihr undurchdringliches Gesicht und werden aufeinander hin transparent. Die totale Einheit und der totale Konflikt zerstören nicht nur die eigene Seite, sondern auch die Gegenseite. Aus Angst vor der Übermacht des einen oder anderen Pols dieses Gegensatzpaares ziehen viele es vor, im Modus eines Gleichgewichts des Schreckens zu bleiben und sich ergo überhaupt nicht zu bewegen. Diese unbewegliche Mitte, die alle Kräfte lähmt, ist genauso zerstörerisch, wie die eben genannten beiden extremen Positionen, die Einheit und Konflikt als Entweder-Oder-Optionen verstehen.

Beleuchtet man die menschliche Sicherheit unter diesem Aspekt, bekommen die Konflikte und Ängste der zu schützenden Menschen eine andere Dynamik. Welcher Einheit dienen sie in der Person, in einer Gesellschaft, Gruppe oder Gemeinschaft? Das Prinzip, wie hier von Franziskus ausformuliert, macht vor allem deutlich, dass die menschliche Sicherheit keine rein individuelle Angelegenheit ist. Individualistisch verkürzt führt es Achmed und Hussein in die selbstbezogene Einsamkeit.

Der MSK im Spannungsfeld von Wirklichkeit und Idee

Für die meisten Diskussionen sorgt aktuell der Satz von Franziskus, mit dem er die historisch gewachsenen Hierarchien und das mit ihnen verbundene Herrschaftsverhältnis auf die Füße stellt: „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee“ (EG, 231). In der Kirche rückt damit die Wirklichkeit der Gläubigen, die Wirklichkeit des Volkes Gottes, gegenüber den Ideen der Verwalter kirchlicher Machtergreifungen an die erste Stelle. Die Ideen der Moralisten und deren linear unkritische pastorale Übersetzungen, mit denen das Volk und die einzelne Person (bis in den Beichtstuhl hinein) bisweilen verfolgt und geistig gefoltert werden, sind an der Wirklichkeit des gelebten Glaubens und einer selbstverantworteten Moral zu messen — und nicht umgekehrt. Das Gesetz steht im Dienst der Wirklichkeit und der menschlichen Sicherheit. Damit kommt im pastoralen Handeln der Kirche die jesuanische Wende heilsgeschichtlich wieder zum Tragen. Das, was manchen wiederverheiratet Geschiedenen aus ideellen Gründen angetan wurde und wird, ist ungerecht und unbarmherzig, weil die Gewalt der kirchlichen Behörde an der Wirklichkeit vorbei den eigenen Zweck über das Heil und die menschliche Sicherheit der Personen stellt. 

Doch, der Satz von Franziskus ist nicht nur in der Kirche heiß umstritten. „Wir können doch nicht das Elend der ganzen Welt bei uns aufnehmen“, heißt es so und ähnlich aus den Mündern der Politiker und staatlichen Behörden, die ihre Idee vom Rechtsstaat auf ihr Territorium und die dort verwalteten Bürger reduzieren. Die Sicherheit des Menschen wird zu einer Frage der Geographie und der administrativen Zuständigkeit.

An den Grenzzäunen wird humanitäres Niemandsland trockengelegt, um die Menschen, die Sicherheit für sich und ihre Familien suchen, mit der harten Realität zu konfrontieren, dass die Sicherheit des Landes wichtiger ist, als die Sicherheit der Person, da, so die sophistische Argumentation, das entsprechende Land nur ausgewählten oder eingeborenen Personen Sicherheit gewähren könne. Achmed und Hussein kennen diese Argumentation aus ihrer Heimat nur allzu gut. Der Staat schützt nur die Auserwählten. Rechtsstaatlichkeit ist ein Bürgerrecht, aber kein Menschenrecht. Rechtsstaatlichkeit wird zum Privileg und öffnet so Tür und Tor für die Menschenhändler und Menschenverwalter, die Pseudo-Sicherheit auf ihren Booten und in ihren Einzelzimmern anbieten.

Die Wirklichkeit, um die es im Satz von Franziskus geht, ist nicht einfach die Natur oder das Naturgegebene. Es geht vielmehr um die menschengemachte Kultur und Symbolik. Idee und Wirklichkeit des von den Vereinten Nationen geschaffenen MSK lassen den gemeinschaftlichen Anteil menschlicher Sicherheit genauso aus dem Blick, wie den territorialen. Der erste liegt im Verantwortungsbereich des Individuums, der zweite beim Nationalstaat. Der Mensch wird als eine sich selbst genügende Monade verstanden. Unter dieser Rücksicht haben Achmed und Hussein erwartungsgemäß und normkonform gehandelt. Jeder hat für sich geschaut: der eine indem er seine Familie verlor, der andere indem er sich selber aufgab.

Der verkürzte MSK wird in der Politik vielleicht auch deswegen so wenig aufgegriffen, weil er, typisch für internationale Gebilde, politisch steril gemacht wurde. Auch ethisch eignet sich der Begriff nicht als Kriterium, weil er die zu schützende personale Wirklichkeit der einzelnen Menschen nicht positiv, sondern negativ beschreibt. Im Spannungsverhältnis von Idee und Wirklichkeit verblasst der Begriff als operatives Kriterium und ist nicht in der Lage, die unterschiedlichen Situationen von Achmed und Hussein zu erkennen.

Zieht man beispielsweise die Definition der Ethik von Paul Ricoeur zu Hilfe, wird das konzeptuelle Defizit des MSK sichtbar: Ricoeur hält fest, dass es darum geht, “gut zu leben mit dem Anderen und für ihn in gerechten Institutionen“[1].Die fehlenden Aspekte im MSK werden sichtbar: Selbstreflexion, die diskursive Verbundenheit mit anderen Menschen und gerechte Institutionen. 

Ginge man von diesem (oder einem anderen) Konzept einer aufgeklärten Ethik aus, dann gewänne der MSK eine akut aktuelle Bedeutung. In der Selbstreflexion als Spannung zwischen dem Ich und dem Selbst wird dem einzelnen Menschen deutlich, dass seine Ängste und Nöte keine absoluten Fluchtursachen sind, sondern auch positive Anreize enthalten, die ihn in die Bewegung bringen. Die anderen Menschen, um die handelnde Person herum, werden zu Mithandelnden und beteiligten Gegenübern, die in das persönliche Glückskalkül einbezogen sind. Erst gerechte Institutionen schaffen einen sinnvollen Rahmen für das Aushandeln von möglichen Optionen und entsprechenden Entscheidungen. Wenn eine ethische Entscheidung diese dreifache Offenheit berücksichtigt, entgeht sie dem Verdacht des puren Egoismus oder Utilitarismus.

Dieser oder anders unterfütterte ethische Zugänge zum MSK könnten den Begriff rehabilitieren und fruchtbar für die politische Aktion machen. Unter einem ethisch aufgeklärten Begriff des MSK wären die Handlungen von Achmed und Hussein moralisch denn auch je anders zu bewerten. Um der Menschen willen lohnt es sich, den Begriff der MSK neu aufzugreifen und zu vertiefen. Gerade in der digitalen Revolution wird es für immer mehr Menschen darauf ankommen, keine Entweder-Oder-Situationen zu schaffen.


[1] Paul Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, 2. Auflage, Wilhelm Fink Verlag: München, 2005, 397. 

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