Martin Ebner
« Christen als Unruhestifter in der Stadt: Experimente und Visionen des Anfangs Vom Nutzen des Christusglaubens für die Gestaltung von Gesellschaft »
Markus Bücker, Alina Krause, Linda Hogan
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Das Christentum ist in der Stadt groß geworden.[1] Die ersten Orte, von denen wir sicher wissen, dass dort Christusgläubige gelebt haben, sind Städte, sogar Megastädte des Römischen Reiches: Korinth, Ephesus, Damaskus, Antiochia – und schließlich auch Rom selbst. Und: Christen haben in diesen Städten für Unruhe gesorgt; innerhalb der jüdischen Synagogengemeinden offensiv wegen ihres laxen Umgangs mit den Zugangsbedingungen zum heiligen Gottesvolk; innerhalb der Städte eher subversiv, weil sie in ihren eigenen Reihen mit alternativen Gesellschaftsmodellen experimentierten, so jedenfalls in den paulinischen Gemeinden. Und es war ausgerechnet der pharisäisch geprägte Paulus – vor seiner Wende –, der diese Abweichler in Damaskus entdeckt (Apg 9), sie zunächst zu vernichten versucht (Gal 1,13), aber dann weitergeführt und theologisch untermauert hat, was ihn dort ursprünglich so brüskiert hat. Denn was Paulus genauso wie für die Synagogengemeinden bedrohlich erschien und was gleichzeitig den entscheidenden Missionsakzent der frühesten Christusgläubigen ausmacht, war deren niederschwellige Öffnung des Gottesbundes für Menschen, die am Ein-Gott-Glauben und der Ethik des Judentums interessiert waren, Gottesfürchtige genannt, aber vor der Beschneidung und den Speisegesetzen zurückschreckten, weil beides in der griechisch-römischen Welt verpönt war.[2] Vollmitglieder zu werden war ihnen damit in den Synagogengemeinden verwehrt, nicht aber bei den Christusgläubigen. Das sorgte für harte Auseinandersetzungen innerhalb des jüdischen Milieus. Unter Kaiser Claudius wurden 49 n. Chr. die Unruhestifter unter den Juden aus Rom ausgewiesen (vgl. Sueton, Claudius 25,4), wie an Priska und Aquila zu sehen ist (Apg 18,2), also jene christusgläubigen jüdischen Missionare, die ein „Judentum light“ propagierten und praktizierten. In Antiochia, wo das „Evangelium von Jesus als Herrn“ auch den „Griechen“ verkündigt wurde, wurden „die Jünger“ zum ersten Mal offiziell (von den römischen Behörden) als „Christianer“ registriert[3] (Apg 11,20.26), also als eigene Gruppe neben und außerhalb der jüdischen Synagoge wahrgenommen – vielleicht sogar auf Veranlassung der jüdischen Verantwortlichen, die sich von diesen Abweichlern absetzen wollten, weil durch deren Aufweichung der typisch jüdischen identity markers auch die Privilegien für „die Juden“ auf dem Spiel standen.
1. Taufe und Außerkraftsetzung der gesellschaftlich geprägten Dichotomien
Es werden auch jene christusgläubigen Gruppen in Damaskus und Antiochia gewesen sein, von denen Paulus die Tauftradition gelernt hat, die er selbst später in seinen Briefen zitiert: „Alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angezogen. Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist weder männlich und weiblich. Alle nämlich seid ihr ein einziger in Christus Jesus“ (Gal 3,27f.; vgl. 1 Kor 12,13). Damit werden die für das Mainstream-Judentum genauso wie für die griechisch-römische Gesellschaft typischen Dichotomien, die ihrerseits Hierarchien begründen und der Stabilisierung der eigenen Identität dienen, außer Kraft gesetzt. Der Glaube an Christus zeigt sich gerade darin, dass diese Grenzüberschreitungen gewagt und praktiziert werden – sozusagen als empirisch fassbare Farbtupfer der neuen Welt (vgl. 2 Kor 5,17; Gal 6,15). Der – in diesem Sinn „bekehrte“ – Paulus hat in seinen Briefen entsprechend deutliche Korrekturmarker gesetzt. Mit Verve kämpft er für die Anerkennung der gesellschaftlich „Ungleichen“ innerhalb der Christusgläubigen: für den getauften Sklaven Onesimus (Phlm), gegen die Propagandisten der Beschneidung als Vollendung des Christusglaubens (Gal), gegen die „unwürdige“ Feier des Herrenmahls in Korinth, wo die Hausbesitzer die anderen beim Essen deren inferiore Stellung spüren lassen. Je nach Rang und Stand unterschiedliche Speisen vorgesetzt zu bekommen war in der griechisch-römischen Kultur nämlich gang und gäbe. Geschieht es jedoch unter Getauften, dann ist das für Paulus nichts anderes als ein ganz normales Mahl, aber eben kein Herrenmahl (1 Kor 11,17–34). Die spürbare Anerkennung des gesellschaftlich niedriger Stehenden unter Getauften macht für Paulus die differentia specifica Christiana aus.
