Michael Seewald

« Todesstrafe, Kirchenlehre und Dogmenentwicklung. Überlegungen zur von Papst Franziskus vorgenommenen Änderung des Katechismus »


1. Einleitung

Papst Franziskus hat, wie Kardinal Luis F. Ladaria S.J. am 1. August 2018 in einem Brief an die Bischöfe mitteilte, den Katechismus der Katholischen Kirche verändert. Lehrte der Katechismus bisher, dass es das Recht und die Pflicht der staatlichen Autorität sei, Verbrecher mit einer der Schwere ihrer Tat angemessenen Strafe zu belegen, „ohne in schwerwiegenden Fällen die Todesstrafe auszuschließen“ (KKK 2266), heißt es nun, dass „die Todesstrafe unzulässig ist, weil sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt“, weshalb sich die Kirche „mit Entschiedenheit für deren Abschaffung in der ganzen Welt“ einsetze (KKK 2267, neu).

Eine Gruppe von vorwiegend US-amerikanischen Professoren, Priestern und Publizisten hält diese Lehrentscheidung für falsch und wandte sich daher in einem durch die Zeitschrift First Things verbreiteten Aufruf an das Kardinalskollegium.[1] Die Kardinäle seien „vor Gott und vor der Kirche“ verpflichtet, den Papst dazu zu bewegen, die Änderung des Katechismus „zurückzuziehen“, um das Wort Gottes wieder „unverfälscht“ zu verkündigen. Die Gründe, die eine „ernsthaft bindende“ Wirkung auf das Gewissen der Kardinäle entfalten sollen, wiegen schwer. Ein Verbot der Todesstrafe widerspreche der Heiligen Schrift: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen.“ (Gen 9,6) Diese und nach Meinung der Petenten auch „viele andere biblische Texte“ zeigen, dass die Todesstrafe kein grundsätzliches Übel darstelle, da sie von Gott selbst legitimiert, bisweilen sogar angeordnet werde. Die Kirche halte daran fest, „dass die Schrift keinen moralischen Irrtum lehren kann. Die prinzipielle Legitimität der Todesstrafe ist auch die kontinuierliche Lehre des Lehramtes seit zwei Jahrtausenden. Der Schrift und der Tradition in dieser Frage zu widersprechen, würde die Glaubwürdigkeit des Lehramtes im Allgemeinen in Zweifel ziehen“, so die Unterzeichner, die auf diese „schwerwiegend skandalöse Situation“, in die der Papst die Kirche gebracht habe, aufmerksam machen wollen. Die Kardinäle werden darauf hingewiesen, dass es eine „im Wort Gottes enthaltene Wahrheit“ und „Lehre des ordentlichen und allgemeinen Lehramtes“ der Kirche sei, „dass Kriminelle von der staatlichen Macht gesetzmäßig zum Tod verurteilt werden können“. Der Papst habe mit seiner „Weigerung, diese Lehre zu verkünden“, Verwirrung gestiftet und den Eindruck erweckt, dass die Kirche „im Gegensatz zum Wort Gottes davon ausgehe, die Todesstrafe sei in sich ein Übel“. Die Kardinäle sollen, so die Unterzeichner, dem Papst klarmachen, dass es „seine Pflicht“ sei, „diesem Skandal ein Ende zu bereiten“, die neue Fassung des Katechismus „zurückzuziehen und das Wort Gottes unverfälscht zu lehren“.

Auf Fundamentalismus, wie er in dem von First Things verbreiteten Aufruf zu finden ist, reagiert man am besten nicht mit Empörung, sondern mit dem, was Fundamentalisten am meisten fürchten: Differenzierung. So ließe sich fragen: Haben die Unterzeichner zur Kenntnis genommen, wie umstritten die Deutung des von ihnen angeführten locus classicus(Gen 9,6) eigentlich ist, und dass es fragwürdig erscheint, ob man diese Stelle überhaupt zur Legitimation der Todesstrafe heranziehen kann?[2] Wie gehen die Unterzeichner, die auf eine angeblich die Todesstrafe aus Gottes Mund lehrende Bibelstelle zeigen und behaupten, ihr sei Folge zu leisten, weil die Schrift keine moralischen Irrtümer enthalte, mit den alttestamentlichen Gesetzestexten um, in denen allerlei Delikte großzügig mit dem Tod belegt werden? Zwei Männer etwa, die miteinander Geschlechtsverkehr haben, sind laut Levitikus mit dem Tod zu bestrafen (Lev 20,13). Ist das auch Gottes inerrantes Wort, dem Folge zu leisten ist? Hätte die Kirche, wenn heute Homosexuelle hingerichtet würden, dazu nichts Kritisches zu sagen, weil das von Gottes moralisch fehlerfreiem Wort so angeordnet wird? Wenn Gottesgelehrte nicht mehr in der Lage sind, Schrift und Tradition als das zu sehen, was sie sind, nämlich „anthropogene Ausdeutungen“[3], die stets interpretationsbedürftig und kritikwürdig bleiben, eröffnet sich ein zivilisatorischer Abgrund, der im Namen göttlichen Fortschritts den Weg in eine Herrschaft der Gewalt weist.

Im Folgenden sollen zwei Punkte des Appells derjenigen, die meinen, die Kirche widerspreche ihrem göttlichen Auftrag, wenn sie der Todesstrafe die theologische Legitimität entziehe, herausgegriffen werden: die Behauptung, die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe sei eine konstante Lehre des „ordentlichen und allgemeinen Lehramts“ der Kirche, und die These, die Änderung des Katechismus ziehe „die Glaubwürdigkeit des Lehramtes im Allgemeinen in Zweifel“.

