Dominik Burkard

« Naturwissenschaft und Kirche – in unversöhnbarem Gegensatz? Ein Blick aus kirchenhistorischer Perspektive »

Linda Hogan, João J. Vila Chã, Michelle Becka

Concilium 2019-3. Technologie – Fluch oder Segen?
Concilium 2019-3. Technology: between Apocalypse and Integration
Concilium 2019-3. Tecnología?
Concilium 2019-3. Tecnologia: tra apocalisse e integrazione
Concilium 2019-3. Technologie: entre apocalypse et intégration
Concilium 2019-3. Tecnologia: entre o apocalipse e a integração


In den 1960er Jahren erregte das Schlagwort vom „katholischen Bildungsdefizit“ Aufsehen: Der Jesuit Karl Erlinghagen war bei einer Untersuchung der Fächerwahl von Studierenden unter konfessionsspezifischer Fragestellung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Katholiken in sämtlichen Studienbereichen – außer der Theologie – weniger Studenten stellten, als sie dem Bevölkerungsproporz nach sollten. Völlig unterrepräsentiert aber waren sie mit 9,7 % in den technischen Fachrichtungen und mit 11,1 % in den Naturwissenschaften. Die Studie wies erstmals empirisch nach, was nicht zuletzt in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts allenthalben proklamiert worden war: Die konfessionsspezifische „Rückständigkeit“, ja „Inferiorität“ der Katholiken in Bezug auf Bildung und Wissenschaft, letztlich die Inkompatibilität von Katholizismus und „Moderne“. 

Die Erklärungsversuche für diesen Befund reichen von wirtschaftlich-sozialen oder bildungspolitischen Ansätzen bis hin zur Benennung von Ursachen, die in der Theologie selbst zu finden sind. Die lange Beheimatung des Katholizismus in vorwiegend bäuerlich-ländlichen Strukturen, die Wertschätzung des „Heiligen“ in Verbindung mit einer ausgedehnten (arbeitsverhindernden) Feiertagskultur, ein defizitäres Bildungssystem, traditionell a-literale katholische Mechanismen der Wissensvermittlung (Symbolik, Ritus, Kult) im Gegensatz zum protestantischen „sola scriptura“-Verständnis, die wirtschaftliche Langzeitfolge eines unterschiedlichen Rechtfertigungsverständnisses (Max Webers „calvinistische Wirtschaftsethik“).

Zeigte Erlinghagen am Beispiel des deutschen Katholizismus noch für das 20. Jahrhundert eine deutliche Distanz zur Technik und zu den Naturwissenschaften, so scheint dieser Befund ganz zur sogenannten „leyenda negra“ zu passen, die im 18. Jahrhundert in der spanischen Geschichtsschreibung aufkam und auch in Portugal und Italien rezipiert wurde: Nach ihr habe die katholische Kirche, um ihr Deutungsmonopol zu sichern, neu aufkommende konkurrierende Deutungssysteme – und so eben auch die (Natur-) Wissenschaften – mit Hilfe repressiver Normierungsmechanismen (Zensur und Inquisition) bekämpft. Infolge dieser systemimmanenten Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche seien die katholischen Länder in ihrer weiteren kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung hinter protestantisch geprägten Ländern zurückgeblieben. 

Doch: Wie belastbar ist die „leyenda negra“? Lässt sich die These einer Dichotomie von Kirche und Naturwissenschaft tatsächlich erhärten? Im Folgenden soll – auf der Basis der Inquisitionsforschung der zurückliegenden 25 Jahre – exemplarisch gezeigt werden, wie Römische Inquisition und kirchliche Zensur (als Organe des kirchlichen „Lehramts“) in der Neuzeit mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt umgingen. 

1. Physik: Der „Fall Galileo Galilei“ und die Folgen

Als bekanntestes Beispiel kirchlicher „Wissenschaftsfeindlichkeit“ gilt der Fall des italienischen Universalgelehrten Galileo Galilei (1564-1642). Im Zusammenhang mit ungedruckten Briefen, die nach der Erfindung des Fernrohrs in Rom zirkulierten, ließ die Inquisition 1616 erstmals die kopernikanische Lehre durch ein Dekret der Indexkongregation verbieten. Gleichzeitig wurde die Papst Paul III. gewidmete Schrift „De revolutionibus orbium coelestium“ (1543) des Frauenburger Domherrn, Theologen und Arztes Nikolaus Kopernikus (1473-1543) sowie die „Lettera sopra l’opinione della mobilità della Terra“ des Theologen und Astronomen aus dem Karmeliterorden, Paolo Antonio Foscarini (1565-1616), auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Interessanterweise verurteilte die Inquisition die kopernikanische Lehre jedoch nicht als häretisch (also als hartnäckige Leugnung einer definierten Wahrheit), sondern lediglich als „falsch“ und „der Heiligen Schrift widersprechend“. Auch wurde „De revolutionibus orbium coelestium“ mit dem Zusatz „donec corrigatur“ verboten, womit die Möglichkeit der Beseitigung anstößiger Stellen eingeräumt wurde. 

