Margit Eckholt
« Gastfreundschaft leben lernen. Theologische Fundamente der Verkündigung des Glaubens in der kulturellen Pluralität der Großstädte »
Markus Bücker, Alina Krause, Linda Hogan
Concilium 2019-1. Entwicklung findet Stadt
Concilium 2019-1. The City and global Development
Concilium 2019-1. Ciudad y desarrollo global
Concilium 2019-1. Città e sviluppo globale
Concilium 2019-1. Ville et développement global
Concilium 2019-1. Cidade e desenvolvimento global
1. Einführung: Glauben in den „neuen Kulturen“ der Großstädte
Seit den 1980er Jahren wird in einem interkontinentalen Netzwerk zur „Pastoral urbana“[1], dem Papst Franziskus in seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires verbunden war[2], auf neue Gestaltwerdungen des Glaubens und kirchliche Praxisformen in den „bewegten“ Räumen der Metropolen und Mega-Cities reflektiert. Papst Franziskus macht in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ auf die „neuen Kulturen“ aufmerksam, die sich in diesen Räumen abzeichnen, die bewegt sind von der Dynamik, Kreativität und Lebendigkeit veränderter Beziehungs- und Arbeitsformen, gerade angesichts neuer Kommunikationsmedien und eines neuen „Stils“ des Miteinanders, aber auch von der Gewalt und Fragilität prekärer wirtschaftlicher und sozialer Netze in den Abgründen und „Nicht-Orten“ der Großstädte geprägt sind. „Es entstehen fortwährend neue Kulturen in diesen riesigen menschlichen Geographien, wo der Christ gewöhnlich nicht mehr derjenige ist, der Sinn fördert oder stiftet, sondern derjenige, der von diesen Kulturen andere Sprachgebräuche, Symbole, Botschaften und Paradigmen empfängt, die neue Lebensorientierungen bieten, welche häufig im Gegensatz zum Evangelium Jesu stehen. Eine neue Kultur pulsiert in der Stadt und wird in ihr konzipiert.“ (EG 73) Genau hier gilt es präsent zu sein, es ist „notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen“ (EG 74).
In den folgenden Überlegungen möchte ich den theologisch-ekklesiologischen Rahmen skizzieren für diese Veränderungen, die Papst Franziskus in „Evangelii Gaudium“ benannt hat: Evangelisierung bedeutet, „den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen“, und das ist nur möglich, wenn die Radikalität der Veränderungen von Lebens- und Glaubensformen in den bewegten Räumen der Städte auf kultureller Ebene ernst genommen wird, und diese ist von den sozialen, politischen und ökonomischen Herausforderungen geprägt, die mit der Dynamik der Veränderung von Lebens- und Glaubensformen in den Großstädten verbunden sind. Religionssoziologische Studien weisen auf den Abbruch institutioneller Bindungen an die Kirchen hin – nicht nur in den europäischen Ländern, sondern angesichts der Glaubwürdigkeitskrise, die die katholische Kirche in den letzten Jahren und der Gegenwart durch das Aufdecken von Mißbrauch und fehlgehendem Umgang mit Macht durchläuft, gerade auch in den lateinamerikanischen Ländern. Abwendung von der katholischen Kirche als Institution, Säkularisierung und religiöse Pluralisierung – in Lateinamerika das Wachsen von Pfingstkirchen und anderen charismatisch geprägten religiösen Bewegungen – charakterisieren das Aufbrechen von traditionellen Glaubensformen, und das verdichtet sich in den Mega-Cities, Metropolen und Großstädten