3. Non gradu, sed essentia: Die wesensmäßige Andersheit klerikaler Männlichkeit
Kleriker unterscheiden sich von Laien durch die Weihe. Dieser Unterschied ist in der offiziellen Lehre der katholischen Kirche keine bloße Differenz des gesellschaftlichen Status, sondern eine essentielle im wahrsten Sinn des Wortes: ‘essentia et non gradu tantum’ (dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach),[12] lautet die bis heute gültige Formel, welche Kleriker zu anderen Menschen macht. Oder besser gesagt zu anderen Männern, denn die Weihe ist bis heute an ein Geschlecht, eben das männliche, gebunden. Die Formulierung, insbesondere in ihrer lateinischen Fassung, lässt erkennen, dass der Kleriker als systematisch-theologische Konstruktion in eine lange vergangene Phase der Philosophie- und Theologiegeschichte zurückreicht, als die Rede von esse et essentia zentraler Bestandteil jedweder Weltdeutung war. Die wesenhafte Veränderung gründet im Sakrament, dessen Wirkung auf Dauer ausgelegt ist (character indelebilis). Was für alle Sakramente gilt, führt allerdings beim Weihesakrament dazu, dass die Zugehörigkeit zu einem Stand bzw. moderner formuliert einer Berufsgruppe einen metaphysischen Charakter erhält. Der Kleriker ist nicht nur in seinen konkreten dienstlichen Vollzügen, sondern als ganzer und für immer ein anderes männliches Wesen als alle anderen Männer. Zu diesen metaphysischen Aspekten klerikaler Männlichkeit gehört schließlich noch die repraesentatio Christi.[13] Hierfür ist das Geschlecht, anders als für das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, konstitutiv, wie in jenen lehramtlichen Dokumenten, die der Priesterweihe für Frauen eine Absage erteilen, immer betont wird.[14] Die Männlichkeit Jesu und der von ihm berufenen Apostel wird als wesentlich im Sinn eines durch das Geschlecht unterschiedlichen Wesens betont und für die besondere repraesentatio im ‘Amtspriestertum’, wie es dann in Lumen gentium heißt, als Voraussetzung betrachtet.
Der Priester ist heute zum Synonym für den klerikalen Mann und seine wesenhafte Differenz geworden; andere rechtliche Formen wie etwa Ordensbrüder ohne Priesterweihe oder ständige (oft verheiratete) Diakone werden in der allgemeinen Wahrnehmung kaum mehr mit dem Begriff des Klerikers in Verbindung gebracht. Die erkennbare und betonte Besonderheit des Klerikers scheint ihnen zu fehlen. Diese klerikale Andersheit wurde und wird durch eine Andersheit der lebensweltlichen Umstände unterstrichen: Bereits am Ausgang der Antike führen die meisten Kleriker ein gemeinschaftliches Zusammenleben an Bischofsitzen, in Klöstern oder an christlichen Heiligtümern.[15] Dieses Zusammenleben von Männern geht aus mehreren Gründen über die nicht unüblichen philosophischen Neigungsgruppen, wie wir sie seit Platon kennen, hinaus: Der Status des Klerikers war, einmal gewonnen, nicht mehr rückgängig zu machen, er bedeutete die Einbindung in die kirchliche Struktur und damit deren Verfügungsgewalt, und diese Männer waren zur sexuellen Enthaltsamkeit verpflichtet. Klerikale Männlichkeit war in der Regel also auch eine Form von kollektiver Männlichkeit. Selbst da, wo kein gemeinschaftliches Leben stattfand und stattfindet, beim Weltpriester, wie er nach dem Tridentinischen Konzil konzipiert wurde, wird auf eine Formung dieser klerikalen Männlichkeit im Seminar oder gar noch davor im Knabenseminar Wert gelegt und der verbindende Charakter des besonderen Lebensstils betont.
