Concilium

Georg Stoll – « The Contribution of Civil Society Organisations to Transformation »

Georg Stoll

« The Contribution of Civil Society Organisations to Transformation. Consequences for the Work of NGOs – Misereor »


1. Globale Veränderungsdynamiken

Seit etwa 200 Jahren verzeichnet die Weltbevölkerung ein exponentielles Wachstum, das die Zahl der auf (und von) der Erde lebenden Menschen auf immer neue Rekorde treibt. Die letzten Generationen sahen zu ihren Lebzeiten jeweils eine Verdoppelung der globalen Bevölkerung. Auch wenn diese Kurve sich inzwischen abflacht und voraussichtlich in diesem Jahrhundert einen Plafond erreichen wird, so wird das auf einem bisher ungekannten Niveau von neun bis elf Milliarden Menschen geschehen. Dieses Wachstum erfolgt zudem nicht regional synchron. Es bedingt deshalb nicht nur globale Veränderungen etwa in Hinblick auf die Belastung der Ökosysteme. Es setzt auch Gefüge und Machtbalancen in und zwischen den verschiedenen Weltregionen unter Veränderungsdruck. Aktuell ist das unter anderem am schwindenden geopolitischen Einfluss Europas und Nordamerikas und dem wachsenden politischen Gewicht asiatischer Länder, insbesondere Chinas, zu beobachten. Afrika als die Region mit dem mit Abstand stärksten Bevölkerungswachstum wird in naher Zukunft erheblich mehr Gewicht in die weltpolitischen Agenden einbringen.

Ein weiterer Faktor mit hohem Veränderungspotenzial ist auch die Zusammensetzung der Bevölkerung. Während steigende Wachstumsraten zunächst zu einer stärkeren Gewichtung der jüngeren Bevölkerungsgruppen führen, verschieben rückläufige Wachstumsraten zumindest vorläufig das Bevölkerungsgleichgewicht in Richtung der älteren Jahrgänge. Solche Unterschiede können erhebliche gesellschaftspolitische Auswirkungen haben, angefangen bei sozialpolitischen Erfordernissen (z.B. Ausbildung, Arbeit oder Gesundheitsversorgung) über die Mobilität und Innovationskraft einer Gesellschaft bis hin zu deren Politikstil. Und auch zwischen den Staaten verändern sich Beziehungen und Kräfteverhältnisse, wenn es sich einerseits um jüngere und andererseits um alternde Bevölkerungen handelt.

Die hohe Geschwindigkeit technischer Entwicklungen und ihrer ökonomischen Verwertung stellen einen weiteren wichtigen Faktor für globale Veränderungen dar. Das Ausmaß und die Komplexität globaler Vernetzungsmöglichkeiten verdanken sich im Wesentlichen dieser Dynamik. Beispielhaft lässt sich das an der Kommunikationstechnologie und den globalen Finanzmärkten beobachten. Ein mit Algorithmen automatisierter Hochfrequenzhandel, der ein Vielfaches der jährlichen globalen Wirtschaftsleistung umsetzt, wäre noch vor wenigen Jahrzehnten als Science Fiction erschienen. Solche Entwicklungen verursachen vielfach Unsicherheiten. Sie werden als Prozesse wahrgenommen, die enorme Auswirkungen haben können (etwa in Bezug auf das Verhältnis von demokratisch legitimierter Politik und transnational agierenden Großunternehmen). Zugleich erscheinen solche technischen Entwicklungen und ihre ökonomischen Verwertungsketten aber als hochgradig komplex und undurchsichtig und somit dem Verstehen und Handeln des Einzelnen weitestgehend entzogen. Dass der Umgang mit Technik im Alltag sich zunehmend automatisiert und über „Benutzeroberflächen“ abspielt, mag bequem sein – es dokumentiert aber zugleich den Grad der Abhängigkeit und des Kontrollverlustes, die den Einzelnen zum „User“ degradieren.

Ein dritter Großtrend, der globale Veränderungen mit sich bringt, die bereits deutlich wahrnehmbar sind, ist die andauernde Überforderung ökologischer Systeme und Kreisläufe durch menschliche Aktivitäten. Das prominenteste Beispiel ist der anthropogene Klimawandel, der bislang trotz aller technologischen und politischen Bemühungen weiter voranschreitet. Doch er ist bei weitem nicht der einzige Bereich problematischer globaler Umweltveränderungen. Der massiv gestörte Stickstoffkreislauf sowie die stark rückgängige Artenvielfalt sind weitere akute Problemfelder. Als zentrale Ursachen hinter dieser Überschreitung planetarischer ökologischer Grenzen lassen sich auf der Ebene der Produktion insbesondere die Energiegewinnung aus fossilen Energieträgern sowie die intensiv betriebene Landwirtschaft ausmachen – denen freilich auf der Ebene des Konsums ein ständig steigender Bedarf nicht nur aufgrund der wachsenden Weltbevölkerung sondern auch aufgrund zunehmender Konsumerwartungen und nicht-nachhaltiger Konsummuster entspricht.

