3. Ein inklusiv-performatives Modell politisch-öffentlicher Theologie und Kirche: Papst Franziskus
Offenbar nimmt der derzeitige Papst die Rolle einer politisch-öffentlichen Figur – aus dem christlichen Glauben heraus – an.[19] Gegen jegliche liberalistische Vorstellung, Religion sei bloße Privatsache, fordert Franziskus die Partizipation von Religionsgemeinschaften an (politischer) Öffentlichkeit ein: „Folglich kann niemand von uns verlangen, dass wir die Religion in das vertrauliche Innenleben der Menschen verbannen, ohne jeglichen Einfluss auf das soziale und nationale Geschehen, ohne uns um das Wohl der Institutionen der menschlichen Gemeinschaft zu kümmern […].“[20] Durchaus in Anlehnung an das diskursive Modell von Öffentlichkeit bestimmt Franziskus als Ort solch gesellschaftspolitischen Engagements aus dem Glauben die Zivilgesellschaft. So lädt er, „vermittelt über den päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, soziale Bewegungen aus aller Welt [ein] […], [vor denen er] nicht nur ein Grußwort spricht, sondern eine längere programmatische Ansprache hält und sich ihre Anliegen anhört“[21]. Die Besonderheit der politisch-öffentlichen Theologie Franziskus’ kann jedoch gerade in den mit Fraser und Alexander stark gemachten sozioökonomischen und performativen Dimensionen erblickt werden:
3.1. Sozioökonomische Dimension: Option für die Armen
Die von Fraser in Blick genommenen sozioökonomischen Bedingungen, die zur öffentlichen Deliberation, Partizipation und letztlich zur funktionierenden Demokratie gehören, haben einen starken Bezug zu Franziskus’ Neukonturierung der (befreiungstheologisch ausformulierten) Option für die Armen.[22] So stellt er die zunächst „materiell“ ansetzende Option für die Armen in den dezidierten Kontext sozialer Inklusion und politischer Partizipation. In seiner Programmschrift Evangelii Gaudium paraphrasiert er die Option für die Armen in inklusivistischer Stoßrichtung als „Option für die Letzten, für die, welche die Gesellschaft aussondert und wegwirft“ (EG 195). Für den Fundamentaltheologen Jürgen Werbick ist Franziskus’ zentrale soziale Matrix aus Ausschließung/Exklusion und Einschließung/Einbeziehung der hermeneutische Schlüssel, um sein pastorales und theologisches Programm in seiner Tiefenstruktur zu verstehen: Franziskus „kommt immer wieder auf diesen zentralen Gedanken zurück, der wie ein Leitmotiv über seinem Sprechen von Gott steht: Gott ist und will Einbeziehung. Er wirkt sie in und an den Menschen; mit ihnen will er die Einbeziehung der Ausgeschlossenen und Marginalisierten wirken, damit alle an der Fülle des Lebens Anteil haben“[23]. Mit seiner Interpretation der Option für die Armen im Horizont gesellschaftlicher Inklusion stellt Franziskus – ganz im Sinne Frasers – einen Zusammenhang zwischen materiellen Ressourcen und demokratischer Beteiligung her. Gerade in der (oben erwähnten) zivilgesellschaftlichen Initiative, dem regelmäßigen Empfang sozialer Bewegungen, adressiert Franziskus die Armen, die materiell Marginalisierten als Subjekte und nicht bloß Objekte von Politik: „Ihr seid gekommen, um vor Gott, vor der Kirche, vor den Völkern eine Realität anzusprechen, die oft verschwiegen wird: Die Armen erleiden das Unrecht nicht nur, sondern bekämpfen es auch! […] Wir wollen, dass eure Stimme gehört werde. […] [Ohne] eure Mitwirkung, ohne tatsächlich an die Peripherien zu gehen, bewegen sich alle guten Vorschläge und Projekte, von denen wir oft auf internationalen Konferenzen hören, nur im Reich der Ideen, bleibt es nur ein Projekt.“[24] In der Denkart von Franziskus hängen die sozioökonomische Option für die Armen, die soziale Inklusion und die politische Beteiligung Marginalisierter als Akteure der Politik zusammen. „Aus der Eingliederung der Ausgeschlossenen in den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft erwachse ein moralischer Energieschub, der zu entsprechenden (d.h. nicht nur formal-)demokratischen Strukturen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene animiere.“[25]