Geschlecht wurde und wird wesentlich über den performativen Körper, sprich Kleidung, Frisur, ja Habitus generell, konstruiert. Das gilt auch für klerikale Männlichkeit. Sie war über Jahrhunderte ‘auf den Leib’ geschrieben: Die Tonsur, ursprünglich Zeichen der Unfreiheit und Buße, wurde zum Erkennungsmerkmal des Klerikers selbst der niedersten Weihen und verlor erst im 20. Jahrhundert offiziell ihre Gültigkeit.[16] Die Diskussion darüber, ob die Besonderheit des klerikalen Gewandes nun eine des Reichtums oder der Armut sein soll, ist spätestens seit Franziskus von Assisi allgemein bekannt. Die Kleidung spielt bis heute als ikonisches Erkennungsmerkmal eine zentrale Rolle, wobei sich in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung der Gegenwart die Kutte als Kleidung des Mönchs (egal, ob es sich tatsächlich um Mönche oder Religiosen handelt) und die schwarze Soutane oder zumindest der schwarze Anzug, immer aber der weiße Kollar als Merkmal des Weltpriesters etabliert haben.[17] Hinzukommen violette oder rote Prunkkleider bei Bischöfen und Kardinälen.
Die augenfälligste Besonderheit klerikaler Maskulinität ist jedoch die Betonung einer eindeutig heterosexuellen Männlichkeit bei gleichzeitigem Verzicht auf die Umsetzung dieser männlichen Heterosexualität. Was sich historisch, siehe oben, aus bestimmten Ideen und Einflüssen, aber auch strukturellen Pragmatiken erklären lässt, bedeutet auf systematischer und psychologischer Ebene eine permanente Paradoxie. Klerikale Männlichkeit ist keine alternative Form von Maskulinität in dem Sinn, dass sie sich traditioneller Heteronormativität entzöge, sie ist vielmehr deren Überhöhung auf einer ontologischen Ebene durch Negation der sexuellen Aktivität. Die Diskussionen, ob Männer mit homosexueller Neigung zum Priester geweiht werden dürfen,[18] machen genau diese Sonderkonstruktion klerikaler Männlichkeit deutlich. Es geht nicht einfach darum, auf gelebte Sexualität zu verzichten, was ja jede Orientierung beträfe. Es geht darum, die ebenfalls ontologisch festgeschriebene heterosexuelle Männlichkeit zu transzendieren. Der Kampf gegen jede Form von kultureller und historischer Dekonstruktion der Geschlechter(rollen), wie er aus den jüngsten lehramtlichen Schreiben gegen die ‘Genderideologie’ spricht,[19] offenbart die sehr spezielle klerikale Spielart verunsicherter Männlichkeit in der Postmoderne: Wenn Geschlecht eine fluide, von sozialen und historischen Faktoren beeinflusste Größe ist, könnte dann klerikale Männlichkeit nicht auch eine von vielen alternativen Interpretationen von Männlichkeit sein, die sich diesen Faktoren verdankt und nicht in einer 2000 Jahre alte Wesensdifferenz begründet ist?
[12] Lumen Gentium 10, zitiert nach Heinrich Denzinger und Peter Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 45. Auflage, Freiburg: Herder, 2017, S. 1104.
[13] Lumen Gentium 10.
[14] Vgl. Inter insigniores, zitiert nach Heinrich Denzinger und Peter Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 45. Auflage, Freiburg: Herder, 2017, S. 1297–1979. und Ordinatio sacerdotalis, zitiert nach Heinrich Denzinger und Peter Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 45. Auflage, Freiburg: Herder, 2017, S. 1413–1415.
[15] Vgl. Brown, Der Schatz im Himmel, mit den Beispielen Paulinus von Nola, S. 321–366 und Augustinus, S. 255–270.
[16] Vgl. Hubertus Lutterbach, ‘Art. Tonsur’, in Lexikon für Theologie und Kirche, Band 10, 3. Auflage, Freiburg: Herder, 2006, 107–108.
[17] Theresia Heimerl and Lisa Kienzl, ‘Kirchentreuer Humor: Priester in Komödien’, in Theresia Heimerl und Lisa Kienzl (Hg.), Helden in Schwarz: Priester in Film und TV, Marburg: Schüren, 2014, S. 138–141.
[18] Vgl. Instruktion über die Kriterien zur Berufungserklärung von Personen mit homosexuellen Tendenzen im Hinblick auf die Zulassung für das Priesteramt und zu den heiligen Weihen, zitiert nach Heinrich Denzinger und Peter Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 45. Auflage, Freiburg: Herder, 2017, S. 1490–1491.
[19] Vgl. https://zenit.org/articles/new-vatican-document-provides-schools-with-guidance-on-gender-issues/.