Ähnliches gilt für das Verfahren, das die Römische Inquisition 1632 gegen Galilei einleitete, weil er es gewagt hatte, in seinem „Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo“ das heliozentrische Weltbild zu verteidigen. Das Verfahren endete bekanntlich mit dem Widerruf Galileis. In seiner langen Wirkungsgeschichte wurde der „Fall Galilei“ zum Signum der Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche und zum Fanal des Auseinanderdriftens von Glaube und (Natur-)Wissenschaft. Doch zurecht? 

Noch die allgemeinen Regeln des Tridentinischen Index hatten sich damit begnügt, generell solche Bücher zu verbieten, die astrologische oder magische Aussagen machten – eine Maßregel, die in durchaus „aufklärerischem“ Sinne zu verstehen ist, sollte damit doch einem grassierenden Aberglauben begegnet werden. 

Mit dem Verbot des kopernikanischen Weltbilds wagte sich die Inquisition dann allerdings auf ein neues Gebiet, das der Naturwissenschaften. Das Verbot war durchaus differenziert. Denn Galilei beanspruchte, eine unumstößliche Wahrheit zu lehren. Gegen diese gab es (im Rahmen der damaligen Diskussion) jedoch ernstzunehmende Argumente, denn das geozentrische Weltbild beruhte auf der alltäglichen Beobachtung der Himmelskörper. Zudem schien Galileis Lehre im Widerspruch zu biblischen Aussagen – und damit zur göttlich geoffenbarten Wahrheit – zu stehen (Jos 10, 12-14; Dan 10, 13). 

Mehrfach postulierte die Inquisition deshalb, das heliozentrische Weltbild könne nicht als feststehende Tatsache, sondern nur als Hypothese formuliert werden. Auch dürften daraus keine weiterreichenden Folgen für die Interpretation der Hl. Schrift gezogen werden. Damit anerkannte man die mathematisch-physikalischen Berechnungen an sich also durchaus, lehnte aber weitergehende Schlüsse vor allem theologischer Art ab. Dass es genau darum ging, keine Gegensätze zu konstruieren, zeigt die Haltung des Kontroverstheologen Robert Bellarmin (1542-1621), der 1616 als Vorsitzender der Indexkongregation die Ansicht vertrat, eine mathematische Naturlehre könne keine absolute Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen, weil sie sich nur auf akzidentelle Verhältnisse stütze, also auf sinnliche, jederzeit veränderliche Phänomene. Ob die theologischen Zensoren aber auch bereits die Konsequenz der Heliozentrik sahen: die Verdrängung des Menschen aus seiner angestammten, durch die biblische Schöpfungsgeschichte begründeten Stellung als Krone der Schöpfung? Und dass in einer rein mechanisch erklärten Welt auch Gott als der aristotelisch begründete „unbewegte Beweger“ fraglich werden musste?  

Die Spannung zwischen physikalischer Weltkonstruktion und religiöser Überzeugung besaß im 16. Jahrhundert freilich längst noch nicht jene Schärfe eines prinzipiellen Gegensatzes, wie sie später zwischen physikalischer Weltkonstruktion und religiöser Überzeugung konstruiert wurde. Obwohl Galilei in seinen „Discorsi e dimostrazioni matematiche“ (1638) die Welt als ein rein mechanischer Zusammenhang beschrieb, zog er, dem der Glaube Selbstverständlichkeit war, aus diesem Sachverhalt keine atheistischen Schlüsse. 

In der Folge konnten die Erfahrungsargumente der Geozentrik durch eine verbesserte Beobachtung der Sternbewegungen zwar nur schrittweise und manche auch erst sehr spät entkräftet werden, doch das heliozentrische Weltbild setzte sich rasch durch. Es kam zu einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel: Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis und also Norm der Wahrheit wurde immer ausschließlicher das Experiment allein, das mathematisch Quantifizierbare, während andere Weisen der Erkenntnis – die philosophische und theologische Reflexion – immer mehr das Odium der Spekulation und Unwissenschaftlichkeit erhielten.