2. Die katholische Kirche und die Todesstrafe: Historische Skizzen

Die Kirche hatte sich in zwei zusammenhängenden, aber doch unterscheidbaren Kontexten theologisch mit dem Problem der Todesstrafe auseinanderzusetzen, nämlich in ihrer Verhältnisbestimmung zur staatlichen Ordnung und mit Blick auf die Frage, ob als Häretiker geltende Personen mit dem Tod bestraft werden sollten.[4]

2.1. Die kirchliche Haltung zur Todesstrafe im staatlichen Rechtsbereich

Das Neue Testament sagt nichts über die Legitimität oder Illegitimität der Todesstrafe im staatlichen Bereich aus, lässt Jesus jedoch als einen von der zuständigen Autorität verurteilten Verbrecher unschuldig zu Tode kommen, wodurch performativ gezeigt wird, dass auch eine Obrigkeit, der zugeschrieben wird, ihre Autorität von „oben“ (Joh 19,11) erhalten zu haben, diese Macht missbrauchen und zu falschen Urteilen gelangen kann. Das Christentum bekennt sich also zu einer Erlöserfigur, die selbst Opfer der Todesstrafe geworden ist, worin ihr viele der ersten Jünger, etwa Stephanus (Apg 7,57f.) als Opfer religiös motivierter Gruppengewalt, oder Paulus (1 Clem 5,6f.) als verurteilter römischer Bürger, nachgefolgt sind. Genauso bedeutend wie die Tatsache, dass die Gründerpersönlichkeiten des Christentums die Todesstrafe erleiden mussten, schien für den patristischen Diskurs aber auch der Umstand zu sein, dass sie sich gegen dieses Schicksal nicht auflehnten. Denen, die einem Böses antun, war nach dem Jesus zugeschriebenen Wort nämlich kein Widerstand zu leisten (Mt 5,39), und der staatlichen Obrigkeit, die das Schwert trage und im Dienst Gottes stehe, galt es, so die Lehre des Paulus, zu gehorchen (Röm 13,4f.).

Weil die Todesstrafe zum als legitim empfundenen Strafarsenal in der Rechtsordnung des Römischen Reiches gehörte, sahen die Kirchenväter daher keine grundlegende Inkompatibilität zwischen ihrem Glauben und der Verhängung der Todesstrafe. Dadurch war die Möglichkeit gegeben, sich zeitgenössische Straftheorien anzueignen. So rezipierte etwa Klemens von Alexandrien die platonische Vorstellung vom doppelten Zweck der Strafe. Eine Strafe diene, so heißt es in Platons Gorgias, entweder der Besserung oder dem abschreckenden Beispiel.[5] Denjenigen, die man noch auf bessere Wege führen könne, habe man genau jenes Maß an Leid zuzufügen, dessen sie zu ihrer Besserung bedürfen. Diejenigen aber, die „unheilbar“ (aniatos) seien, solle man töten, weil sie selbst keinen Vorteil mehr aus einer auf Besserung zielenden Strafe ziehen können und durch ihren Tod die Allgemeinheit wenigstens in Form der Abschreckung moralischen Nutzen ziehe. Diese Argumentation übernahm Klemens von Alexandrien und integrierte sie in die im christlichen Kontext beliebte Leibmetapher: Sei ein Glied des Leibes „unheilbar“ (aniatos) krank, müsse es um der Gesundheit des gesamten Leibes willen abgetrennt werden.[6] Die staatskritische Pointe des Platon, dass nämlich die Schlimmsten der Unheilbaren unter den Tyrannen, Königen und Herrschern (dynastes) zu finden seien,[7] also diejenigen am meisten die Todesstrafe verdient hätten, die sie über andere verhängen, hat Klemens nicht übernommen.

Unbeschadet des Rechtes der weltlichen Gewalt, Todesurteile zu verhängen, gab es im Christentum jedoch auch die Überzeugung, dass es moralisch höherwertig sei, ein solches Urteil nicht zu vollstrecken. Nach Ambrosius von Mailand sei das, was die Amtsgewalt zuteile, eine Sache, was die Barmherzigkeit anrate, jedoch eine andere. Wer ein rechtmäßig vollzogenes Todesurteil vollziehe, sei zwar schuldlos; wer es aber nicht vollziehe, dem gebühre Lob.[8] Dieser Vorstellung entspricht die Praxis, dass Bischöfe ab dem 4. Jahrhundert sich oft für zum Tode Verurteilte einsetzten, um die Vollstreckung dieses Urteils zu verhindern. Dort, wo sie selbst in der Spätantike – wie etwa Augustinus – richterliche Funktionen ausübten, verhängten sie diese Strafe nicht, sondern bemühten sich, den Delinquenten die Möglichkeit zur diesseitigen Buße zu geben anstatt sie, mit ihren Sünden beladen, unmittelbar vor den Richterstuhl Gottes zu stellen.[9]Die christliche Haltung war also ambivalent: Man gestand dem Staat einerseits das Recht zu, die Todesstrafe zu verhängen, versuchte tendenziell aber zugleich, deren Vollstreckung zu verhindern und mäßigend auf die staatliche Gewalt einzuwirken.