3.2. Performative Dimension: Symbolkommunikation
Lässt sich in Franziskus’ inklusivistisch und demokratisch-partizipativ interpretierter Option für die Armen die Fraser’sche Verbindung von sozioökonomischen Bedingungen und Chancen zur Beteiligung entdecken, so ist die von Alexander stark gemachte performative Ebene politischer Öffentlichkeit ebenfalls von zentraler Bedeutung, um die spezifische Art politisch-öffentlicher Theologie und Kirche, für die Papst Franziskus steht, nachzuvollziehen. Ohne Zweifel gehört die ausgeprägte Symbolkommunikation zu den herausragenden Kennzeichen dieses Pontifikats. Franziskus’ Vision umfassender, ökonomischer, sozialer und politischer, Inklusion wird in viel beachteten Symbolen zum Ausdruck gebracht: durch die Solidarität mit den Armen anzeigende Bescheidenheit, durch seinen Besuch bei den Geflüchteten auf Lampedusa gleich zu Beginn des Pontifikats, durch die liturgisch aufgeladene Fußwaschung an Gefangenen, den Sinnbildern von Exklusion, an jedem Gründonnerstag.[26]
Dass Franziskus’ performative Art, seine Botschaften zu kommunizieren, tatsächlich öffentliche Resonanz erfährt, zeigt sich in dem positiv aufgenommenen Film Ein Mann seines Wortes des Regisseurs Wim Wenders aus dem Jahr 2018.[27] Wenders ging es nicht darum, einen Film über den Menschen Jorge Mario Bergoglio/Papst Franziskus zu drehen. Vielmehr wollte er dessen zentrale Botschaft in Szene setzen.[28] Wenders inszenatorisches Mittel dazu war es, den Papst direkt in die Kamera, also „direkt an die Zuschauer“ gewandt, „Auge in Auge mit der ganzen Welt“[29] seine Botschaft sprechen zu lassen. Diese inszenierte Verschränkung von Botschaft und „Medium“, nämlich die Person Bergoglio/Franziskus selbst, unterstreicht Wenders Filmtitel „Ein Mann seines Wortes“: „Genau das ist Papst Franziskus für mich – einer der zu seinem Wort steht, der das lebt, was er predigt.“[30] Kongruent zu Franziskus’ Kommunikationsstil, seine Botschaft in persönlichen Gesten zum Ausdruck zu bringen, geht es auch Wenders um eine (des Papstes) inhaltliche Botschaft, die er jedoch im performativen Medium der Bilder transportiert: Der Film kann „dazu beitragen, die Bilder zu verändern, die wir in uns tragen, und die Art, wie wir die Welt betrachten.“ Der Zuschauer „kann beflügelt sein, neue Bilder von einer besseren Welt zu finden“.[31]
4. Schluss: Politische Nachtgebete heute
Die „Politischen Nachtgebete“ sind zurück, in unserer Zeit und in unseren Gesellschaften. Menschen beteten etwa unter diesem Titel parallel zum AFD-Parteitag in Köln 2017 für die Demokratie.[32] Im Januar 2019 fand beispielsweise in Salzburg ein „Interreligiöses Politisches Nachtgebet“ statt.[33] In Linz, ebenfalls in Österreich, fand bereits im Dezember 2018 ein erstes Politisches Gebet unter dem Motto „Gemeinsam für Demokratie und Menschlichkeit“ statt, bei dem Solidarität mit Geflüchteten zusammengebracht wurde mit Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Absicherung.[34] Die Politischen Nachtgebete verbinden somit die Perspektiven der kulturellen und der materiellen Solidarität, die beide Grundlagen für eine offene, demokratische Gesellschaft darstellen. Im Rahmen solch liturgischer Formen wird diese Solidarität jedoch nicht nur diskursiv gefordert, sondern gewissermaßen auch performt, dargestellt und umgesetzt, etwa in der ökumenischen und interreligiösen Ausrichtung der Veranstaltungen. Die Politischen Nachtgebete zeigen an und realisieren, wofür sie stehen: Einigkeit trotz Unterschiedlichkeit. Und sie bringen diesen Inhalt und diese Inszenierung mit den Grundlagen christlichen Glaubens zusammen.