Gegen diese Verabsolutierung der physikalischen Welterklärung hielt die Kirche an der metaphysischen Weltordnung fest – und damit auch an ihrem Urteil von 1616 und 1632. Erst Benedikt XIV. (1675-1758) suchte dem zunehmenden Odium der Wissenschaftsfeindlichkeit der Inquisition den Boden zu entziehen, indem er nicht nur eine Reform der Institution in Angriff nahm – zu zensierenden Autoren sollten angehört werden und einen Verteidiger zur Seite gestellt bekommen – sondern auch die Weisung gab, jenes Verbotsdekret für Schriften, die das heliozentrische Weltbild verteidigten, zu eliminieren. Zu einer Zeit, in der die Heliozentrik zur allgemein akzeptierten naturwissenschaftlichen Erkenntnis geworden war, zeigte sich das Lehramt also durchaus zustimmungsbereit. Zensoren sollten nicht mehr gezwungen sein, gegen etwas vorzugehen, das zur wissenschaftlichen opinio communis geworden war. Doch erst 1992 wurde Galilei durch Johannes Paul II. auch öffentlich rehabilitiert. 

2. Medizin: Eine römische Hexenprozess-Instruktion als „Modernisierung“

Im Zusammenhang mit der „Rückständigkeit“ der Römischen Inquisition wird meist auch ein anderer Punkt genannt: das Phänomen der neuzeitlichen Hexenverfolgungen. Auch für diese – und also für Aberglauben und irrationale Methoden der Wahrheitsfindung – wird immer wieder die Inquisition verantwortlich gemacht. 

Dem unterstellten Zusammenhang stehen allerdings zwei einfache Beobachtungen entgegen: Zum einen haben viele regionale Studien gezeigt, dass es sich bei dem verbreiteten Hexenwahn um kein konfessionsspezifisches Phänomen handelte. Zum anderen: Dort wo es neuzeitliche Inquisitionen gab, also in den romanischen Ländern, wurden nur wenige Menschen als Hexen umgebracht. Weshalb?

Eine Erklärung bietet der Vergleich der zu Beginn des 17. Jahrhunderts von der Römischen Inquisition herausgegebenen Hexeninstruktion mit dem in Deutschland üblichen Verfahren. Er zeigt, dass das letztere ganz auf Denunziation und Folter als wesentliche Teile des Prozesses aufgebaut war. Dies hängt zusammen mit der in Nordeuropa verbreiteten Vorstellung, dass sich die Hexen alle vom „Hexensabbat“ her kannten. Die Folge: Hatte man eine Hexe überführt, so konnte man aus ihr die Namen anderer Hexen herauspressen. 

Zwar hielt auch die römische Inquisition schwarze Magie und Schadenzauber materialrechtlich für grundsätzlich möglich. Formalrechtlich überwog jedoch die Skepsis gegenüber dem zu erbringenden praktischen Nachweis. Deshalb stellte die Inquisition erhöhte Anforderungen an die Beweisführung. Sie forderte nicht nur eine ausgiebige Prüfung aller Indizien, sondern sah vielmehr im Verfahren – und dies ist entscheidend – zweimal die Hinzuziehung eines erfahrenen Arztes vor. Während man also in Nordeuropa an Verschwörung und an eine kollektive Schuld glaubte, ging die Römische Inquisition von krankhaften Erscheinungen und Einzelfällen aus. Um diesen Umständen gerecht zu werden, integrierte sie die Medizin als Naturwissenschaft in ihr Handlungssystem und versuchte auf diese Weise, zum einen das Phänomen „Hexe“ zu rationalisieren, zum anderen aber dessen Auswüchse mit Hilfe naturwissenschaftlichen Wissens einzudämmen. 