Diese Doppeldeutigkeit durchzieht auch das Mittelalter und hält sich bis ins 19. Jahrhundert. Nachdem im frühen Mittelalter – für heutige Leser und ihr bisweilen klischeebesetztes Bild dieser Zeit überraschend – die Todesstrafe nur sehr zurückhaltend und selten verhängt wurde,[10] die christliche Skepsis gegenüber der Todesstrafe und das pastorale Bestehen auf diesseitiger Buße also womöglich Früchte trugen, rückte zur Durchsetzung späterer Pazifizierungsversuche, wie sie die Idee des Gottesfriedens darstellte, die Todesstrafe wieder in den Fokus. „Nach Jahrhunderten, in denen die normativen Texte vor allem Bußkataloge verzeichnet hatten, tritt hiermit scheinbar erstmals wieder eine strafende Autorität in Erscheinung, die sich traut, diese scharfen Strafen zu verhängen. Zwar war die Idee der Todesstrafe und einer herrschaftlichen Strafjustiz nie ganz vergessen worden, doch nur in seltenen Fällen wie Angriffen auf Könige und Große des Reiches wagten die Herrscher, ihre Macht derart klar zu Tage treten zu lassen“[11]. Papst Innozenz III. lehrte demnach – so eine spätere Ergänzung zu einem Brief aus dem Jahr 1208 – dass die weltliche Gewalt (potestas saecularis) „ohne Todsünde ein Bluturteil vollstrecken kann, solange sie zum Vollzug der Strafe nicht aufgrund von Hass, sondern aufgrund eines richterlichen Urteils, nicht unvorsichtig, sondern überlegt, schreitet.“ (DH 795) Dort, wo Bischöfe – etwa in der Reichskirche – selbst weltliche Herrscher waren, kam ihnen auch das Recht zu, eine weltliche Justiz einzusetzen, die die Todesstrafe verhängen konnte. Im Namen von Bischöfen, allerdings in ihrer Eigenschaft als Landesherren, wurden somit ab dem Hochmittelalter Todesurteile gefällt und vollstreckt. Dasselbe galt für den Papst und seinen Kirchenstaat bis zu dessen Auflösung.[12]

Dennoch ist im geistlichen Kontext das Bewusstsein, dass die Todesstrafe ein problematisches Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit ist, nicht abhandengekommen. Das zeigt sich etwa daran, dass Klerikern das privilegium fori zuteilwurde, ihre Angelegenheiten also nicht vor einem weltlichen, sondern einem geistlichen Gericht verhandelt wurden, von dem keine Todesurteile gefällt werden duften. Und die bleibende Reserve gegenüber der Todesstrafe hat in zahlreichen Fällen dazu geführt, dass geistliche Körperschaften, zum Beispiel Klöster, Flüchtige, denen bei Ergreifung die Todesstrafe drohte, aufnahmen und ihnen Asyl gewährten, was etwa in den Habsburgischen Erblanden zur Regierungszeit Maria Theresias dazu führte, dass Geistlichen angedroht wurde, sie als „Übertreter der allerhöchsten Verordnungen“[13] zu bestrafen, wenn sie Deserteure aufnahmen und diese nur unter der Bedingung auslieferten, dass staatlicherseits ein Verzicht auf die Todesstrafe erklärt wurde.

2.2. Die Todesstrafe für christliche Häretiker

Wer, wie die Verfasser des gegen die Änderung des Katechismus gerichteten Appells, meint, die theologische Legitimität der Todesstrafe lasse sich dadurch begründen, dass diese eine „im Wort Gottes enthaltene Wahrheit“ sei, womit sie sich auf das Alte Testament beziehen, verkennt erstens, wie differenziert dieses Problem im Alten Testament behandelt wird, und zweitens, dass das Neue Testament in dieses Gefüge korrigierend eingreift. Für die frühen Christen ist die Unterscheidung zwischen dem, was Gott gebührt, und dem, was dem Kaiser zusteht, konstitutiv (Mt 22,21). Sie unterscheiden die Lebensordnung innerhalb ihrer Gemeinschaft von der staatlichen Gewalt, die Paulus als exousiabezeichnet (Röm 13,1). Die Rechtstexte des Alten Testamentes, in denen Gott zugleich als Gesetzgeber der politischen und der kultischen Gemeinschaft Israels erscheint (z.B. Ex 19-40), der sowohl das regelt, was im paulinischen Sinne der staatlichen exousia zukäme als auch die Ordnung religiösen Lebens festlegt, kennen die skizzierte neutestamentliche Differenzierung nicht. Sie vertreten vielmehr das Ideal staatlich-religiöser Einheit und sind bereit, Verstöße gegen die Integrität dieser Einheit notfalls auch mit dem Tod zu bestrafen. Jesus und die frühen Christen sahen das anders.[14]

Während der Frevler und Gottesfeind im Buch Levitikus getötet werden soll (Lev 24,16), schließt das Neue Testament eine solche Handlung aus, obwohl auch dessen Verfasser den Tatbestand der Gottesfeindschaft und des Frevels kannten. Paulus spricht von „Feinden des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18) und der Jakobusbrief unterstellt Ehebrechern, Freundschaft mit der Welt zu pflegen und daher „Feindschaft mit Gott“ (Jak 4,4) auf sich zu ziehen. Die entscheidende Korrektur zu alttestamentlichen Rechtsvorschriften besteht jedoch darin, dass diese religiösen Tatbestände nicht mehr mit dem Tod bestraft wurden. Im Gegenteil: Die Jünger Jesu sollen „die Feinde lieben“ (Mt 5,44). Dort, wo frevelhaftes Verhalten eine Reaktion der Gemeinde heraufbeschwor, bestand diese nicht in der Anwendung von Gewalt, sondern in sozialen Sanktionen. Auf einen Fall von Unzucht, bei dem ein Mann mit der Frau seines Vaters geschlafen hat, wofür das Buch Levitikus die Todesstrafe vorsieht (Lev 20,11), ordnet Paulus an, den betreffenden Mann (!) aus der Gemeinde auszustoßen und ihn zur Läuterung „dem Satan“ zu übergeben, damit „sein Geist am Tag des Herrn gerettet“ werde (1 Kor 5,1-5). Von der Bestrafung mit dem Tod, wie es das Alte Testament in solch einem Fall vorsieht, oder einer anderen physischen Zuchtmaßnahme ist keine Rede. Das letztgültige Urteil über Leben und Tod, Heil und Verderben des Frevlers wird nämlich Gott überlassen. „Dies ist“, so Rainer Forst, „ein im christlichen Toleranzdenken zentraler Punkt: Auf Erden soll sich kein Mensch ein Urteil anmaßen, das allein Gott zusteht – seine Gerechtigkeit erst wird die strafende sein.“[15]Die frühchristliche Gemeinde verzichtete also auf die körperliche Züchtigung oder gar Tötung von Freveln oder Irrlehrern.

