Isis Ibrahim

« Sorge tragen für das gemeinsame Haus: Eine Tagungsreihe zur Schöpfungstheologie aus interkultureller und interreligiöser Perspektive »


Concilium 2018-5. Ökologie und Theologie der Natur
Concilium 2018-5. Ecology and Theology
Concilium 2018-5. Ecología y teología de la naturaleza
Concilium 2018-5. Écologie et théologie de la nature
Concilium 2018-5. Ecologia e teologia della natura
Concilium 2018-5.

Linda Hogan, João Vila-Chã, Agbonkhianmeghe Orobator

Unter dem Titel „Wir sind nur Gast auf Erden – in Erinnerung an Bertha Cárceres (1971-2016)“[1] fand im Januar 2017 in Salta, Argentinien, die erste von drei Kontinentaltagungen statt, die missio Aachen in Lateinamerika, Asien und Afrika durchführt, um schöpfungstheologische Themen aus interreligiöser und interkultureller Perspektive zu erörtern.[2] Dabei geht es darum, Schöpfungsmythen und -spiritualitäten verschiedener Kulturen, die deren Wirklichkeitsverständnis und Handlungsmuster prägen, zu präsentieren und zu vergleichen und so in einen interkulturellen und interreligiösen Austausch über Fragen der Schöpfungsgerechtigkeit zu treten. Die Intention dieser Tagungsreihe ist es, die Zusammenarbeit von Vertretern aller religiösen Traditionen auf ein gemeinsames Ziel hin zu fördern: den Erhalt der Erde als Lebensraum für die Menschen und ihre Mitgeschöpfe. Insofern kommt sie dem Appell von Papst Franziskus nach, der in seiner Enzyklika Laudato Si’ – Über die Sorge für das gemeinsame Haus“[3] die Religionen der Welt – und überhaupt alle Menschen, die auf diesem Planeten wohnen[4] – dazu aufruft, in sozialer und ökologischer Hinsicht zusammenzuwirken.[5] Im Folgenden soll ein kursorischer Überblick über die schöpfungstheologischen Perspektiven der indigenen, afroamerikanischen, jüdischen und christlichen Traditionen in Lateinamerika, die auf der Tagung in Salta vorgestellt wurden, gegeben und ihr umweltethisches Potenzial evaluiert werden. In den Beiträgen der Tagungsmitglieder trat allerdings ein weiteres Thema in aller Deutlichkeit zu Tage: das der kulturell-religiösen Identität. Da diese Thematik speziell im postkolonialen Kontext brisant ist, soll sie hier mitbedacht werden.

In der heterogenen Kultur der Andenländer haben sich indigene Traditionen mit iberischen Einflüssen vermischt, wobei letztere erstere in den meisten Regionen überlagert haben. Seit geraumer Zeit streben Vertreter autochthoner Kulturen danach, ihre ursprüngliche Lebensweise wieder stark zu machen, indem sie an originär-amerikanische Traditionen, wie etwa die der Maya, anzuknüpfen suchen. Diese Revitalisierungsversuche bergen in umweltethischer Sicht ein wertvolles Potenzial. Dies zeigt Víctor Bascopé Caeros Vortrag über das andine Pacha, den kosmischen Geist der Anden, den der bolivianische Theologe Fernando Díez de Medina folgendermaßen beschreibt: „Pacha ist der ursprüngliche Samen, ursprünglicher Lehm, universales Gebilde. Als die Zeit zu verstehen gekommen war, sprach der Geist das Wort Pacha aus, und alles bot sich zusammengefasst im magischen Wort dar. […] Aus dem anfänglichen Wort brachen alle Keime hervor. In ihm verbargen sich die Lebewesen und wurden verwandelt, um wiedergeboren zu werden. Denn Pacha – der Herr der Welt – zeugt alles und verwandelt alles.“[6] Bascopés Ausführungen zeigen, dass das Pacha alles, was ist, war und sein wird, umschließt und hervorbringt, wobei unterschiedliche Aspekte dieses allumfassenden Seins unterschiedlich benannt werden. Im ökologischen Kontext ist besonders das Konzept der Pachamama hervorzuheben, der Name, unter dem die personifizierte Erde verehrt wird, aus deren „Herzen“ oder „Schoß“ alles Leben immer wieder neu hervorgeht. Aus dieser andinen Spiritualität lassen sich folgende ethische Prinzipien ableiten: Das Prinzip der universalen Lebendigkeit, das der grundlegenden Gleichheit, das der völligen Einheit, das der ergänzenden Reziprozität und das der universalen Harmonie. Die Aufrechterhaltung der Ordnung des Pachas und damit der Harmonie zwischen allen Elementen ist die ethische Aufgabe der Menschen, die durch den Vollzug von Riten die Harmonie des Pachas festigen bzw. wiederherstellen.