3. Evolution: Ein zweiter Sündenfall wider die Naturwissenschaft?

„Eben hatte Kopernikus den Blick der Menschheit in unermessliche Fernen des Weltalls erweitert, und in dem Augenblick, da unsere Universität gegründet wurde, sah sich die Theologie in einen Entscheidungskampf, einen der größten und folgenschwersten ihrer Geschichte, gestellt. Es schien, wie im 19. Jahrhundert Feuerbach es blasphemisch ausdrückte, da in überwältigender Majestät der Tempel der Natur sich öffnete, für den alten Gott Wohnungsnot eingetreten zu sein. Und doch brauchte es noch 3 Jahrhunderte, bis das neue Weltbild in seinen Konsequenzen sich auswirkte. […] Zum Blick ins unendlich Große kam der Blick ins unendlich Kleine, zum Teleskop das Mikroskop […] Dazu öffnete der bis dahin verschlossene Erdball seine Archive und schien eine andere Schöpfungsgeschichte zu erzählen als Bibel und Theologie. Darüber erschrak die Theologie“. 

Mit diesen Worten begann 1909 der Würzburger Dogmatiker Franz Xaver Kiefl (1869-1928) seine offizielle Rede als Rektor der Universität. Kiefl machte zwei Gründe namhaft, weshalb die Theologie allen Versuchen, „mit mechanistischen Methoden in die Rätsel des Lebendigen einzudringen“, Misstrauen entgegengebracht habe: Zum einen müsse die mechanische Auffassung oft für „seichte, materialistische Versuche“ herhalten, die das Geheimnisvolle, das Inkommensurable in der Natur wegdeuteten und den transzendenten Charakter der Dinge sowie alle „vor und über der Entwicklung stehenden idealen Lebenswerte“ leugneten. Zum anderen scheine der Mechanismus „auf den blinden Zufall als das A und O des Weltgeschehens zu führen“. 

Tatsächlich war es im 19. Jahrhundert – vor allem mit der Entdeckung der Evolution – zur Herausbildung der modernen, immer stärker spezialisierten Naturwissenschaften gekommen, infolgedessen aber zu einer Explosion des Wissens und damit zu einem neuen Paradigmenwechsel. Und tatsächlich wurde aufs Neue, nun aber in der ganzen Schärfe des Kampfs um Welterklärung und Weltanschauung, die Frage nach der Vereinbarkeit biblisch-religiös tradierter Schöpfungsvorstellungen mit den Erkenntnissen dieser „moderner“ Wissenschaft gestellt. 

Es waren vor allem die Popularisierer und „Designer“ des neuen Wissens, die einen schroffen Gegensatz konstruierten. Ernst Haeckel (1834-1919) etwa, der den religiösen Glauben nur mehr als Begleiterscheinung einer noch nicht zu vollem Denken befähigten tierischen Organisationsstufe ansah und in seinem Bestseller „Welträtsel“ (1899) einen „unversöhnlichen Widerspruch“ zwischen dem „Wunderglauben“ an eine göttliche Offenbarung und dem „natürlichen Glauben der Vernunft“ proklamierte. „Die wahre Offenbarung, d.h. die wahre Quelle vernünftiger Erkenntnis, ist nur in der Natur zu finden. […] Jeder vernünftige Mensch mit normalem Gehirn und normalen Sinnen schöpft bei unbefangener Betrachtung aus der Natur diese wahre Offenbarung und befreit sich damit von dem Aberglauben, welchen ihm die Offenbarungen der Religion aufgebürdet haben“.

Die Reaktion von Theologie und Kirche auf solche Schlüsse war freilich ablehnend. Und doch ließ man sich nicht dazu hinreißen, die Evolution an sich in Frage zu stellen. Dies zeigt wieder die Praxis der Römischen Inquisition. Die Schriften der führenden Vertreter der Evolutionstheorie wanderten nämlich keineswegs auf den „Index der verbotenen Bücher“. Nicht einmal Haeckel tat man – wahrscheinlich aufgrund der Offensichtlichkeit seiner Feindseligkeit – die Ehre einer amtlichen Verurteilung an. Gleichwohl setzte man sich mit der Evolutionstheorie selbst und ihren prominenten Vertretern auseinander, wenn auch nur indirekt über die Beschäftigung mit katholischen „Evolutionisten“, die zwischen den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und dem christlichen Glauben bzw. den biblischen Schöpfungsaussagen zu vermitteln suchten. 

Ins Visier der Glaubenshüter gerieten etliche Werke, unter anderem eines des französischen Dominikaners Dalmas Leroy (1828-1905). Dieser vertrat die Auffassung die Bibel erklärte zwar dass, aber nicht wie Gott die verschiedenen Arten produziert habe; deshalb könne das Modell, das die Evolutionstheorie hierfür anbiete, auch nicht im Gegensatz zur Hl. Schrift stehen. Die Annahme fester Arten sei nichts anderes als eine volkstümliche, aus dem Anschein entstandene Überzeugung. Als Zeuge der „Tradition“ schien – mit seiner allegorischen Auslegung der Schöpfungsgeschichte, der Lehre von den „rationes seminales“ und seinen Überlegungen zum Ursprung der menschlichen Seele – noch am ehesten Augustinus mit der Evolutionstheorie verknüpfbar zu sein.  