Das änderte sich erst im 4. Jahrhundert durch die zunehmend enger werdende Synthese zwischen der religiösen Ordnung der Kirche und der staatlichen Ordnung des Reiches. So übertrug sich die „in Jahrhunderten ‚gewachsene‘ Pflicht eines Kaisers, durch Herstellung und Wahrung der kultischen Einheit für die pax deorum zu sorgen“[16], auch auf die Rolle, die sich die Kaiser (bis auf Julian Apostata) in der Kirche zuschrieben. Sie sahen sich als Garanten der Einheit, was sich zunächst, etwa durch das Eingreifen Konstantins in den Arianischen Streit, an der reichsrechtlichen Dekretierung dogmatischer Beschlüsse und deren Durchsetzung, zum Beispiel mit Hilfe der Exilstrafe, zeigte. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts steigerten sich diese Intervention bis zur Anwendung physischer Gewalt. Die erste so genannte Ketzertötung fand 385 am kaiserlichen Hof in Trier statt, wo Priscillian, ein aus Iberien stammender, verurteilter Irrlehrer, hingerichtet wurde. Für zahlreiche Bischöfe – und zwar auch solche, die der Lehre des Priscillian ablehnend gegenüberstanden, wie etwa Martin von Tours oder Ambrosius von Mailand – war diese Hinrichtung ein „Skandal, weil eine innerkirchliche, im Grunde theologisch-dogmatische Frage von einem weltlichen Gericht des Kaisers blutig entschieden wurde.“[17] Daher kündigten Martin, Ambrosius und auch Siricius, der Bischof von Rom, den am Prozess gegen Priscillian beteiligten Bischöfen die Kirchengemeinschaft auf. Der Protest tat seine Wirkung: In der Antike ist keine weitere Ketzertötung bekannt und im Oströmischen Reich hat es bis zum Untergang von Byzanz keinen einzigen Fall gegeben, bei dem ein als Irrlehrer Verurteilter wegen seiner religiösen Überzeugung hingerichtet worden wäre.[18]

Der lateinische Westen hat im Mittelalter jedoch einen anderen Weg genommen. Langfristig konnten sich nämlich nicht Gestalten wie Ambrosius oder Martin durchsetzen, sondern die Position ihres jüngeren Zeitgenossen Augustinus, der das compelle intrare aus dem lukanischen Gleichnis vom Festmahl (Lk 14,23) topologisch so ausdeutete, dass der staatlichen Gewalt eine dienende Rolle bei der Herstellung innerchristlicher Rechtgläubigkeit und kirchlicher Einheit zukam, was auch physische Zwangsmaßnahmen gegen Häretiker einschloss.[19] Der so genannte politische Augustinismus, wie er sich seit der Spätantike formierte, ordnete dem Staat einerseits eine gegenüber der geistlichen Gewalt untergeordnete Funktion zu, gab ihm andererseits aber – sofern er bereit war, dem Geistlichen zu dienen – eine sakrale Legitimation.[20]Das führte im Umgang mit Häretikern zu einer fatalen Aufgabenverteilung: Während es der Kirche zustand, die Orthodoxie oder Heterodoxie einer Person festzustellen, übergab sie von ihr als Irrlehrer Angesehene der staatlichen Gewalt, die als weltlicher Arm der Kirche die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsmittel, zu denen ab dem hohen Mittelalter auch wieder verstärkt die Todesstrafe zählte, nutzte, um Häresien scharfrichterlich zu ahnden. Das Vierte Laterankonzil legte diese Aufgabenteilung auch lehramtlich fest. Verurteilte Häretiker wurden den „weltlichen Gewalten oder deren Vögten“ (COD II, 233) übergeben, die dafür sorgten, dass ein kirchliches Urteil, das sich mit dogmatischen Angelegenheiten befasste, zur Verhängung einer weltlichen Strafe führte. Häresie wurde somit als Delikt in den säkularen Rechtsbereich überführt, in dem sie als Majestätsverbrechen gegen einen sich sakral legitimierenden Herrscher galt und von diesem entsprechend hart, auch mit dem Tode, bestraft wurde.[21]