Entsprechend diesem kosmologischen Verständnis beginnt Surimana Montalvo Chuma[7]  ihren Vortrag über die Schöpfungsspiritualität beim Volk der Kichwa[8] in Ecuador mit den Worten: „Als zeitweiliger Geist der Allpamama[9] bitte ich Pachamama um Erlaubnis und Erleuchtung, und ich bitte unsere Vorfahren und Apus[10] darum, dass ich nicht nur meine eigene Stimme zu Gehör bringe, sondern den Widerhall des Geistes, der allem LebendigenLeben verleiht.“ Aus ihren Worten geht einerseits hervor, wie schmerzlich das Abgeschnittensein von den Traditionen der Ahnen für ihr Volk sein muss, an welcher die christliche Mission einen nicht unerheblichen Anteil hatte. Andererseits beschreibt sie in ihrem Vortrag, wie Vertreter der katholischen Kirche Indigenen und Mestizen dabei halfen, an eine autochthone andine Spiritualität anzuknüpfen. Hierzu gehört die Wiederbelebung von heiligen Orten (Bergen, Quellen, Bäumen), Kalendern und Riten, wie z. B. die Gründung eines zeremoniellen Zentrums zu Ehren des von den Kichwa kultisch verehrten Wolfsmilchbaums auf dem heiligen Berg Imbabura in Ecuador, einem Ort, der auch für die christliche Bevölkerung einen Wallfahrtort darstellt. In derartigen Projekten haben die Menschen laut Surimana „kein Problem damit, auf der einen Seite den Katholizismus zu praktizieren und zugleich ihre eigene Spiritualität zu pflegen und zu vertiefen.“  

Trotz derartiger, in sozialer und ökologischer Hinsicht positiven Entwicklungen zeigt das Zeugnis der indigenen Vertreter, wie schwierig die Rekonstruktion ‚authentischer‘ Traditionen zur Stärkung der ethnischen und religiösen Identität nach dem durch die Kolonisation verursachten Bruch ist. Surimana sagt: „Wir empfinden die weisen Botschaften des Volkes der Maya als die unsrigen. Eine von­­­ ihnen besagt: Sie haben unsere Äste entfernt, unsere Früchte weggenommen, unseren Stamm verbrannt, doch die Wurzeln konnten sie nicht abschneiden.“ In diesen Worten drückt sich der Versuch aus, an etwas Verlorengegangenes anzuknüpfen, in der Hoffnung, auf diese Weise Eigenes zurückzugewinnen. Wohl noch herausfordernder ist dieser Rekonstruktionsprozess für die afroamerikanische Bevölkerung. Dies verdeutlicht der Beitrag der kolumbianischen Theologin Aura Dalia Caicedo Valencia, welcher ein Zeugnis der komplexen Synkretisierungsprozesse indigen geprägter katholischer Religiosität mit Elementen einer (re)konstruierten afrikanischen Spiritualität ist. Laut Caicedo gehören zur Religiosität eines afrikanischstämmigen Menschen dessen „Gedanken und Träume in Verbindung mit seinem Territorium, der Mutter Natur, in der alles spricht: das Meer, der Fluss, der Wald.“ Demnach bedarf diese Religiosität einer konkreten lokalen Basis. Der Versuch, die Elemente afrikanischer Spiritualität in den amerikanischen Boden zu verpflanzen, ist mühsam und mindert offenbar nicht ausreichend das Gefühl des Verlustes: „Wir nehmen dann Zuflucht zu unserem historischen Gedächtnis, um uns die Mutter Erde in Erinnerung zu rufen, die Wiege der Menschheit: Afrika, der so ferne und doch so nahe Erdteil, macht es uns möglich, weiter von der Heraufkunft neuer Zeiten zu träumen.“   Angesichts der Schwierigkeiten, welche die Suche nach den eigenen Wurzeln aufwirft, mag das Modell des Diaspora-Theoretikers Paul Gilroys hilfreich sein, nach dem weniger die Suche nach den Wurzeln (roots) identitätsstiftend ist, als die Beachtung der Wege(routes), welche die Menschen nehmen.[11] Gemäß diesem Konzept waren die Hebräer hinsichtlich ihres Identitätsgefühls schon immer auf ihre ‚Wege‘ verwiesen und mussten ein universalisierbares, exportierbares Schöpfungsverständnis entwickeln, welches sie in ihren heiligen Schriften mit sich tragen konnten. Dies lässt sich in den beiden Beiträgen von Daniel Fainstain erkennen, die zeigen, wie das Schöpfungsverständnis von Genesis 1 und 2 in der rabbinischen und mystischen Literatur des Judentums weitergeführt wurde und schließlich in das Werk bedeutender Denker des 20. Jahrhunderts einfließt. Ein Bespiel hierfür ist die Verantwortungsethik des jüdischen Philosophen Hans Jonas, die eine ökologische Erweiterung des Kant’schen kategorischen Imperativs darstellt, und welche die politische und philosophische Kultur Deutschlands, des Herkunftslandes von Jonas, nachhaltig geprägt hat.[12] Offensichtlich weist also auch das traditionelle jüdische Schöpfungsverständnis Ressourcen auf, die angesichts der ökologischen Krise aktiviert werden können. Nachahmenswert ist in dieser Hinsicht das von Rabbi Ari Bursztein beschriebene „ökokoscher Konzept“, das die technische Bedeutung von ‚koscher‘ um eine moralische Dimension erweitert. Dieses Konzept hat sich laut Bursztein in Israel und den USA bereits institutionell durchzusetzen begonnen, indem ein ‚ökokoscher Siegel‘ neben das übliche ‚koscher’-Zertifikat tritt.