2. Ekklesien Gottes und das Bürgerrecht der Getauften
Diese Gruppierungen, die aufgrund ihres Christusglaubens die gesellschaftlichen Dichotomien der Alten Welt überschreiten, nennt Paulus „Ekklesien Gottes“. Im Rezeptionshorizont der Städte ist damit die Bürgerversammlung gemeint, die über die Belange der Stadt berät und durch Abstimmung entscheidet. Allerdings haben hier nur frei geborene Männer mit Bürgerrecht Sitz und Stimme – keine Frauen, keine Sklaven, nicht einmal Männer ohne Bürgerrecht, wie es in alteingesessenen Familien von Generation zu Generation vererbt wird. Die Christusgläubigen verstehen sich analog dazu als Bürgerversammlungen Gottes, jedoch mit anderen Zulassungsbedingungen (Glaube an Christus) und anderer Zusammensetzung (auch Frauen, auch Sklavinnen und Sklaven, auch Männer ohne Bürgerrecht). Sie alle dürfen die Bürgerrechte der Getauften praktizieren: Sie konstituieren sich regelmäßig als Ekklesia (Röm 16,23; 1 Kor 11,18.20; 14,23); Männern wie auch Frauen steht prinzipiell gleiches Rederecht zu (1 Kor 11,4f.).[4] Schwierige (Personal)entscheidungen werden durch Abstimmungen per Handhebung geregelt (2 Kor 2,6; 8,19). Unter römischer Herrschaft ist die Autonomie der Ekklesien in den Städten auf ein Minimum zusammengeschrumpft.[5] Paulus reaktiviert sozusagen ein altes Verfassungsrecht der Städte und verlegt es in die Gruppen der Christusgläubigen – allerdings mit veränderten Zulassungsvoraussetzungen.
3. Christus-Herrschaftsträume und subversive Unterwanderung der römischen Imperialstrukturen
Bei Paulus lässt sich sogar so etwas wie ein strategisches Missionskonzept feststellen, das gezielt die römischen Herrschaftsstrukturen zu unterwandern versucht und die Welt geradezu für Christus „erobern“ will: Diejenigen Städte nämlich, in denen Paulus Gemeinden gründet oder in denen er sich für längere Zeit aufhält, sind allesamt Kolonien (Philippi) bzw. Provinzhauptstädte des Römischen Reiches (Thessalonike, Korinth, Ephesus). Also diejenigen Knotenpunkte, von denen aus das Riesenreich „regiert“ wird. Dort ist der Sitz des jeweiligen Statthalters, der mit einem kleinen Mitarbeiterstab als neuem Overhead die entscheidenden Fäden in der Hand hält: Außenpolitik, Kapitalgerichtsbarkeit – und Finanzen, sprich: Einzug des Tributs. In unruhigen Provinzen sorgen römische Legionen für die entsprechende Drohkulisse. Paulus hat es nicht nur auf diese Knotenpunkte der römischen Herrschaft abgesehen, er denkt auch wie die Kaiser: Wenn sich das „Haus des Stefanas“ in Korinth taufen lässt, erkennt er darin die „Erstlingsfrucht der (Provinz) Achaia“ (1 Kor 16,15). Aus Ephesus schreibt er: „Es grüßen euch die Ekklesien der (Provinz) Asia“ (1 Kor 16,19). Aus Thessalonike „schallt“ gemäß 1 Thess 1,8 „das Wort des Herrn hinaus“ in die Provinz Macedonia und die Provinz Asia (vgl. auch Röm 15,19.26). Gemeint sind jeweils die kleinen Hausgemeinden in Korinth und Ephesus, die vermutlich nicht viel mehr als dreißig bis vierzig Mitglieder zählen, eher weniger.[6] Aber sie repräsentieren für Paulus die neue Macht, die subversiv die Römerherrschaft untergräbt. Erobern die Römer mit ihren Legionen die Welt, um sie ihrer Herrschaft zu unterstellen, das heißt, sie finanziell auszubeuten, so will Paulus mit seinem Evangelium die Welt erobern,[7] um sie der Königsherrschaft Christi zu unterstellen – mit den entsprechenden Konsequenzen für die soziale Gestaltung dieser neuen Christus-Herrschaftsräume, die untereinander ein neues Koinonia-Netzwerk bilden.