Der amerikanische Spiritaner und Physiker John Zahm (1851-1921) vertrat in seiner Schrift „Evolution and Dogma“ (1896) die Ansicht, das Leben habe sich in der Materie mittels der Wirksamkeit allein chemischer und mechanischer Kräfte entwickelt, der Ur-Einzeller sich aufgrund günstiger Bedingungen vervollkommnet und nach vielen zehntausend Jahren vom pflanzlichen Zustand zum tierischen gewechselt. Die gleichen Phasen einer fortwährenden Verbesserung hätten den Organismus des ersten Tieres begleitet, sodass das Tier von den untersten Formen des empfindsamen Lebens zu einer Form aufstieg, die mehr oder weniger der des Menschen ähnelte. Dieser aber sei von Gott nicht in seiner Körperlichkeit neu geschaffen worden, sondern durch die Beseelung des Körpers eines menschenförmigen Tieres, das mittels Evolution aus der anorganischen Materie entstanden war.

Demgegenüber verteidigte Henry de Dorlodot (1855-1929), Theologe und Geologe an der Katholischen Universität Löwen, eine „absolute natürliche Evolution“, die jedes spezielle Eingreifen Gottes, nicht nur zu Beginn des vegetativen, sondern auch zu Beginn des sensitiven und menschlichen Lebens, verneinte. 

Gerade im Fall Dorlodots votierten die römischen Konsultoren und Kardinäle – angesichts der Komplexität des Themas – dafür, vor einer endgültigen Entscheidung die Haltung der Kirche zu den Fragen der Evolution zu überprüfen. Dazu kam es allerdings nicht. Rafael Merry del Val (1865-1930), der Chef der päpstlichen Behörde, gab wenig später gegenüber dem Mechelner Bischof Désiré Kardinal Mercier (1851-1926) die Erklärung ab, das Sanctum Officium beabsichtige nicht, sich vom wissenschaftlichen Standpunkt aus über den Evolutionismus zu äußern. Und auch die Bibelkommission werde das wissenschaftliche Problem der Transformation der pflanzlichen Arten oder der niedrigen tierischen Arten zum Leib des Menschen nicht beurteilen. 

Damit war angedeutet, wo das eigentliche Problem der Theologie mit der Evolution lag: auf dem exegetischem Gebiet. Zurecht wies Mercier darauf hin, der „Transformismus“ sei, als Theorie oder auch nur als wissenschaftliche Hypothese, von den meisten Gelehrten in seinem Grundsatz akzeptiert. Sein Vorschlag, angesichts der Bedeutung der Sache eine kompetente Kommission aus Gelehrten, Philosophen, Theologen und Exegeten einzusetzen, um die Fragen der Entstehung der Lebewesen und der Differenzierung der Organismen in ihren möglichen Beziehungen zur geoffenbarten Lehre zu studieren, wurde allerdings nicht aufgegriffen. Das Lehramt war offenkundig gewillt, sich strikt auf seinen genuinen Kompetenzbereich zu beschränken und sich nur dort einzumischen, wo die Naturwissenschaft ihrerseits ihre Grenzen überschritt und ins theologische Gebiet wechselte. Hatte man also aus dem Fall Galilei gelernt?

4. Quantitativer Ansatz:  Ernüchternder Befund und Versuch einer Erklärung

Die Frage, ob der Römischen Inquisition als einer der wichtigsten Instanzen kirchlicher Zensur die Verantwortlichkeit für eine erschwerte Entwicklung der Naturwissenschaft zuzuschreiben ist, lässt sich auch durch eine quantitative Analyse untersuchen. So stellte Ugo Baldini auf der Basis des Index librorum prohibitorum von 1819 alle „naturwissenschaftlichen“ Werke zusammen, die von der päpstlichen Zensur im Laufe von 250 Jahren verurteilt wurden, wobei er einen sehr weiten Begriff von „Naturwissenschaft“ zugrunde legte und alle Werke berücksichtigte, die in thematischer oder methodischer Hinsicht der heutigen Bedeutung irgendwie nahe kamen. Fachliteratur über Astronomie, Kosmologie, mathematische Physik, physikalische Geographie, Anatomie, Medizin, Zoologie, Chemie und Alchemie ebenso wie Schriften zur Astrologie mit astronomischen, experimentell-physikalischen oder chemischen Anteilen, aber auch Schriften zur Theologie, in denen kosmologische und wissenschaftliche Probleme besonders hervorgehoben wurden, sowie Enzyklopädien, denen bei der Verbreitung moderner Vorstellungen von der Natur eine besondere Funktion zukam.  