2.3. Die Legitimität der Todesstrafe, durchgängige Lehre der Kirche?

Der Aufruf an die Kardinäle behauptet: „Die prinzipielle Legitimität der Todesstrafe ist die durchgängige Lehre des Lehramtes seit zwei Jahrtausenden.“ Diese These dürfte nach dem Gesagten fragwürdig erscheinen. Denn abgesehen davon, dass die Idee eines „ordentlichen Lehramtes“, die der Aufruf für seine Position in Anspruch nimmt, nicht schon seit zwei Jahrtausenden, sondern erst seit 1863 besteht, wo sie von Pius IX. zum ersten Mal überhaupt in Anspruch genommen wurde (DH 2879), zeigt sich mit Blick auf die kirchlichen Positionierungen zur Todesstrafe ein vielschichtiges Bild. Während man in der frühchristlichen Gemeinde auf jede Form der körperlichen Züchtigung – auch dort, wo alttestamentliche Rechtvorschriften sie anordnen – verzichtete, gestand man der staatlichen Gewalt zu, eine Rechtsordnung festzulegen, der Christen zum Gehorsam verpflichtet waren. Gleichzeitig zeigte sich ein Unbehagen an der Todesstrafe, welches sich darin manifestierte, dass Bischöfe auf ihren Nichtvollzug drängten und stattdessen den Delinquenten irdische Buße zuteilwerden lassen wollten. Während dieses Ideal im frühen Mittelalter teilweise zur Durchsetzung kam, vollzog sich ab dem hohen Mittelalter wieder eine Wende zugunsten der Todesstrafe, deren Rechtmäßigkeit die Kirche anerkannte, sofern ihr ein „wohlüberlegtes“ (DH 795), richterliches Urteil zugrunde lag. Zugleich partizipierte die Kirche indirekt am scharfrichterlichen Handeln des Staates, indem sie der weltlichen Gewalt von ihr als Häretiker betrachtete Personen übergab. Dennoch verging das innerkirchliche Unbehagen an der Todesstrafe nie gänzlich, was sich daran zeigt, dass Geistliche immer wieder intervenierten, um Verurteilte vor dem Vollzug der Strafe zu bewahren. Von einer konsistenten, sich über zwei Jahrtausende durchhaltenden Position zugunsten der Todesstrafe kann also keine Rede sein.

3. Die Entscheidung des Papstes: Die Würde der Person 

Der skizzierte historische Befund darf nicht apologetisch missbraucht werden. Er soll lediglich zeigen, dass die Geschichte nicht so eindeutig ist, wie die für die Todesstrafe streitenden Fundamentalisten sie gerne sehen würden. Trotzdem gilt: Die Kirche hat in ihrem Umgang mit der Todesstrafe große Schuld auf sich geladen. Vor allem die Ketzerprozesse, wo Kleriker in dem Bewusstsein, im Namen der göttlichen Wahrheit zu handeln, Menschen dem Tod preisgaben und gleichzeitig die Illusion aufrechterhalten konnten, selbst reine Hände zu behalten, sind ein Schandfleck in der Geschichte des Christentums, der auch als solcher in Erinnerung bleiben sollte. Eine Gedenkkultur, die nicht nur fremdes Versagen und fremde Gewalt, wie sie den christlichen Märtyrern und Bekennern angetan wurde, sondern auch eigenes Versagen und eigene Gewalt mahnend im Gedächtnis bewahrt, gibt es in der Kirche bislang kaum. Dem ekklesialen Elefantengedächtnis, das von der Kirche erlittenes Unrecht kommemoriert, steht ein fast pathologisches Kurzzeitgedächtnis gegenüber, das von der Kirche verübtes Unrecht, das bis in die jüngste Zeit reicht, allzu schnell vergessen sein lässt. Beide Dimensionen des Erinnerns sind aber wichtig: Die Kirche hält ihre Märtyrer und Confessoren in Ehren, weil sie ihr zeigen, zu welchen Großtaten der Glaube fähig ist. Die Kirche sollte aber nicht nur ihre Rolle als Opfer im Gedächtnis bewahren, sondern auch ihr Auftreten als Täterin, damit sie nicht vergisst, zu welchen Schandtaten der Glaube in der Lage ist. Diese Ambivalenz anzuerkennen, ist Teil jener Ehrlichkeit, ohne die Religion zur Ideologie wird.

Ehrlich ist es auch, sich offen zu zeigen für einen Zuwachs an Erkenntnis, selbst wenn dieser Erkenntnisgewinn Selbstkritik nach sich ziehen sollte. Seitdem im 18. Jahrhundert, ausgehend von den Schriften Cesare Beccarias, die Kritik an der Todesstrafe lauter wurde, haben vor allem im 20. Jahrhundert immer mehr Staaten, die Todesstrafe abgeschafft – vornehmlich, aber nicht nur in Europa. Der US-Bundesstaat Michigan zum Beispiel hat bereits 1846 als eines der ersten Territorien weltweit die Todesstrafe aus seinen Gesetzen getilgt. Auch wenn die Gründe, die gegen die Todesstrafe sprechen, vielschichtig sind, wird ein Argument häufig genannt: die Idee einer unverlierbaren Würde, die auch jenen Menschen zukommt, die die Würde anderer nicht geachtet haben. Die Kirche darf dieses moderne Konzept nicht vorschnell vereinnahmen und für sich reklamieren. Denn die christliche Rede von dignitas bezeichnete oft keine egalisierende Größe, wie sie im Begriff der Menschenwürde ausgesagt wird, sondern eine spezielle Würdestellung der Christen.[22] Dennoch kannte man in der Kirche auch jenseits religiöser Unterschiede Bereiche der intimen Individualität, die jedem Menschen zukamen und die unbedingt – von ihm selbst und anderen – zu achten waren. Thomas von Aquin nennt als Beispiel das Gewissen,[23] was Thomas allerdings nicht zum Gegner der Todesstrafe werden ließ. Hans Joas vertritt die These, dass sich diese Motive christlichen Denkens im Laufe der Geschichte verselbständigten und Einfluss auf die Vorstellung gerechter Strafen ausübte. Das Charakteristische jenes Prozesses, den Joas in Anlehnung am Émile Durkheim als „Sakralisierung der Person“ bezeichnet, und in dem er „einer Weiterführung jüdisch-christlicher Motive“[24] erblickt, zeige sich darin, dass „der Person dieselbe Aura“ zugesprochen werde, wie sie „heiligen Dingen eigen ist.“[25] Für die Bewertung von Verbrechen und Strafe habe dies ambivalente Folgen: Einerseits habe die Idee einer Sakralität jeder Person zur Ablehnung von Folter und Todesstrafe geführt. Andererseits erscheinen Verbrechen umso strafwürdiger, je mehr sie gegen die Sakralität jeder Person verstoßen, so dass sich eine Spannung auftut „zwischen dem Bedürfnis, jeden Verstoß gegen die Sakralität der Person zu sanktionieren, und eben dem Verstoß gegen dieselbe, der im Akt des Strafens selber liegt.“[26] Erfahren Menschen von grausamen Verbrechen, steigt die moralische Entrüstung und Empörung, je sakraler das Leben einer Person eingeschätzt wird. Zugleich besteht aber der sittliche Selbstanspruch, es dem Täter nicht gleichzutun und damit die Sakralität dessen, der die Sakralität anderer verletzt hat, trotz des Verlangens ihn zu bestrafen, nicht zu zerstören.