4. Die Architektur der Gottesstadt und die christlichen Realutopien
In der letzten Schrift des neutestamentlichen Kanons dürfen die Leser sogar die Architektur der Alternativstadt schlechthin visionär schauen: die Gottesstadt, wie sie aus dem Himmel auf die Erde niedersteigt (Offb 21,1–22,5). An ihrer Architektur lässt sich die Konzeption der von Gott vorgesehenen Alternativgesellschaft ablesen. Wie es bei Stadtbeschreibungen in der Antike üblich ist, wird den Lesern nur das ausführlich beschrieben, worauf sie achten und was ihnen ins Auge fallen soll. Anders gesagt: Die Leerstellen sind für die Eruierung der Leserlenkung von entscheidender Bedeutung. Und: In den meisten Fällen ist jüdisches Hintergrundwissen vonnöten, um die versteckten Pointen zu entschlüsseln. Das jedoch kann bei den Adressaten vorausgesetzt werden.[8] In dieser Fokussierung sei auf einige Punkte hingewiesen.
Multiethnisches Gepräge. Vom Outfit her ist die Gottesstadt eine jüdische Stadt: mit zwölf Toren, die die Namen der zwölf Stämme Israels tragen (vgl. Ez 48,30–34) – fortgeführt von den Namen der zwölf Apostel des Lammes auf den Grundsteinen der Mauer. Aber sie ist offen für „Gottes Völker (λαοί)“ im Plural (Offb 21,3; vgl. 5,9; 7,9), also für alle Menschen, die nicht unter die Ausschlusskriterien der beiden Lasterkataloge in Offb 21,8.27 fallen, sich also von den Assimilierungstendenzen an die Imperialmacht Rom, wie sie in den eigenen Reihen propagiert wird (Nikolaiten, Prophetin Isebel), ferngehalten haben.[9] Als solche sind sie ins „Buch des Lebens“ eingetragen (Offb 21,27), also in Analogie zu entsprechenden Bürgerlisten der Städte Vollbürger der Gottesstadt, die damit hinter der traditionell jüdischen Außenfront ein multiethnisches Gepräge hat.
Lebensadern für die Bewohner. Im Normalfall weisen griechische Städte das hippodamisch-orthogonale Straßenmuster auf, in das Tempel, öffentliche Gebäude und Plätze integriert sind. Den typisch römischen Stempel einer Stadt erkennt man an den beiden Hauptstraßen, cardo und decumanus, die deutlich breiter als alle anderen Straßen und architektonisch durch Kolonnaden zu beiden Seiten hervorgehoben sind. Im Idealfall legen sie ein Achsenkreuz über die Stadt, gelegentlich müssen sie sich den geographischen Gegebenheiten anpassen, aber auf jeden Fall führen sie im Schnittpunkt zum Forum, wo sich mit Kapitol bzw. Kaisertempel und Basilika die römische Zentralmacht religiös-symbolisch sowie rechtlich real in Szene setzt. Das Straßennetz der Gottesstadt, das sich der Leser aufgrund der drei Tore auf jeder Seite mental leicht vorstellen kann, entspricht diesem Muster gerade nicht: Die dreimal drei Hauptstraßen, die die Stadt durchqueren, gliedern sie insgesamt in sechzehn Viertel. Sie führen nicht zu einem architektonisch aufgeladenen Machtzentrum,[10] sondern sind „Lebensadern“ für die Bewohner: Anstelle von Kolonnaden, hinter denen gewöhnlich die vornehmsten Geschäfte der Stadt ihre Waren feilbieten, werden sie von Fruchtbaumalleen gesäumt.[11] Die Früchte und heilenden Blätter stehen allen Bewohnern frei zur Verfügung. Gepflanzt sind die Bäume an einem Strom mit kristallklarem Wasser – ganz anders als in so mancher Stadt unter römischer Verwaltung, wo eine stinkende Kloake entlang der Hauptstraße die Luft verpestet (vgl. Plinius d. J., Ep. X 98).