Das Ergebnis: Indiziert wurden zwischen 1559 und 1819 lediglich 124 Bücher „naturwissenschaftlichen“ Inhalts – gemessen an der Buchproduktion eine nur sehr geringe Anzahl. Von diesem Befund ausgehend, stellt sich die grundsätzliche Frage, ob eine signifikante Korrelation zwischen publizierten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und kirchlicher Zensur überhaupt vorliegt. 

Gewisse Beobachtungen relativieren den Befund: So war der „Index librorum prohibitorum“ trotz seines universalkirchlichen Anspruchs zumindest partiell „italozentriert“ (ca. 30 %). Dazu kommt, dass den kurialen Behörden eine gewisse Unprofessionalität unterstellt werden muss – obwohl unter den Mitgliedern der Kongregationen teils so bedeutende Wissenschaftler waren wie der von Galilei beeinflusste Mathematiker Michelangelo Ricci (1619-1682) oder François Jacquier OFM (1711-1788) und Thomas Le Seur OFM (1703-1770), deren Kommentare über Newtons „Principia“ zu den besten zählen. 

Nicht zuletzt lässt der Befund aber nach den Auswahlkriterien fragen: Weshalb und wann wurde eine Schrift überhaupt von Inquisition oder Indexkongregation überprüft? Die vorschnelle Antwort, die „Bedeutung“ einer Schrift müsse wohl ein ausschlaggebendes Kriterium gewesen sein, scheint zweifelhaft. Trat die Relevanz einer Theorie doch meist nicht unmittelbar sondern erst im weiteren Verlauf der wissenschaftlichen Entwicklung zutage. Sie eignete sich also kaum als Maßstab für die Indizierungspraxis der kurialen Behörden. 

Es lassen sich jedoch andere Kriterien für die Zensur einer Schrift oder Theorie dingfest machen: 

a) Das Kriterium der theologischen Relevanz. Die gängige Schlussfolgerung, naturwissenschaftliche Werke seien wegen ihrer wissenschaftlichen Theorien verboten worden, ist in vielen Fällen falsch. Vielmehr lässt sich zeigen, dass diese Schriften abgelehnt wurden, weil sie – manchmal auch nur ganz am Rande (in Einführung oder Widmung) – religiös inopportune Ansichten beinhalteten. Oder weil anatomische Bücher etwa als moralisch bedenklich galten; weil physikalische Werke vielleicht Abschnitte enthielten, in denen es um Astrologie und Magie ging. Meist hatten die Zensoren gegen die rein physikalische Bedeutung gewisser Theorien oder Disziplinen überhaupt nichts einzuwenden, doch betrachtete man deren historische oder konzeptuelle Verknüpfung mit religiösen und ethischen Thesen als bedenklich oder gefährlich. Die Verbote solcher Schriften hatten im Grunde also mit ihren naturwissenschaftlichen Inhalten im modernen Sinn wenig zu tun. 

Nicht immer war übrigens für die Nichtspezialisten – und dies dürften die meisten Zensoren auf den Gebieten naturwissenschaftlichen Forschens tatsächlich gewesen sein – der Widerspruch einer Theorie zur traditionellen Kosmologie offensichtlich. So stellte etwa die Mechanik Newtons, abgesehen von ihren Implikationen in Bezug auf die Struktur des Sonnensystems, viele Grundvoraussetzungen der traditionellen Kosmologie auf den Kopf; aus theologischer Sicht aber blieb sie eine scheinbar „neutrale“ Theorie. Erstaunlich auch, dass von den mehreren Hundert Veröffentlichungen, die seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts den Grundstein für die geologische Zeitrechnung und die Paläontologie legten, nahezu keine beanstandet wurde, obwohl sie Auswirkungen auf die biblische Chronologie hatten und dem Text der Genesis allmählich seine physikalische und historische Wahrheit auch aberkannt wurde. Die Schriften blieben unbehelligt, weil hier eben nur die Phänomene untersucht wurden, unabhängig von ihren anthropologischen, philosophischen oder religiösen Implikationen.

