« Erscheinungsformen und Reichweite der Barmherzigkeit Gottes im Koran »

by Rotraud Wielandt


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Einführung

Die Barmherzigkeit ist zweifellos einer der wichtigsten Züge des koranischen Gottesbildes. Ihr Stellenwertlässt sich bereits daran ablesen, wie dessen Text beginnt: Vers 1 von Sure 1[1], der Fātiḥa („Eröffnerin“), die ein kurzer Gebetstext ist, lautet „Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers (bi-smi llāhi r‑raḥmāni r‑raḥīm)“. Diese Formel, mit einem aus den Wurzelkonsonanten ihres Anfangs gebildeten arabischen Kunstwort Basmala genannt, ist auch allen weiteren Suren außer der neunten vorangestellt.

Im fortlaufenden Text des Koran ist mehr als 300mal von Barmherzigkeit die Rede, meist von derjenigen Gottes.[2] An diesen Stellen wird Gott bald „der Erbarmer“ (ar‑raḥmān) genannt oder als „barmherzig“ (raḥīm) bezeichnet, bald wird mit Bezug auf ihn das Substantiv „Barmherzigkeit“ (raḥma) verwendet, bald auch eine finite Form des Verbs „sich erbarmen“ (raḥima) benutztdie ihn zum Subjekt hat. Zweimal wird eine Selbstverpflichtung Gottes zur Barmherzigkeit erwähnt.[3] Der Sinngehalt des Begriffs der göttlichen Barmherzigkeit, die Vorstellungen von deren Erscheinungsformen und Reichweite und das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes im Koran sollen im folgenden näher untersucht werden, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Kontexte, in denen dort in der einen oder anderen Weise Gottes Barmherzigkeit zur Sprache kommt.

1. Grundbedeutung, Erscheinungsformen und Reichweite von Gottes Barmherzigkeit

Wie die Kontexte der zahlreichen entsprechenden Koranstellen zeigen, ist mit göttlicher Barmherzigkeit zunächst einmal ganz allgemeinein wohltuendes Handeln Gottes am Menschen gemeint, das diesem gibt, was er in der jeweils gegebenen Situation braucht und teils auch ersehnt, was er sich aber nicht selbst hätte verschaffen können. Sehr oft geht es dabei um Rettung aus oder Bewahrung vor Notlagen oder Gefahren, manchmal auch um Befreiung aus Lebenslagen, die – wie etwa die Kinderlosigkeit – aus sonstigen Gründen als besonders bedrückend empfunden werden. Bei Schilderung solcher barmherziger Gnadenerweise ist im Koran zwar nicht von einem Mitleid Gottes im wörtlichen Sinne eines Mit-leidens mit den Menschen die Rede; wohl aber wird immer wieder deutlich, dass Gottes Barmherzigkeit den Bedürfnissen der Menschen sehr genau und fürsorglich Rechnung trägt. Auch wenn Gott mit denen, derer er sich erbarmt, nicht mitleidet, will er offensichtlich nicht, dass sie leiden oder gar umkommen.

„Der Erbarmer“, ar-Raḥmān, ist im Koran ursprünglich ein Gottesname, und zwar einer mittelbar aramäischer Herkunft, mit dem eine bei Juden und Christen des vorislamischen Südarabien übliche Bezeichnung für den einen Gott übernommen wurde.[4] In der mittleren Phase von Muhammads Wirken in Mekka war ar‑Raḥmān sogar im Koran zeitweilig der häufigste Gottesname, bevor „Allāh“ zum Standard wurde. Muslimische Kommentatoren gehen jedoch seit alters her zumeist davon aus, dass das Wort raḥmān echt arabischen Ursprungs ist, und zwar ein arabisches Adjektiv, das im Prinzip ein Synonym von raḥīm „barmherzig“ darstellt. Den Unterschied zwischen raḥmān und raḥīm sehen sie lediglich darin, dass, wie sie annehmen, raḥmān einen höheren Intensitätsgrad von Barmherzigkeit ausdrückt als raḥīm und dass man dieses Wort anders als raḥīm nur Gott als Attribut beilegen oder von ihm aussagen kann, während es auf Menschen nicht anwendbar ist.[5]