Alternativstadt. Was das eigentliche „Stadtbild“ angeht, ist für antike Autoren besonders die Größe und Ausdehnung einer Stadt ausschlaggebend. Um höhere Zahlen zu erreichen, bemisst zum Beispiel Plinius d. Ä. die Größe Roms an der Länge aller Wege, die zusammengerechnet sich auf etwas mehr als sechzig Meilen belaufen würden; und wenn man auch noch die Höhe der Gebäude in Rechnung stellen würde, so werde Rom an Größe von keiner Stadt der Welt übertroffen (Nat. 3,67). Auch die Seitenlängen des Neuen Jerusalem werden von Ez 48 über die Entwürfe in den Qumranschriften bis hin zu den Sibyllinischen Orakeln (5,252), wonach sich die Mauern des neuen Jerusalem bis nach Joppe ans Meer erstrecken, immer größer. Eine normale Stadt wie Timgad in Nordafrika brachte es auf ca. 1.100 x 1.200 Fuß (ca. 335 m) Seitenbreite. Die quadratisch geformte Gottesstadt dagegen misst pro Seite 12.000 Stadien, also ungefähr 2.200 Kilometer. Sie umfasst damit nicht nur rund 5 Mill. km2 Fläche, sondern deckt – wenn sie vom Himmel auf die Erde niedersteigt – das gesamte Imperium Romanum ab.[12] Anders gesagt: Die von Christusgläubigen erwartete und allen Assimilationsverweigerern geöffnete Zufluchtsstadt ersetzt das von den Römern beanspruchte Imperium Romanum.
Die Stadt als Allerheiligstes. Die Stadt hat auch 2.200 km an Höhe (vgl. Offb 21,16). Es handelt sich also um eine geradezu surreale Kubus-Stadt. Damit steht die Gottesstadt bis heute nicht nur konkurrenzlos da, sondern stellt – auf jüdischem Hintergrund evaluiert – auch eine grandiose Provokation dar: Denn die Form des Kubus ist dem Allerheiligsten im Tempel vorbehalten (vgl. 1 Kön 6,20; 2 Chr 3,8; vgl. Ez 41,4), das allein der Hohepriester ein einziges Mal im Jahr unter höchsten liturgischen Sicherheitsvorkehrungen betreten darf (Lev 16,12–17). Jetzt wird auch klar, warum innerhalb der Stadt kein Tempel zu sehen ist (Offb 22,1): Die Stadt selbst ist das Allerheiligste des Tempels.[13] Und alle Bürger dieser Stadt bewegen sich innerhalb dieses Raumes. Man könnte auch sagen: Die Gottesstadt nach Offb 21f. ist eine Stadt ohne Kultzentrum, aber voller priesterlicher Menschen in der Gegenwart Gottes. Wer nun weiß, dass das gesamte Jerusalemer Tempelareal durch gestaffelte Zugangsbereiche gegliedert ist (vom Vorhof der Heiden, der streng getrennt ist vom jüdischen Bereich, der seinerseits vom Vorhof der Frauen in den der Männer und dann den der Priester führt, die allein den Altarbereich und die äußeren Teile des Tempels betreten dürfen, während nur der Hohepriester einmal im Jahr in das Allerheiligste eintreten darf); und wer weiß, dass – nach Auskunft des jüdischen Geschichtsschreibers und Priesters Josephus (Vita 1) – die Zugehörigkeit zur Priesterschaft im Judentum Kennzeichen für den Adel bzw. die Prominenz einer Familie ist, erkennt die brisante sozialpolitische Provokation dieser Konzeption. Alle „Bürger“ der Gottesstadt sind – wie es sich für Bürger gehört – gleichgestellt und zugleich „Adelige“: als Priester vor Gott, unabhängig davon, welcher Stand sie von Geburt aus prägt[14] bzw. welcher Ethnie sie entstammen. Die Analogie zu Gal 3,28 ist verblüffend.[15]
Sozialutopie. Die Gottesstadt ist aus den Materialien erbaut, mit denen die Großkaufleute im Handel mit Roms Eliten reich geworden sind: Gold, Edelsteine und Perlen (vgl. Offb 21,18–21). Über den Untergang der „Hure Babylon“ brechen sie in Klagen aus, weil ihnen ihr Absatzmarkt verlorengegangen ist (vgl. Offb 18,11–16). In dieser internen Kontextualisierung gelesen führt das den utopischen Stadtschilderungen entlehnte Motiv von den äußerst kostbaren Materialien, mit denen die visionäre Idealstadt erbaut ist, die genannte sozialpolitische Linie fort. Womit sich in der römischen Welt die politische und ökonomische Elite bereichert, das wird in der Gottesstadt allen Bewohnern buchstäblich zugänglich gemacht: Alle laufen auf einem Straßennetz aus purem Gold, alle wohnen in Mauern aus Edelstein und Toren aus Perlen (Offb 21,18.21). Nimmt man hinzu, dass in der römischen Welt der Zensus, die Vermögensschätzung, über die Aufnahme in die Gruppe der honestiores, also der gehobenen Stände der Dekurionen, Ritter und Senatoren entscheidet, so ist dafür in der Gottesstadt die Basis entzogen.