angesichts der Dynamik, Faszination und Fragilität des Lebens in diesen „bewegten“ Räumen. So sind die Städte ein „kulturelles Laboratorium“ (DA 509), so die lateinamerikanischen Bischöfe auf ihrer Konferenz in Aparecida, und sie formuliereneine wichtige, mit Selbstkritik verbundene Selbsteinschätzung im Blick auf den Umgang mit den Herausforderungen, die die kulturellen, sozialen, politischen und religiösen Transformationsprozesse der Gegenwart an die katholische Kirche und ihren Dienst an der Evangelisierung stellen: Sie sprechen von „anderen religiösen Gruppen“ – und nicht mehr, wie noch auf den Konferenzen des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla (1979) oder Santo Domingo (1992), von den „Sekten“ [3] –, für die sich Katholiken und Katholikinnen nicht „wegen der Lehre, sondern wegen der anderen Lebensformen“ entscheiden: „Sie tun es nicht aus strikt dogmatischen, sondern aus pastoralen Motiven heraus; nicht wegen theologischer Probleme, sondern wegen des methodischen Vorgehens unserer Kirche. So hoffen sie, anderswo Antworten auf ihre Fragen zu finden.“[4] In vielen der mittlerweile sehr zahlreich vorliegenden, vor allem religionssoziologischen Studien zur Pfingstbewegung ist davon die Rede, dass diese neuen Kirchen es besser verstehen, sich in den bewegten Räumen der Städte zu verorten, und auf den kulturellen Wandel in größerer Leichtigkeit reagieren.[5] Papst Franziskus hat in einem Interview nach Ende des Weltjugendtages in Rio de Janeiro (2013)[6] darum die Notwendigkeit von neuen ökumenischen Begegnungen sowie einer veränderten Einstellung zur charismatischen Bewegung innerhalb des Katholizismus benannt und die „conversión pastoral“ und die damit verbundene „conversión eclesial“ erinnert, die den leitenden Horizont des lateinamerikanischen Netzwerkes „Pastoral urbana“ darstellt und auch die Forschungen des von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Projekts zur „Pastoral urbana“ (2010-2014) geprägt hat.[7] Wenn die Ausgestaltung dessen, was Evangelisierung ist, nicht mehr von der Kirche ausgeht, sondern von den Herausforderungen der Stadt her bestimmt wird, wie es die theologischen und pastoralen Arbeiten zur „Pastoral urbana“ herausarbeiten, dann wird damit der ekklesiologische Paradigmenwechsel des 2. Vatikanischen Konzils erinnert und „konkretisiert“, der von der Zentralität des Evangeliums Jesu Christi ausgeht, das sich immer wieder je neu in den verschiedenen kulturellen Lebensrealitäten des Menschen inkarniert. Darauf möchte ich im folgenden zweiten Punkt der Überlegungen eingehen und den leitenden Horizont dieser „conversión eclesial“ im abschließenden dritten Punkt durch die Referenz auf das Konzept der Gastfreundschaft zuspitzen, wie es die französische Gegenwartsphilosophie entfaltet hat: „Gastfreundschaft leben lernen“ ist der Weg einer „Kirche im Aufbruch“, eines neuen Christ-Seins und Kirche-Werdens, das in der Dynamik des je neuen Aufbruchs, auf den Wegen mit den vielen anderen – anderen christlichen Konfessionen, anderen Religionen und allen Menschen „guten Willens“ – in den bewegten Räumen der Stadt die „Stadt Gottes“ zeichenhaft – sakramental – anbrechen lässt im Dienst von Frieden, Gerechtigkeit und der Sorge um das gemeinsame Haus der Schöpfung.