Die Politischen Nachtgebete sind also zurück. Mit Blick auf die Bedeutung eines sozioökonomisch-partizipativen Öffentlichkeitsverständnisses (im Sinne Frasers) und eines performativen Öffentlichkeitsverständnisses (im Sinne Alexanders) ist das deskriptiv erklärbar; in der Spur von Franziskus’ politisch-öffentlicher Option für die Armen, die er mit (Glaubens-)Symbolen zu verbinden und zu kommunizieren weiß, ist dies auch theologisch begrüßenswert.
[19] Die theologische Literatur zum derzeitigen Papst ist bereits umfangreich, vgl. etwa das facettenreiche Themenheft „Phänomen Franziskus“: Theologisch-praktische Quartalschrift 163/1 (2015), das u.a. auch auf die Öffentlichkeitswirkung von Papst Franziskus eingeht. Zum politisch-sozialen Profil von Franziskus vgl. Norbert Mette, Nicht gleichgültig bleiben! Die soziale Botschaft von Papst Franziskus, Ostfildern 2017.
[20] Franziskus, Die Freude des Evangeliums. Das Apostolische Schreiben „Evangelii gaudium“ über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Freiburg 2013 (=EG), Nr. 183.
[21] Mette, Nicht gleichgültig bleiben!, 94.
[22] Vgl. Ansgar Kreutzer, Option für die Armen. Theologische Sensibilität für Ausgeschlossene, in: Ders., Politische Theologie für heute. Aktualisierungen und Konkretionen eines theologischen Programms, Freiburg 2017, 144–162.
[23] Jürgen Werbick, Kleine Gotteslehre im Dialog mit Papst Franziskus, Freiburg 2018, 18.
[24] Franziskus beim ersten Welttreffen mit sozialen Bewegungen 2014 in Rom, zit. n. Mette, Nicht gleichgültig bleiben! 94f.
[25] Mette, Nicht gleichgültig bleiben!, 96.
[26] Vgl. zur Symbolsensibilität Franziskus’: Kreutzer, Option für die Armen, 151. 158.
[27] Vgl. Wim Wenders, Papst Franziskus. Ein Mann seines Wortes. Transkript des Films, Hamburg 2018 (Booklet zur DVD).
[28] Vgl. das Interview, das Wenders zu seinen Intentionen gegeben hat, und das ebenfalls in dem der DVD beigelegten Booklet zu finden ist: ebd., 40–48.
[29] Ebd., 43. 42.
[30] Ebd., 44.
[31] Ebd., 47.
[32]Vgl. https://www.domradio.de/themen/kirche-und-politik/2017-04-22/christen-setzen-politisches-nachtgebet-gegen-afd-parteitag (Stand: 31.10.19).
[33] Vgl. https://www.facebook.com/PolitischesNachtgebetSalzburg (Stand: 31.10.19).
[34] Vgl. http://www.dioezese-linz.at/politisches-gebet-gemeinsam-fuer-demokratie-und-menschlichkeit (Stand: 31.10.19).
Author
Ansgar Kreutzer, Studien der Katholischen Theologie, der Soziologie und der Philosophie der Religion in Freiburg/Br., Paris und Frankfurt/M., 2011–2017 Professor für Fundamentaltheologie und Leiter der neu gegründeten Abteilung für Religionswissenschaft an der Katholischen Privat-Universität Linz, seit 2017 Professor für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils; Theologie der Kenosis; Politische Theologien.