Laut Rabbi Heschel, auf den Fainstain sich bezieht, gibt es divergierende menschliche Grundhaltungen gegenüber der Mit-Welt, die aus unterschiedlichen Motiven resultieren: „Die Griechen forschten, um zu wissen. Die Hebräer forschten, um zu respektieren und zu verehren. Der moderne Mensch forscht, um zu benutzen.“[13] Unglücklicherweise ist das Christentum, so wie es sich im Zuge kolonialer Ausbreitung präsentierte, mit der letztgenannten Haltung sowohl der menschlichen, als auch der nicht-menschlichen Mitwelt gegenüber assoziiert. Welche positive Rolle kann das Christentum, die weltweit anhängerreichste Religion, in einem synergetischen Prozess zur Bewahrung der Schöpfung heute spielen? Angesichts der sozialen und ökologischen Missstände, welche aus einer utilitaristischen Haltung entstanden sind, plädiert der chilenische Befreiungstheologe Diego Irarrázaval für eine Überwindung des „verinnerlichten Kolonialismus“ und für den Gewinn einer „Perspektive, die entkolonisiert“. Diese Forderung beinhaltet im Sinne der postkolonialen Theorie den Abbau imperialer Verhältnisse auch in epistemologischer Hinsicht. Im Paradigma der ökologischen sozialen Krise muss sich diese Umkehr im Umgang mit allen Mitgeschöpfen spiegeln. Denn, so formuliert es Leonardo Boff, „weil wir Erde sind, wird es ohne die Erde keinen Himmel für uns geben.“[14]

Wie auf der Tagung in Salta deutlich wurde, kann die christliche Theologie von der Spiritualität der andinen und der afrolateinamerikanischen Bevölkerungsgruppen lernen, die Achtsamkeit auf das zu richten, was in Zeiten der kolonialen Eroberung, der Industrialisierung und Technisierung nicht genügend wertgeschätzt wurde: den Respekt für die Beseeltheit und die Interdependenz alles Geschaffenen und die Bedeutung auch der kleinsten Elemente für die kosmische Harmonie. Innerhalb der traditionellen christlichen Parameter formuliert wurde die offenbarungstheologische Relevanz der Schöpfung als Ort der Gotteserkenntnis deutlich. Des Weiteren war die Universalität des Heils in der Schöpfung wahrnehmbar, die sich in den Sprachen und Kulturen der Menschen zwar unterschiedlich, aber doch in vielfältigen Analogien ausdrückt. Schließlich – und hier kommt insbesondere die messianische Tradition des Judentums zum Tragen – wurde die Auffassung geteilt, dass es in der menschlichen Verantwortung liegt, am göttlichen Heilsplan zur Gestaltung der Welt mitzuwirken. Insofern trug der interkulturelle und interreligiöse Austausch während des Symposions dazu bei, dass religiöse Ressourcen und Ethosbestände aktiviert wurden, welche sich – dies steht zu hoffen – in Zukunft gegenseitig stärken und in vielfältige gemeinsame Projekte zum Schutz der Erde münden werden.