Der Koran kennt drei Hauptformen der Barmherzigkeit Gottes, die allen Menschen zuteilwerdenoder zumindest zugedacht sind: die Barmherzigkeit, mit der Gott die gesamte Schöpfung zum Wohle der Menschen eingerichtet hat und mit der er diese auch weiterhin unablässig mit allem Lebensnotwendigen versorgt; die Barmherzigkeit der göttlichen „Rechtleitung“ (hudā) durch Offenbarungen, die er den Menschen im Verlauf der Geschichte immer wieder durch Propheten geschickt hat, um sie aus polytheistischen Verirrungen und Sittenverfall wieder auf den rechten Pfad zurückzuholen und  es ihnen so zu ermöglichen, sowohl innerweltlichen Strafgerichten als auch der Höllenstrafe zu entgehen; und schließlich die Barmherzigkeit, die in Gottes Bereitschaft zur Sündenvergebung liegt.

Zunächst zu Gott als barmherzigem Schöpfer und Versorger: Muslime würden Gott zwar nicht als ihren Vater ansprechen, aber nach koranischer und darum auch allgemein islamischer Vorstellung weist er dennoch Züge großer Fürsorglichkeit für die Menschen auf. Wie der Koran vielfältig schildert, hat er z. B. den wohltätigen Wechsel von Tag und Nacht geschaffen, damit die Menschen Ruhe finden, desgleichen Sonne, Mond und Gestirne, damit sie den Menschen als Zeitmaß und Orientierungshilfe dienen, weiter nützliche Pflanzen und Tiere, die ihnen Nahrung und Bekleidungsmaterial liefern, Wolken, aus denen es regnet, so dass Pflanzen wachsen und Tiere weiden können, usw.[6] Auf diese Weise hat Gottdie ganze Schöpfung den Menschen „dienstbar gemacht“.[7] Im Koran werden auch solche Hilfsmittel und Annehmlichkeiten menschlichen Lebens direkt auf die fürsorgliche Schöpfertätigkeit Gottes zurückgeführt, die man heutzutage gemeinhin als zivilisatorische Errungenschaften des Menschen betrachtet. So hat Gott nach dem Koran den Menschen beispielsweise Häuser undZelte gemacht, Schiffe, damit sie auf dem Meer umherfahren können, und Hemdenzum Schutz vor der Hitze[8] – unter den klimatischen Bedingungen der Arabischen Halbinsel ein besonderes Geschenk.

Das koranische Bild der Heilsgeschichte beruht auf der Grundannahme, dass der Islam die natürliche Religion der Menschheit ist, der auch schon Adam, Abraham und Mose anhingen, von der die verschiedensten Völker zwischenzeitlich aber immer wieder abfielen, indem sie Vielgötterei betrieben und gegen Gottes Gebote verstießen, und dass deshalb der größte Teil der  Menschheit unweigerlich der Strafe Gottes, spätestens beim Jüngsten Gericht der Höllenstrafe, verfallen wäre, wenn Gott die Menschen nicht aus reiner Barmherzigkeit immer wieder an die Prinzipien des rechten Glaubens und Handelns erinnert hätte. Diese göttliche „Rechtleitung“ kulminierte nach dem Koran in der Prophetie Muhammads. Gegen Ende von dessen Verkündigung stellt sich diese so dar, dass er nicht nur als der letzte von allen Propheten, sondern im Gegensatz zu den früheren auch zu allen Menschen gesandt ist. In einer Anrede an Muhammad wird diese seine Sendung als „Barmherzigkeit für die Welten“ gekennzeichnet.[9] Einige weitere Stellen[10] charakterisieren die koranische Offenbarung als „Barmherzigkeit Gottes“.