Papst Franziskus verleiht dieser Entwicklung, die sich – wie gegenüber einer allzu ekklesial-apologetischen Indienstnahme von Joas‘ Ansatz betont werden muss – größtenteils außerhalb der institutionell verfassten Kirche abspielte, aber dennoch christliche Denkmotive verarbeitete, Heimatrecht in der katholischen Kirche. „Lange Zeit wurde der Rückgriff auf die Todesstrafe durch die rechtmäßige Autorität – nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren – als eine angemessene Antwort auf die Schwere einiger Verbrechen und als ein annehmbares, wenn auch extremes Mittel zur Wahrung des Gemeinwohls angesehen. Heute gibt es ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass die Würde der Person auch dann nicht verloren geht, wenn jemand schwerste Verbrechen begangen hat.“ (KKK 2267, neu) Die unverlierbare Würde der Person verbietet es also, auch einen kapitalen Straftäter zu töten. Franziskus setzt sich mit der Aussage, „dass sich ein neues Verständnis vom Sinn der Strafsanktionen durch den Staat verbreitet“ habe (KKK 2267, neu), zusätzlich von der alten Fassung des Katechismus ab. Im Text von 1992 hatte es noch geheißen, die „Strafe soll in erster Linie die durch das Vergehen herbeigeführte Unordnung wiedergutmachen“ (KKK 2266). Nicht der Schutz der Allgemeinheit und auch nicht die Besserung des Täters stehen hier im Vordergrund, sondern die Idee einer durch das Verbrechen gestörten, quasi-metaphysischen Ordnung, die durch die Strafe wiederhergestellt werden müsse. Franziskus hingegen betont, dass eine Strafe für ein begangenes Verbrechen nur zwei Zwecken diene: der Sicherheit der Allgemeinheit und der Besserung des Täters. Um erstere zu gewährleisten, sei die Todesstrafe nicht nötig, da „wirksamere Haftsysteme“ entwickelt worden seien, „welche die pflichtgemäße Verteidigung der Bürger garantieren“, und letzterem sei die Todesstrafe abträglich, weil sie dem Verurteilten „endgültig die Möglichkeit der Besserung nehmen“ würde (KKK 2267, neu).

4. Die Krise lehramtlicher Kontinuitätskosmetik

Die Unterzeichner des Appells behaupten, durch die Entscheidung des Papstes werde „die Glaubwürdigkeit des Lehramtes im Allgemeinen in Zweifel“ gezogen, weil sie einen Bruch mit Schrift und Tradition festzustellen glauben. Wie gesagt: Schrift und Tradition sind bei differenziertem Hinsehen nicht so eindeutig, wie die Unterzeichner suggerieren. Dennoch haben sie dahingehend Recht, dass das Lehramt der katholischen Kirche sich zuvor wohl noch nie in dieser Deutlichkeit gegen die Legitimität der Todesstrafe ausgesprochen und für ihre prinzipielle Abschaffung eingesetzt hat. Damit hat Papst Franziskus etwas Neues gesetzt. Genau darin liegt für Theologen, die sich als Affirmationsinstanz des tagesaktuellen Lehramtes sehen, das Problem: Etwas Neues, das gar nicht erst so tut, als stimme es restlos mit dem Alten überein, darf es nach der Architektur, die das Lehramt im 19. Jahrhundert angenommen hat und die – obwohl Papst Franziskus andere Wege geht – bis heute fortbesteht, nicht geben. Das Lehramt hat sich kontinuitätsideologisch verkapselt.

Es sieht sich nämlich mit folgendem Auftrag ausgestattet: „Das Lehramt muß das Volk vor Verirrungen und Glaubensschwäche schützen und ihm die objektive Möglichkeit gewährleisten, den ursprünglichen Glauben irrtumsfrei zu bekennen.“ (KKK 890) Christen sind offenbar beständig Verwirrungen ausgesetzt, denen sie sich mit den Mitteln ihrer eigenen Vernunft und der Kraft ihres Glaubens nicht entgegenstellen können. Daher sind sie auf die weise Führung des Lehramtes angewiesen, das den „den ursprünglichen Glauben irrtumsfrei“ bewahrt und so allen, die ihm bereitwillig folgen, die „objektive“ Möglichkeit eröffnet, das Richtige zu glauben. Das gelingt dem Lehramt aufgrund einer bestimmten Begabung: der Idee eines nur den Bischöfen und dem Papst zukommenden, übernatürlichen Beistandes, einer göttlichen Assistenz, die oft mit dem Heiligen Geist in Verbindung gebracht wird. Aus Sendung und Begabung leitet das Lehramt seine Tätigkeit ab: Es diene dem Wort Gottes, indem es „nur [!] das lehrt, was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligem Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens schöpft.“ (DV 10) Für alle Christgläubigen ergibt sich daraus eine Verpflichtung, die im Katechismus durch einen Indikativ des Sollens beschrieben wird. „Die Gläubigen rufen sich das Wort Christi an die Apostel ins Gedächtnis: ‚Wer euch hört, der hört mich‘ (Lk 10,16) und nehmen die Lehren und Weisungen, die ihnen die Hirten in verschiedenen Formen geben, willig an.“ (KKK 87)