Unterschieden wurde also offenbar zwischen Schriften, die rein naturwissenschaftlich waren, und solchen, die darüber hinausgingen und mit „ideologischen“ Thesen die Religion selbst tangierten. Tendenziell schritten die Kongregationen beim Organischen eher ein als beim Anorganischen (Geologischen), bei der Anthropologie eher als bei der Zoologie, und innerhalb dieser wieder eher bei der Kulturanthropologie mit ihren Vorstellungen über menschliches Verhalten und ethische Werte als bei dem, was man heute als medizinische Anthropologie bezeichnen würde. Insgesamt lässt sich festhalten: Die Zensur wandte sich nicht gegen jede beliebige wissenschaftliche Neuerung, gegen die wissenschaftliche Erkenntnis im Allgemeinen oder gegen ein experimentelles Wissenschaftsmodell. Beanstandet wurden vielmehr jene Teile und Aspekte des wissenschaftlichen Denkens, die eine direkte und ausdrückliche Herausforderung des traditionellen christlichen Weltbilds darstellten.

b) Neben dem Kriterium der theologischen Relevanz spielte auch das Kriterium der Öffentlichkeit eine Rolle. In einem System, das der Geltendmachung bzw. Umsetzung theologischer und prozessualer Normen einen relativ großen Ermessensspielraum zugestand, wurden Zweckmäßigkeit und Folgen einer Entscheidung durchaus in Betracht gezogen. Dazu passt die Beobachtung, dass oft nicht die für eine Theorie zentralen Werke auf dem Index landeten, sondern solche, die zur Verbreitung der Thesen auf eher populäre Art beitrugen. Auch im Bereich „Kosmologie, Struktur des Universums und Himmelsmechanik“ wurden – mit den oben genannten Ausnahmen – fast nur populärwissenschaftliche Werke indiziert. 

c) Durchaus berücksichtigt wurde im Übrigen auch das wissensinterne Kriterium der Wahrscheinlichkeit. Erinnern wir uns: Kopernikus‘ Schrift „De revolutionibus orbium coelestium“ wurde nicht „absolute“, sondern „donec corrigatur“ verboten. Kopernikus wurde also die Möglichkeit der Beseitigung anstößiger Stellen eingeräumt. Dies war möglich, weil sein technischer Apparat als eine Reihe „mathematischer“ Aussagen betrachtet wurde, die an sich richtig waren und mit deren Hilfe die Himmelsphänomene beschrieben und vorhergesehen werden konnten. Die Grundthese des Werks aber, also die einer bestimmten Anordnung der Sonne und der Planeten im Weltraum hielt man für eine physikalische Behauptung. Eine Korrektur brauchte folglich nur die (wenigen) Sätze des Werks betreffen, in denen diese These für eine Beschreibung des realen Kosmos ausgegeben wurde.

Schluss

Die jüngere Inquisitionsforschung konnte die These der „leyenda negra“ vom Zusammenhang zwischen Inquisition und wissenschaftlicher Rückständigkeit nicht erhärten. Von einer grundsätzlichen Feindlichkeit des Katholizismus der Naturwissenschaft und der Technik gegenüber kann aber auch sonst kaum gesprochen werden. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die über Jahrhunderte in Klöstern aufgebauten und gehüteten Naturalienkabinette sowie an die Sammlungen naturphilosophischer Spezialliteratur, die erst im 19. Jahrhundert in staatlichen Besitz übergingen. Erinnert sei an die „Gregorianische“ Kalenderreform, die der Papst 1582 unter allein astronomischen Gesichtspunkten – und in praktischer Nutzung der Heliozentrik – im vatikanischen „Torre dei Venti“ (der päpstlichen Sternwarte) durchführen ließ, die aber von nichtkatholischen Staaten nur sehr verzögert rezipiert wurde (Preußen: 1612; Großbritannien 1752; Sowjetrussland: 1918). Erinnert sei schließlich an die zahlreichen Theologen, die sich – obwohl Priester – als Naturforscher, Entdecker, Mediziner und technische Erfinder einen Namen machten – Nils Stensen (1638-1686), Gregor Mendel OSA (1822-1894), Erich Wasmann SJ (1859-1931) oder Theilhard de Jardin SJ (1881-1955) sind nur einige der bekannteren Namen. Auf dem Gebiet der Astronomie hatten – bis ins 20. Jahrhundert hinein – vor allem Mitglieder des Jesuitenordens wesentlichen Anteil. 