[1] Sólo somos huéspedes en la tierra. En memoria de Berta Cáceres (1971-2016). Seminario Internacional en Abia Yala-Latinoamérica, Salta, Argentina, 3 al 5 de enero de 2017. Die Tagung wurde in Kooperation mit dem Instituto Orco Huasi Investigaciones Interculturales in Salta, Argentinien, und der Universidad de Quintana Roo in Chetumal, Mexiko, organisiert. Im Rahmen der Tagung wurde der im März 2016 ermordeten honduranischen Umweltaktivistin Berta Cáceres gedacht. Die auf der Tagung gehaltenen Vorträge werden veröffentlicht in: Carlos María Pagano / Elisabeth Steffens / Klaus Vellguth (Hrsg.), Wir sind nur Gast auf Erden. Lateinamerikanische Schöpfungsspiritualitäten im Dialog, Ostfildern 2018. Sofern nicht eigens vermerkt, stammen die in diesem Artikel verwendeten Zitate aus dieser Aufsatzsammlung.

[2] Vgl. Klaus Vellguth, Wir sind nur Gast auf Erden. Indigene Perspektiven für eine christliche Schöpfungstheologie, in: Stimmen der Zeit 142 (2017) 7, 467-478.

[3] Papst Franziskus, Enzyklika Laudato si’ –  Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 202, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2015.

[4] LS 3.

[5] LS 201.

[6] Fernando Díez de Medina, La Teogonía Andina, La Paz 1973, 28.

[7] Surinama wurde auf den Namen Emperatriz Montalvo Chuma getauft. Sie legte ihren bürgerlichen Namen jedoch ab und nahm den Kichwa-Namen Surimana an. 

[8] Indigene Volksgruppe in der Andenregion, auch unter der bolivianischen Bezeichnung ‚Quechua‘ bekannt.

[9] Kichwa-Wort für Erde oder Staub bzw. den Ort, an dem man wohnt.

[10] Kichwa für Chef, Autorität, Anführer, Herr.

[11] Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity und Double Consciousness, London 1993, 19.

[12] Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979.

[13] Abraham Joshua Heschel, Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen-Vluyn 1980, 28.

[14] Leonardo Boff, Die Erde ist uns anvertraut. Eine ökologische Spiritualität, Kevelaer 2010, 14.


Kurzbeschreibung

Die religiösen Vorstellungen der Menschen im heterogenen Kulturraum Lateinamerikas sind durch autochthone wie auch durch importierte Kosmologien geprägt. Die schöpfungstheologischen Perspektiven der indigenen, afrolateinamerikanischen, jüdischen und christlichen Traditionen dieses Kontinents, die auf einem Symposion in Salta, Argentinien, vorgestellt wurden, werden in diesem Beitrag zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei wird deutlich, dass die Heilsuniversalität des Schöpfungsglaubens sich in konkreten lokalen Kontexten manifestiert bzw. sich immer wieder in solchen verortet. In ökologischer Hinsicht bietet insbesondere die indigene Spiritualität der Andenregion Ressourcen zur Bereicherung eines postkolonialen Christentums, welches mit anderen kulturellen und religiösen Traditionen in einen synergetischen Prozess zur Bewahrung der Erde als Lebensraum zu treten sucht.

Author

Isis Ibrahim studierte Kath. Theologie und Anglistik in Münster i. W., Deutschland, und unterrichtet derzeit diese Fächer in Linz, Österreich. Ihre Dissertationsschrift Geschaffen zum Leben. Entwurf einer (Schöpfungs-)Theologie des Geborenseins erschien im Jahre 2015. Zurzeit arbeitet sie an dem hier beschrieben missio-Projekt zum Thema Schöpfungsspiritualitäten mit und erforscht in diesem Kontext die Bedeutung des Schöpfungsglaubens für die religiöse Identität.

Kontakt

Buchenweg 7, 4040 Linz, Austria.



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