In einer ideologisch derart fugendicht fermentierten Legitimationserzählung sind explizite Autokorrekturen nicht vorgesehen. Deshalb muss doktrinale Innovation, die es in der Kirche auch und gerade dort gibt, wo behauptet wird, dass man bloß das Überlieferte und schon immer Dagewesene lehre, unter dem Anschein der Kontinuität getarnt werden. Theologische Innovation geht daher meist mit Innovationsverschleierung einher. Dazu haben sich zwei lehramtliche Strategien eingebürgert. Entweder eine Neuerung wird als Neuerung geleugnet und suggeriert, man habe schon immer gelehrt, was man heute lehre, oder aber eine nicht mehr haltbare Position wird stillschweigend fallengelassen in der Hoffnung, dass es niemand bemerke. Ein Beispiel für den erstgenannten Fall ist das Eintreten für Religions- und Gewissensfreiheit, das erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zum Lehrbestand der Kirche gehört (DH 4240). Ihr eigenes Versagen, dass die Kirche also bis zum Zweiten Vaticanum genau das, was sie auf dem Konzil als zur Würde der menschlichen Person gehörig anerkannte, mit aller Gewalt zu unterdrücken suchte, findet sich nirgendwo thematisiert. Dass Gregor XVI. und Pius IX. die Religions- und Gewissensfreiheit noch als einen schieren „Wahnsinn“[27] bezeichnet und dementsprechend verurteilt haben (DH 2915), geht aus dem Konzilstext wie auch aus anderen, vorbereitenden oder im Anschluss an das Konzil veröffentlichten Texten zu dieser Thematik nicht hervor. Der Bruch, den Dignitatis Humanaegegenüber den lehramtlichen Festlegungen vom Ende des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts darstellt, wird nirgendwo thematisiert.[28]

Beispielhaft für das zweite Modell der Lehrentwicklung – das heimliche Auslaufenlassen – steht die kirchliche Position zur Abstammung aller Menschen von Adam und Eva, dem so genannten Monogenismus. Pius XII. hatte noch 1950 gelehrt, dass die Evolutionstheorie nur dann auf den Menschen anwendbar sei, wenn weiterhin daran festgehalten werde, dass alle Menschen im biologischen Sinne von einem Elternpaar abstammen, den als historische Persönlichkeiten gedachten Gestalten Adam und Eva (DH 3897). Diese Festlegung des ordentlichen Lehramtes wurde in der Folgezeit nicht mehr weiterverfolgt und taucht im Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 gar nicht mehr auf. Dabei käme ihr in der magisterialen Architektur der Kirche durchaus tragendes Gewicht zu. Es handelt sich nämlich um eine Doktrin aus dem sogenannten Sekundärbereich, die als nötig erachtet wurde, um ein als geoffenbart geltendes Dogma, die Lehre von der Erbsünde, abzusichern. Das Lehramt hat die Festlegung Pius XII. stillschweigend auslaufen lassen, aber sie offiziell nie korrigiert, weil es das seiner eigenen Logik nach ja gar nicht kann, ohne den Einsturz des selbst errichteten Kartenhauses zu riskieren. Daher verschleiert man lieber die peinliche Lehre Pius XII., um sich und die Menschen, denen „die objektive Möglichkeit“ geschenkt werden soll, „den ursprünglichen Glauben irrtumsfrei zu bekennen“ (KKK 890), in der Illusion irrtumsfreier Kontinuität zu belassen.

Dass dieses Spiel nun von der Spitze der Kirche aus beendet wird und ein Papst sich traut, ohne Verstellungskünste ganz offen das, was „lange Zeit“ gelehrt wurde, dem, was „heute“ zu lehren ist, gegenüberzustellen, ruft in manchen Kreisen einen Zorn hervor, der immer unmäßiger wird und dem die Gabe zur Differenzierung zusehends verlorengeht. Dabei hat es dogmatische Innovation auch in den vergangenen Pontifikaten gegeben. Nur durfte sie nicht als solche benannt werden. Das hat sich nun geändert.

5. Ausblick

Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Kritik an der päpstlichen Lehrposition zur Todesstrafe lediglich pars pro toto für die Unzufriedenheit einer Minderheit von Theologen mit dem Lehrstil des Papstes im Allgemeinen steht. Beim Entzug der kirchlichen Legitimation für die Praxis der Todesstrafe treffen jedoch das „lange Zeit“ und das „heute“ derart sichtbar aufeinander, dass diese Entscheidung zum Stein des Anstoßes wurde. Es bleibt zu hoffen, dass der Papst sich in beiden Fragen – der Art seines Lehrens im Allgemeinen und seiner Lehre zur Todesstrafe im Besonderen – nicht irremachen lässt. Kirchliche Autorität ist kein Medium theologischer Selbstaffirmation. Das mussten viele Theologen in den vergangenen Pontifikaten schmerzhaft erfahren und das müssen andere Theologen, denen dies bisher erspart zu bleiben schien, unter Papst Franziskus erst noch lernen.


Notes

[1] Vgl. An Appeal to the Cardinals of the Catholic Church (15.08.2018), in: https://www.firstthings.com/web-exclusives/2018/08/an-appeal-to-the-cardinals-of-the-catholic-church [Zugriff: 20.09.2018]. Die folgenden Zitate sind dem Aufruf entnommen.