Fraglich erscheint die behauptete systemimmanente Rückständigkeit des Katholizismus im Übrigen auch im Licht des Konfessionalisierungsdiskurses, hatten am Zentralvorgang der Modernisierung doch alle Konfessionen Anteil. Während der Protestantismus die Autonomie der Sachbereiche rascher anerkannte, scheint wiederum das nachtridentinische Menschenbild des Katholizismus mit der Moderne doch viel besser vereinbar gewesen zu sein als Luthers Vorstellung von der völligen Verderbtheit des Menschen. Ob sich von daher erklärt, dass gerade der Jesuitenorden, der dieses „moderne“ Menschenbild propagierte, technikaffiner war und gegenüber den Naturwissenschaften so wenige Berührungsängste hatte? 

Gleichwohl: Die Skepsis, ja Geringschätzung, die viele Katholiken bis ins 20. Jahrhundert und vielleicht bis heute den Naturwissenschaften und der Technik entgegenbringen, bleibt erklärungsbedürftig. Möglicherweise wird man hier den Erfolg einer Pastoral in Anschlag bringen müssen, die lange eine deutlich transzendenzorientierte Wertehierarchie im Bewusstsein hielt: Ist Gott letzter Seins- und Sinngrund, dann muss es dem Menschen zuvorderst um die Realisierung seiner Qualitäten im Hier und Jetzt gehen („Reich Gottes“-Botschaft Jesu, Mt 25), nicht jedoch darum, den Turmbau zu Babel (Gen 11) zu vollenden. Zwar sind geschenkte Talente und Fähigkeiten nicht zu vergraben, sondern gewinnbringend einzusetzen – von daher hat der Glaube durchaus eine materiale Seite. Doch darf dieses „Materiale“ nicht Selbstzweck werden, ohne die gottgeschenkten Talente – und damit die Bestimmung des Menschen – zu korrumpieren. 


Literatur

  • Mariano Artigas/Thomas F. Glick/Rafael A. Martínez (Ed.), Negotiating Darwin. The Vatican confronts evolution 1877-1902, Baltimore 2006. 
  • Ugo Baldini, Die römischen Kongregationen der Inquisition und des Index und der wissenschaftliche Fortschritt im 16. bis 18. Jahrhundert: Anmerkungen zur Chronologie und zur Logik ihres Verhältnisses, in: Hubert Wolf (Hg.), Inquisition, Index, Zensur. Wissenskulturen der Neuzeit im Widerstreit, Paderborn 2003, 229-278.
  • Ugo Baldini/Leen Spruit (Ed.), Catholic Church and modern science. Documents from the archives of the Roman congregations of the Holy Office and the index, Vol. 1: Sixteeenth-century documents, T. 1-4, Roma 2009.
  • Francesco Beretta, Galilée devant le Tribunal de l’Inquisition. Une relecture des sources, Fribourg 1998.
  • Francesco Beretta, Katholische Kirche und moderne Naturwissenschaft von Galilei bis Darwin. Die Voraussetzungen einer konfliktgeladenen Begegnung, in: Mariano Delgado (Hg.), Glaube und Vernunft – Theologie und Philosophie. Aspekte ihrer Wechselwirkung in Geschichte und Gegenwart, Fribourg 2003, 117-133.
  • Dominik Burkard, Augustinus – ein Kronzeuge für die Evolutionstheorie? (Gescheiterte) Versuche einer Versöhnung von Theologie und Naturwissenschaft, in: Cornelius Mayer/Christoph Müller/Guntram Förster (Hg.), Augustinus – Schöpfung und Zeit, Würzburg 2012, 109-141.
  • Rainer Decker, Die Päpste und die Hexen. Aus den geheimen Akten der Inquisition, Darmstadt 2003.
  • Peter Godman unter Mitwirkung von Jens Brandt, Weltliteratur auf dem Index. Die geheimen Gutachten des Vatikans, Berlin/München 2001, 43-49, 163-216.

Auktor

Dominik Burkard, Ordinarius für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit in Würzburg. Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Römische Inquisition und Indexkongregation, Verhältnis von Staat und Kirche, Kirchliche Verfassungsgeschichte, Katholische Aufklärung, Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Kirche/Theologie im Nationalsozialismus.

Address: Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Sanderring 2, D-97070 Würzburg.

Related Posts