2. „Conversión eclesial“ – ekklesiologische Grundlagen in den Spuren des 2. Vatikanischen Konzils und der Konferenz von Medellín
- Die Aufeinanderbezogenheit von „Lumen Gentium“ und „Gaudium et Spes“
Das 2. Vatikanische Konzil hat für die katholische Kirche den ekklesiologischen und theologischen Paradigmenwechsel von einer West- zur Weltkirche bedeutet, von einer hierarchisch verfassten „societas perfecta“ zur Kirche als Volk Gottes, das in der Vielgestalt der Kulturen konkrete Ausdrucksgestalt gewinnt und sich als „Sakrament“ Jesu Christi gerade darin erweist, dass sie im Dienst von Frieden und Gerechtigkeit, des Zusammenwachsens der einen Menschheit steht. Die 50-Jahr-Feiern der Konferenz der lateinamerikanischen Bischöfe von Medellín (1968) erinnern an die Bedeutung, die der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ für diesen ekklesiologischen Paradigmenwechsel zukommt. Mit ihrer „Option für die Armen“ radikalisiert die lateinamerikanische Kirche die „Entdeckung der Welt“ auf dem Konzil. Die „Inkarnation“ in die Welt hinein wird zu einer Entäußerung, in der der ursprüngliche Sinn des Evangeliums neu entdeckt wird und ihm in den verschiedensten Formen der Praxis auf der Seite der Armen und Ausgegrenzten, bis hin zum Martyrium, zur Hingabe des Lebens, neue Ausdrucksgestalten gegeben werden. Die „Subjektwerdung“ der Gläubigen, ein zentrales Moment des neuen Kirche-Seins, das im Gedanken des Volkes Gottes und der Charismenorientierung von „Lumen Gentium“ zum Ausdruck kommt, ist immer konkret, auf kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Kontexte bezogen, ist Ausdruck christlicher Freiheit, die sich als solche in der Anerkennung anderer Freiheit realisiert und darin im Dienst der Befreiung und Subjektwerdung der „Armen“ – wobei unter „Armen“ hier all´ die verstanden werden, die ausgegrenzt werden, denen Rechte und damit Lebensmöglichkeiten genommen werden, im besonderen die eingeborene Völker sowie Mädchen und Frauen. Wenn Papst Franziskus in „Evangelii Gaudium“ von den „neuen Kulturen“ spricht, die in den Städten entstehen, so gehen diese Kulturen aus den kreativen und miteinander verwobenen Prozessen dieser neuen „Subjekte“ hervor, und sie gilt es zu verstehen und anzuerkennen, um mit dem Evangelium die „Seele“ der Städte und dieser neuen Kulturen erreichen zu können.
- Freiheit und Befreiung in Jesus Christus
Diese „Anerkennung der Anderen“ ist im Frei-Werden in Jesus Christus grundgelegt. Neue Wege einer Stadtpastoral haben an diese christliche Freiheit, die im Grund der Kirche steht, zu erinnern, und daraus die Ermächtigung zu neuen, befreienden und freimachenden Wegen der Partizipation und Kommunikation in einer Kirche „in“ der Stadt zu schöpfen. In diesem Sinn zu einer „Ekklesiogenese“ beizutragen, ist nur mit Partizipation aller und unter Anerkennung ihrer Vielfalt möglich. Das 2. Vatikanische Konzil hat hier den Grund gelegt: Es gibt ein „empowerment“ aller, das in der Taufe gründet und das alle, Männer und Frauen, Junge und Alte, in die Verantwortung ruft, zum Aufbau des Volkes Gottes das ihre beizutragen.