[2] Vgl. Johannes Schnocks, Das Alte Testament und die Gewalt. Studien zu göttlicher und menschlicher Gewalt in alttestamentlichen Texten und ihren Rezeptionen, Neukirchen-Vluyn 2014, 75-88.

[3] Magnus Striet, Ius divinum – Freiheitsrechte. Nominalistische Dekonstruktionen in konstruktivistischer Absicht, in: Stephan Goertz, Magnus Striet (Hg.), Nach dem Gesetz Gottes. Autonomie als christliches Prinzip (Katholizismus im Umbruch 2), Freiburg i. Br. 2014, 91–128, hier: 104f.

[4] Zu historischen Studien über das Problem der Todesstrafe aus theologischer Sicht vgl. Alberto Bondolfi, Ecclesia non sitit sanguinem. Die Ambivalenz von Theologie und Kirche in der Frage nach der Legitimation der Todesstrafe, in: Ders., Helfen und Strafen. Studien zur ethischen Bedeutung prosozialen und repressiven Handelns (Studien der Moraltheologie 4), Münster 1997, 103-121. Bernhard Schöpf, Das Tötungsrecht bei den frühchristlichen Schriftstellern bis zur Zeit Konstantins, Regensburg 1958. Eine komprimierte, aber informative Darstellung bietet: Oliver Michael Timothy O’Donovan, Todesstrafe, in: Theologische Realenzyklopädie 33 (2002), 639-646.

[5] Vgl. Platon, Gorgias, 525b-526b, zitiert nach: Platonis Opera III, herausgegeben von John Burnet, Oxford 1903.

[6] Vgl. Klemens von Alexandrien, Stromata I 27,171,4, zitiert nach: Stromata I-VI, herausgegeben von Otto Stählin, neu herausgegeben von Ludwig Früchtel (Griechische Christliche Schriftsteller, Clemens Alexandrinus II), Berlin 41985.

[7] Vgl. Platon, Gorgias, 525d.

[8] Vgl. Ambrosius von Mailand, Epistola 25,3 (1040B), zitiert nach: Patrologia Latina XVI, herausgegeben von Jean-Paul Migne, Paris 1845.

[9] Vgl. ausführlich: Daniel E. Doyle, The Bishop as Disciplinarian in the Letters of St. Augustine (Patristic Studies 4), New York u.a. 2002.

[10] Vgl. Gerd Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), 264-290.

[11] Matthias Schmoeckel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung. 2000 Jahre Recht in Europa – ein Überblick, Köln 2005, 105.

[12] Vgl. die große Strafordnung von Gregor XVI., Regolamento sui delitti e sulle pene, in: Sergio Vinciguerra (Hg.), I regolamenti penali di Papa Gregorio XVI per lo Stato Pontificio (1832), Padua 2000, 83-121.

[13] Karl Härter, Vom Asylrecht zum politischen Asyl. Asylrecht und Asylpolitik im frühneuzeitlichen Alten Reich, in: Martin Dreher (Hg.), Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion (Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte 15), Köln 2003, 301-336, hier: 311.

[14] Vgl. zum Folgenden: Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 52009, 245-262.

[15] Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 52017, 65.

[16] Klaus M. Girardet, Die Konstantinische Wende und ihre Bedeutung für das Reich. Althistorische Überlegungen zu den geistigen Grundlagen der Religionspolitik Konstantin d. Gr., in: Ekkehard Mühlenberg (Hg.), Die Konstantinische Wende, Gütersloh 1998, 9-122, hier: 100.

[17] Friedrich Prinz, Der Testfall. Das Kirchenverständnis Martin von Tours und die Verfolgung der Priscillianer, in: Hagiographica 3 (1996), 1-13, hier: 9.

[18] Vgl. Angenendt, Toleranz und Gewalt, 250.

[19] Vgl. Jörg Trelenberg, Das Prinzip ‚Einheit‘ beim frühen Augustinus (Beiträge zur historischen Theologie 125), Tübingen 2004, 137.

[20] Zum Begriff des politischen Augustinismus vgl. Henri-Xavier Arquillière, L’augustinisme politique. Essai sur la formation des théories politiques au Moyen-Age, Paris 21955. Zur Sache vgl. Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft. Mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Freiburg im Breisgau 32014, 70-74.

[21] Vgl. ausführlich Sascha Ragg, Ketzer und Recht. Die weltliche Ketzergesetzgebung des Hochmittelalters unter dem Einfluß des römischen und kanonischen Rechts (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 37), Hannover 2006.

[22] So etwa Ambrosius von Mailand, De vocatione gentium 2,1 (1105D), zitiert nach: Patrologia Latina XVII, herausgegeben von Jean-Paul Migne, Paris 1845.

[23] Vgl. William J. Hoye, Die Wahrheit des Irrtums. Das Gewissen als Individualitätsprinzip in der Ethik des Thomas von Aquin, in: Jan A. Aertsen, Andreas Speer (Hg.), Individuum und Individualität im Mittelalter (Misellanea Mediaevalia 24), Berlin u.a. 1996, 419-435, hier: 423.

[24] Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, 106.

[25] Ebd., 86.

[26] Ebd., 98.

[27] Angenendt, Toleranz und Gewalt, 139.

[28] Vgl. Karl Gabriel, Christian Spieß, Katja Winkler, Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit? Faktoren der Erneuerung der katholischen Kirche (Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt 2), Paderborn 2016, 301.

Auctor

Michael Seewald, geboren 1987, in Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Münster sowie Principal Investigator am Exzellenzcluster „Religion und Politik“.

Address: Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Katholisch-Theologische Fakultät, Seminar für Dogmatik und Dogmengeschichte, Johannisstrasse 8-10, 48143 Münster.



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