Politikutopie. Die „Bürger“ der Stadt sind gleichzeitig Sklaven und Könige (Offb 22,3-5). Das eine realisiert sich in der Beziehung zu Gott, vor dem alle Sklaven bleiben; das andere betrifft ihre Stellung als „Bürger“ der Gottesstadt, in der sich das Königreich Gottes dadurch realisiert, dass dort nur Menschen Eingang finden, die nach seinem Willen leben (vgl. Offb 21,8.27). Nachdem es unter den Bewohnern weder eine religiöse noch eine soziale Staffelung gibt, werden alle „als Könige herrschen“ (βασιλεύσουσιν), ohne dass es jedoch von ihnen Beherrschte gibt. Alle haben die Würde von Herrschern, aber die Herrschaft als Aktion ist ad absurdum geführt. Die „Königsherrschaft“ der „Sklaven“ Gottes besteht in der Verehrung Gottes (λατρεύσουσιν), wie sie von (hohe)priesterlichen Menschen zu erwarten ist. Damit greift die Soziologie der Gottesstadt die für die Architektur römischer Städte typische Verbindung von politischer und sakraler Sphäre auf dem Forum auf – und konnotiert sie neu. Die Doppelschauseite römischer Machtdarstellung vor dem Stadtpublikum wird in die Standesbestimmung der Menschen in der Stadt verlegt: Sie sind Priester und Könige zugleich – insofern sie Gott die Ehre geben.
Übergreifend ergibt sich: Die Gottesstadtschilderung in Offb 21f. konkretisiert das Königreich Gottes (βασιλεία τοῦ θεοῦ) alsStadt, die das Imperium Romanum, also die Basileia der Römer, ersetzt. Dabei wird die traditionell biblisch verankerte, empirisch auf die orientalischen bzw. hellenistischen Monarchien zurückgreifende Metapher von der Königsherrschaft Gottes in die Vorstellungswelt der Stadtkultur überführt – und auf dieser Grundlage provokative Kritik sowohl an der Herrschaftsstruktur Roms, die nur den Namen „Monarchie“ vermieden hat, als auch an der durch Rom geprägten Sozialordnung geübt. Über die Schilderung der Architektur und der sozialen Interaktionen insinuiert Offb 21f. eine veränderte Gesellschaftsordnung, die ganz in der Linie von Gal 3,28 liegt.
5. Ausblick
Das Christentum ist in der Stadt groß geworden und es scheint fast so, als würde sich das Überleben des Christentums in den Megastädten des 21. Jahrhunderts entscheiden. Die Visionen, die neutestamentliche Schriften dafür bereithalten, und auch die Wege, die Christusgläubige im 1. Jahrhundert tatsächlich beschritten haben, sind bis heute noch lange nicht eingeholt. In ihrer zeitgeschichtlichen Verankerung beschrieben, setzen sie aussagekräftige Analogien für heute frei. Und sie zeigen: Die eigentliche Provokation der ersten christlichen Gemeinden bestand darin, dass sie die Erhöhung des Gekreuzigten zum Mitregenten Gottes als Auftrag verstanden haben, schon in dieser Welt unter seiner Herrschaft als seine Bürger zu leben, das heißt in ihren eigenen Reihen mit entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen zu beginnen und jegliche Kooperationen zu verweigern, die diesem Ziel entgegenstehen. Sie waren sich bewusst, wer nicht jetzt schon diesen anderen Lebensstil einübt, der wird nicht eingehen können in die von Gott bereits geplante Gottesstadt, die auf die Erde niedersteigen wird. Kurz: Für die ersten Christusgläubigen realisiert sich der Glaube an den totenerweckenden Gott in der Umgestaltung der alltäglichen Sozialräume. Ernst gemeinte Theozentrik verträgt sich nicht mit menschlich konstruierten Hierarchien, sozialen und religiösen Abstufungen. In den Städten wird es sich entscheiden …
Notes
[1] Ausführliche Darstellung: Martin Ebner, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt I (GNT 1,1), Göttingen 2012.