Dem Aspekt der Sündenvergebung kommt im koranischen Konzept der göttlichen Barmherzigkeit besondere Bedeutung zu: Rund zwei Drittel der fast 120 Stellen, an denen Gott raḥīm,„barmherzig“, genannt wird, benutzen dieses Epitheton in unmittelbarer Verbindung mit immer demselben zweiten Adjektiv, nämlich ġafūr, „stets bereit, zu vergeben“. Zwei sehr ähnliche koranische Formulierungen heben die Größe der Barmherzigkeit Gottes besonders eindrücklich hervor: Die eine bezeichnet ihn als den „Barmherzigsten von allen, die sich erbarmen“, die andere charakterisiert ihn als den „Besten“ von allendiesen.[11] Bei beiden geht es um Sündenvergebung: Die erste steht Kontext einer Vergebungszusage, die zweite in dem einer Aufforderung dazu, Gott um Vergebung zu bitten.[12]

Nach koranischer und allgemein islamischer Anschauung vergibt Gott grundsätzlich fast alle begangenen Sünden, sofern der Mensch sich in seinem Erdenleben rechtzeitig zurtätigen Reue – koranisch gesprochen zur Umkehr (tawba) – entschließt. Die Vergebungsbereitschaft Gottes ist allerdings zeitlich und inhaltlich nicht unbegrenzt: Er akzeptiert Umkehr nur, solange der Sünder noch handlungsfähig ist, also prinzipiell noch weitersündigen könnte, nicht aber, wenn er bereits auf dem Sterbebett liegt.[13] Und eine einzige Sünde vergibt Gott nicht: die „Beigesellung“ (širk), d. h. die Verehrung anderer Götter neben Gott,[14] die mit der Verweigerung des Glaubens an die monotheistische Verkündigung Muhammads gleichbedeutend ist.

Juden und Christen stuft der Koran zwar nicht als originäre Polytheisten ein, aber doch als Ungläubige. Nach seiner Darstellung haben sie Gott nachträglich Teilhaber zugeschrieben, die Juden, indem sie ʿUzayr (Esra) zum Gottessohn erklärten,[15] die Christen mit ihrem Trinitätsglauben, Juden wie Christen außerdem dadurch, dass die einen sich ihre Rabbiner, die anderen ihre Mönche an Gottes Statt zu Herren nahmen.[16] Folglich haben nicht nur die altarabischen Heiden, sondern auch die Anhänger des Judentums und des Christentums für ihr Beharren auf ihren je eigenen Religionen keine Vergebung zu erwarten. Wenn sie sich nicht doch noch zum Islam bekehren,fallen sie im Jüngsten Gericht der ewigen Höllenstrafe anheim, wie das im Koran allen Ungläubigen angedroht ist. Die Möglichkeit, dass auch sie zum Heil gelangen könnten, kommt im Koran nicht in den Blick.


[1] Koranzitate folgen der Übersetzung von Rudi Paret, mit gelegentlich kleinen Veränderungenvon dessen Formulierungen zugunsten von mehr Wörtlichkeit oder besserer Lesbarkeit.

[2] Eine umfassende Zusammenstellung der Koranstellen, an denen von Gottes Barmherzigkeit die Rede ist, und einen systematisierten Überblick über sie bietet Rahbar 1960, S. 158‑171.

[3] In Vers 12 und 54 von Sure 6.

[4] Ryckmans 1964, S. 432‑36; Robin 2004, S. 840, 868-69, 891; s. auch Jomier 1957, S. 365-66, 376.

[5] S. z. B. ar‑Rāzī, Lawāmiʿ, S. 153‑155 (Übersetzung Gloton S. 289‑291); al‑Ġazālī, al‑Maqṣad S. 61‑62 (Übersetzung Burrel und Daher S. 54); dazu Gimaret 1988, S. 376-77. Ein bedenkenswerter Deutungsvorschlag für die auf den ersten Blick tautologisch wirkende Kombination „Der barmherzige Erbarmer“ findet sich bei Körner 2016, S. 253‑54. Jomier 1957, S. 362 bietet zusätzlichen Stoff für die Diskussion über ihren Hintergrund.

[6] S. z. B. Sure 2, 164; 6, 95-99; 16, 78‑83; 43, 10‑12.

[7] S. z. B. Sure 14, 32‑33; 16, 12; 31, 20; 45, 12‑13.

[8] S. z. B. Sure 16, 80‑81; Sure 43, 12.

[9] Sure 21, 107.

[10] S. z. B. Sure 7, 52; 12, 111; 16, 64.

[11] Sure 12, 93 und 23, 118.

[12] Sure 12, 1

[13] Sure 4, 18. 

[14] Sure 4, 48 und 116.

[15] Sure 9, 30. Der Hintergrund dieser Annahme ist ungeklärt. 

[16] Sure 9, 31.

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