2. Städte als Ort globaler Veränderung und ihrer transformativen Gestaltung

Diese drei, miteinander in Verbindung stehenden globalen Trends artikulieren sich in besonderer Weise in Städten und prägen so maßgeblich den aktuellen Urbanisierungsdiskurs. Auch wenn der Bevölkerungszuwachs auf dem Land im Durchschnitt denjenigen in der Stadt nach wie vor deutlich übersteigt, wächst weltweit der Anteil der Menschen, die in Städten leben. Dieses überproportionale Wachstum der städtischen Bevölkerung ist zum einen auf eine nach wie vor stattfindende Binnenmigration vom Land in die Städte zurückzuführen, zum anderen aber auch darauf, dass etliche Siedlungen durch ihr eigenes Wachstum in die Größe von Kleinstädten hineinwachsen. Auf diese Weise entstehen ständig neue Städte, während gleichzeitig bestehende Städte auch aus sich selber heraus weiter wachsen – bis in die Dimensionen von Megacities mit über 10 Mio. Einwohnern, deren Zahl in den kommenden Jahren deutlich zunehmen wird. Das globale Bevölkerungswachstum spielt sich also vor allem in den Städten ab und damit unter städtischen Bedingungen wie Flächenbegrenzung (und daraus folgender hoher Flächenkonkurrenz), Verkehrsdichte, Infrastruktur, Abhängigkeit von externer Versorgung z.B. mit Lebensmitteln, Heterogenität der Bevölkerungsgruppen, Anonymität, städtischer Governance etc. Diese Bedingungen machen Städte einerseits gegenüber negativen Auswirkungen der beiden anderen Trends (Technik/Wirtschaft und Umwelt) in besonderem Maße verwundbar. Sie bergen aber auch besondere Potenziale für eine humane Gestaltung der anstehenden Veränderungen.

In Städten verdichten sich nicht nur Wohn- und Verkehrsflächen, sondern auch die Räume wirtschaftlicher Aktivität. Produktionsstätten und Handelsflächen, aber auch Ausbildungsstätten und Forschungszentren siedeln sich vorzugsweise in städtischen Räumen oder an deren Rand an, um von der Verfügbarkeit von Arbeitskräften und Infrastruktur, aber auch von der Innovationskraft städtischer Milieus zu profitieren. Städte haben deshalb das Potenzial, Lösungen für eine breite Versorgung wachsender Bevölkerungen mit notwendigen Dienstleistungen zu entwickeln, die zugleich nicht nur lokale, sondern auch globale ökologische Belastungsgrenzen respektieren. Andererseits sind Städte auch anfällig für die negativen Seiten technischer und ökonomischer Entwicklung, etwa wenn Betriebsstilllegungen oder Strukturwandel zu Massenentlassungen führen oder wenn umfassende technische Überwachungssysteme das Leben der Bürger unter Daueraufsicht stellen.

Besonders augenfällig sind Verwundbarkeit und Potenzial von Städten mit Blick auf den dritten Transformationstrend, die globalen Umweltveränderungen. Einerseits werden Städte die Folgen des Klimawandels in besonderem Maße zu spüren bekommen: durch die Zunahme von Überschwemmungsereignissen besonders in küstennahen Lagen beispielsweise oder durch den Anstieg der Durchschnittstemperatur, die in Städten ohnehin bereits über den Werten im Umland liegt. Andererseits weisen Städte ein hohes Effizienzpotenzial bei der Nutzung vorhandener Ressourcen auf, das durch intelligente Bebauungsformen, Verkehrs- und Stadtplanung noch weit mehr ausgeschöpft werden kann, als es bisher der Fall ist. Außerdem bringen Städte zunehmend ihr politisches Gewicht in globalen Umweltfragen auch auf internationalem Parkett ein und erhöhen damit den Handlungsdruck auf nationale und internationale Verantwortungsträger.

3. Transformation – Ansprüche an eine NRO wie Misereor

Die Welt entwickelt sich entgegen der landläufigen Floskel nicht zu einem globalen Dorf, sondern allenfalls zu einer globalen Stadt – einer Stadt, deren Bewohner ausgesprochen heterogen sind, dennoch aber vor gemeinsamen Rahmenbedingungen und Problemlagen stehen, die Kooperation und Solidarität erfordern. Was bedeutet das für eine NRO wie Misereor, die seit ihrer Gründung vor 60 Jahren einem Entwicklungsverständnis verpflichtet ist, das sich als ganzheitlich versteht und die Würde der Armen und Ärmsten in den Mittelpunkt stellt?