[2] Ein nicht von der Vorhaut verhüllter Penis, die freiliegende Eichel, assoziiert Dauergeilheit; vgl. Andreas Blaschke, Beschneidung. Zeugnisse der Bibel und verwandter Texte (TANZ 28), Tübingen 1998; auf Schweinefleisch dauerhaft zu verzichten muss in Tischgemeinschaften Argwohn erregen und außerdem als unvernünftig erscheinen, weil Schweinefleisch insbesondere bei den Stoikern als besonders gesund gilt.
[3] χρηματίζειν/chrematizein ist der römischen Amtssprache entnommen; „Christianer“ ist eine latinisierende Wortbildung und bezeichnet die Parteigänger einer Person; vgl. Hans G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen in ihrem Zusammenhang mit der antiken Stadtherrschaft (Stw 917), Frankfurt a. M. 1991, 300f.
[4] In völlig parallelen Formulierungen ist hier davon die Rede, dass Männer wie Frauen „reden und prophezeien“, nur die Haartracht muss geschlechtsspezifisch ausfallen! Dass Frauen in der Ekklesia schweigen sollen (vgl. 1 Kor 14,34f.) ist mit aller Wahrscheinlichkeit eine nachpaulinische Interpolation (vgl. 1 Tim 2,11f.).
[5] Vor allem Ehrenauszeichnungen dürfen noch selbständig beschlossen werden.
[6] Vgl. John S. Kloppenborg, Membership Practices in Pauline Christ Groups, in: Early Christianity 4 (2013), 183–215, 189–195.
[7] Analog zu den römischen Triumphzügen, mit denen die Eroberung eines Territoriums in Rom demonstriert wird, zeichnet Paulus in 2 Kor 2,14–16 Christus als Triumphator, der ihn, Paulus, mitführt, um den Duft seiner Erkenntnis (durch die Verkündigung) offenbar zu machen.
[8] Zur kulturellen Verortung von Verfasser und Adressaten vgl. Stefan Schreiber, Die Offenbarung des Johannes, in: M. Ebner/S. Schreiber (Hrsg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 22013, 566–593, 573–576.
[9] Vgl. Heinz Giesen, Die Offenbarung des Johannes (RNT), Regensburg 1997, 459f.472f.
[10] Davon ist nirgends die Rede. Wo der Thron Gottes steht (Offb 22,1), wird nirgends gesagt, nur seine Funktion benannt: Er ist Ausgangspunkt für den Paradiesfluss.
[11] Analog zu ξύλον/Baum im Sinn von „Gebäum“ (vgl. Giesen, Offb, 474) wird auch πλατεῖα in Offb 22,2 im Sinn von „Straßennetz“ generisch zu verstehen sein.
[12] Auf jeden Fall dessen gesamten östlichen Teil; von Jerusalem aus gerechnet ist die Hauptstadt Rom ganz sicher mit abgedeckt.
[13] Entsprechend wird die Mauer der Stadt in Offb 20,16 mit dem gleichen Terminus bezeichnet (ἐνδώμησις), der in Inschriften aus Smyrna und Tralles, also im unmittelbaren kulturellen Umfeld, für die Einfriedung eines Tempels steht; vgl. Giesen, Offb, 467.
[14] Der Stand des Priesters ist im Judentum genealogisch verankert.
[15] Auch wenn Frauen nicht eigens genannt werden, so sind sie doch in die „priesterlichen Menschen“ der Gottesstadt integriert.
Auctor
Martin Ebner, Priester der Diözese Würzburg, Studium der Theologie in Würzburg, Tübingen und an der École Biblique in Jerusalem, Promotion (1991) und Habilitation (1997) in Würzburg, 1998-2011 Professor für Exegese des Neuen Testaments in Münster, seit 2011 in Bonn. Forschungsschwerpunkte: historischer Jesus, christliche Gemeinden in ihrem religiösen und kulturellen Umfeld, Markusevangelium, Herrenmahl, Methodendiskussion.
Address: Seminar für Exegese des Neuen Testaments, Johannisstraße 8-10, D-48143 Münster.