  1. Entwicklung als gemeinsame globale Aufgabe wahrnehmen. Die drei erwähnten Großtrends stellen jenseits regionaler Problemlagen alle Länder vor Herausforderungen, die nur gemeinsam gelöst werden können. Dieser Umstand, der in den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Agenda 2030 einen prominenten Niederschlag gefunden hat, bedeutet für Misereor, Nord und Süd zusammen zu denken und die spezifischen globalen Verantwortlichkeiten des eigenen Landes im Blick zu behalten. Das beinhaltet auch die ideologiekritische Auseinandersetzung mit bestehenden Entwicklungsmodellen und die Suche nach tragfähigen Visionen eines guten Lebens für alle im Dialog mit Partnerorganisationen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Um mit der nötigen Ausdauer geführt werden zu können, muss ein solcher auf Transformation ausgerichteter Dialog im Arbeitsalltag der Beteiligten verankert werden.
  2. Städte als Orte globaler Entwicklung und Transformation wahrnehmen. Die Bedeutung der Städte ergibt sich nicht nur daraus, dass die Mehrheit der Menschen inzwischen in Städten wohnt (mit weiter steigender Tendenz). Sie ergibt sich auch daraus, dass Städte häufig als Labore für alternative Sichtweisen und Praktiken über ihre Grenzen hinaus Modellcharakter entwickeln können. Für Misereor bedeutet das, gemeinsam mit Partnerorganisationen aufmerksam für solche experimentellen Prozesse zu sein, die die Lebenssituation städtischer Armer betreffen. Misereor kann solche Prozesse fördern und bekannt machen.
  3. Städte nicht sektoral, sondern ganzheitlich in den Blick nehmen. Viele Partnerorganisationen befassen sich mit unterschiedlichen sozialen Problemen im städtischen Milieu. Nicht immer werden dabei Zusammenhänge wahrgenommen, die zwischen diesen Problemfeldern bestehen. Für Misereor bedeutet das, eine umfassende stadtplanerische Sicht einzuüben und auch Partnerorganisationen dafür zu gewinnen. Erst eine solche Sicht ermöglicht es häufig, bestehende Zielkonflikte etwa zwischen sozialen und ökologischen Anliegen zu benennen, ohne eine Seite vorschnell auszublenden.
  4. Erfahrungen mit Pluralität und Heterogenität einbringen. Stadtgesellschaften stehen vor der Aufgabe, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu integrieren, ohne deren Heterogenität zu negieren. Vor einer ähnlichen Aufgabe steht die internationale Gemeinschaft angesichts der Herausforderungen globaler Entwicklung und Transformation. Misereor kann in diesem Kontext auf seine langjährigen Erfahrungen im Umgang mit Pluralität und Heterogenität aufbauen und diese in transformative Entwicklungsprozesse einbringen.
  5. Neue Mittelschichten als Global Player ernst nehmen. Die quantitativ messbaren Entwicklungserfolge der vergangenen Jahrzehnte hängen eng mit dem Aufstieg neuer Mittelschichten vor allem in Asien zusammen. Diese Mittelschichten leben in der Regel in den wachsenden Städten der Region und prägen deren Lebensstil. Aufgrund ihres zunehmenden Einflusses auf Wirtschaft und Politik spielen sie eine wichtige Rolle für die weitere globale Entwicklung. Für Misereor als NRO mit einer expliziten Ausrichtung auf Armutsbekämpfung stellt sich damit die neue Frage, wie diese jungen städtischen Mittelschichten in eine Gesamtstrategie globaler Entwicklung einbezogen werden können.

Einer der Teilnehmer des Städte-Kongresses sagte: „If you do not imagine your future someone else will colonise your future“. Angesichts der globalen Herausforderungen ist viel Vorstellungskraft nötig, um alternative Wege zu einer lebenswerten Zukunft auszukundschaften. Ob und wie diese unterschiedlichen Vorstellungen und Wege zusammen gehen, ist dann allerdings auch eine Frage der Machtverhältnisse. Städte als Orte des Austauschs, aber auch der Konkurrenz werden dabei eine zentrale Rolle spielen.

Auctor

Georg Stoll hat Philosophie, Theologie und Religionswissenschaften studiert und arbeitet seit zwanzig Jahren im Bereich Entwicklungspolitik bei MISEREOR. Aktuell ist er Mitglied eines Querschnittsteams zu globaler Urbanisierung.

Address: MISEREOR, Mozartstraße 9, 52064 Aachen / Deutschland.