[8]Dazu gehört das lebendige Ausprägen des Glaubens, dazu gehören Bildungsprozesse und eine Schulung in Fragen von Spiritualität und Religiosität. Sicher ist es wichtig, dass die Liturgie der Kirche und ihre Gottesdienste „attraktiv“ bleiben; aber die traditionelle „Ritenkirche“ muss aufbrechen, so dass neue Formen der Partizipation und Mitverantwortung entstehen können, ein neues Miteinander von Priestern und Laien, von Männern und Frauen. Im Rahmen des Forschungsprojektes zur „Pastoral urbana“ haben die Kolleginnen der Theologinnenvereinigung „Teologanda“[9] aus Buenos Aires auf die Bedeutung der Ausbildung von lebendigen Glaubensgemeinschaften hingewiesen, auf die Anerkennung der Fähigkeiten aller, vor allem auch der Frauen, auf eine neue Reflexion auf die Autorität und die amtlichen Strukturen der Kirche. Diese Erneuerung und in diesem Sinne eine „eclesiogénesis“ – das zeigen gerade die religionssoziologischen Studien zum Wachsen der Pfingstbewegung in Lateinamerika – kann die katholische Kirche nicht mehr lange aufschieben, gerade wenn sie im Dienst des Evangeliums Zugang zu den verschiedenen neu entstehenden Kulturen haben möchte. Kirche steht nicht der Welt „gegenüber“, sie prägt ihre Identität aus auf den vielen Wegen der Menschen, und das drückt sich auch in ihrer liturgischen Praxis, ihren rituellen Vollzügen und amtlichen Strukturen aus. Genau darin trägt sie dann auch bei zur Ausbildung der „citizenship“; auch das ist pastoraler Auftrag. Stadt Gottes und Stadt der Menschen stehen nicht neben- oder gegeneinander, sondern Gott nimmt – in Jesus Christus – Wohnung in der Stadt der Menschen und gibt ihr so eine Dynamik, die ihre Engen und Selbstabschlüsse – von Gesellschaft bzw. Kultur und auch Kirche – aufsprengt auf die Weite des je größeren Gottes hin und die zu einer neuen Gestalt der „citizenship“ führt, in deren Zentrum Gottes- und Menschenfreundschaft stehen, für die gilt: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau, denn ihr seid alle ´einer´ in Jesus Christus“ (Gal 3,28). So werden Christen und Christinnen dann zum „Sauerteig“ dieser einen Welt, sie sind nicht „Bürger und Bürgerinnen zweier Welten“, die „Stadt Gottes“ wächst in der „Stadt des Menschen“.
- Eine neue „öffentliche“ Theologie im bewegten Raum der Stadt
Das vielschichtige „Neue“ des „bewegten Raumes der Stadt“, auf das in der pastoralen Praxis geantwortet wird, ist in der theologischen – vor allem dogmatisch-theologischen – Reflexion noch kaum angekommen. Dabei ist die Stadt in den letzten Jahren ins Zentrum kulturwissenschaftlichen Arbeitens gerückt, gerade weil sie Spiegel des „Neuen“ gegenwärtiger Kultur ist. Der „topographical“ bzw. „spatial turn“ der Kulturwissenschaften, im interdisziplinären Gespräch vor allem mit der Humangeographie herausgebildet, legt Zugänge zur Stadt im Rahmen des Paradigmas des Raumes.[10]Räume und Orte, Grenzen und Brücken, Verbindungslinien, Highways und Metros sind von Bedeutung für die Beschreibung der Stadt. Im Raum der Stadt konstituieren sich Kulturen immer neu, in der Begegnung, in den verschiedenen „Übersetzungen“, in den „Grenzräumen“. Die Stadt ist ein „bewegter Raum“[11], in dem Kulturen nicht übersetzt werden, sondern in dem sie sich in wechselseitigen Übersetzungen konstituieren.[12] Theologie selbst hat diesen Kontext eher vernachlässigt, obwohl genau die Stadt der Ort war, in dem Theologie als Wissenschaft entstanden ist und eine Wissenschafts- und Kulturkontexte übergreifende, universale Plausibilitätsstrukturen voraussetzende Gestalt der Rationalität ausgebildet hat. Gerade in der „bewegten Stadt“ unserer Zeit und angesichts der für christlichen Glauben neuen Situation eines fragmentierten, plurireligiösen und säkularen Kontextes ist Theologie auf eine neue Weise gefragt und herausgefordert. Anerkennung der Anderen, die Autonomie der Kultursachbereiche, Gewissens- und Religionsfreiheit werden dabei zum Ausgangspunkt einer neuen Positionierung der Theologie in der „bewegten“ Stadt der Gegenwart. Das bedeutet eine Dezentrierung der ekklesiologischen Perspektive, aber eine neue Präsenz christlichen Glaubens „unter den Völkern“. Christen bilden das „messianische Volk“ unter den Völkern, sie sind Akteure unter vielen in der Kultur; an der Ansage des Evangeliums „in der Stadt“ entscheidet sich ihr „Profil“. Das bedeutet nicht „Mission“ im traditionellen Sinn, sondern die Einsicht, dass die „Ansage“ des Evangeliums im Dialog mit den vielen anderen wächst, auch bei den anderen „präsent“ ist, gerade weil Der, den Christen „ansagen“, bereits schon dort ist. Die „Arrival City“ wird zum neuen Ort der Referenz für die Universalität des Glaubens. Theologie kann dann nicht anders als „lokal“ sein, sie erwächst aus den verschiedenen Orten in dieser Stadt, an denen der Theologe und die Theologin tätig sind. Als „lokale“ Theologie ist sie plural und „bewegt“, wie die Stadt bewegt ist. Der Theologe und die Theologin wechseln stetig zwischen verschiedenen Orten der Stadt, ihre Theologie erwächst „in translation“, ist „inter-kulturell“. Lebensformen des Glaubens bilden sich im „bewegten Raum“ der Stadt in einer spannungsreichen und kreativen Pluralität aus. Das sind ekklesiale Orte, aus denen heraus die Theologin die neue Ansage des Glaubens reflektiert; sie erwachsen mitten in der Dynamik und Fluidität des Lebens in der Stadt. Angesagt ist ein immer neues „Übersetzen“, und in den vielfältigen Übersetzungsprozessen, in denen sich die Verbindungen in der fragilen, pluralen, spannungsreichen „Arrival City“[13]ausbilden, steht Theologie im Dienst einer Kirche als „Sakrament der Völker“. Im Raum der „Arrival City“ formiert Theologie sich „in translation“ und genau darin realisiert sie ihren Beitrag zur „conversión pastoral“ bzw. „conversión eclesial“.
3. Gastfreundschaft in der „arrival city“
In der politischen Philosophie der letzten Jahrzehnte ist das Konzept der „Gastfreundschaft“ entfaltet worden, als Konzept, in einer zusammenwachsenden Welt neue Formen eines Miteinanders mit den Fremden und „Ankommenden“ zu entfalten. Während Aristoteles in seiner politischen Philosophie die Gastfreundschaft noch als unvollkommene Gestalt der Freundschaft ansieht, weil diese allein auf den „Nutzen“ abziele[14], erhält die Gastfreundschaft in den Überlegungen Immanuel Kants „Zum ewigen Frieden“ – gerade angesichts des „inhospitale(n) Betragen(s) der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils“[15] – eine neue Bedeutung. Kant definiert Hospitalität als „das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden“[16]. Er führt „den antiken Gedanken des Kosmopolitismus bzw. Weltbürgertums weiter, indem er als erster dem Fremden ein Recht auf Gastfreundschaft zuerkennt, das über eine Ethik des Humanen hinaus juridisch-politische Pflichten einfordert. Dass Kant den Fremden als Subjekt, d.h. vor allem als Rechtssubjekt versteht, erweist ihn noch im 20. und 21. Jahrhundert angesichts der vielen misslungenen Migrationen und Asyle als wegweisenden Denker.“[17] Die jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida werden in ihren politisch-philosophischen Überlegungen im 20. Jahrhundert – auf dem Hintergrund des Schreckens des Holocausts und der neuen Migrationsbewegungen aus den arabischen Ländern – auf diesen Gedanken von Kant zurückgreifen und ihn in einen neuen Rahmen stellen. Sie machen auf die Aporie der Gastfreundschaft aufmerksam, auf die Spannung zwischen ethischer Forderung – Gastfreundschaft ist ein unveräußerliches Menschenrecht – und der politisch-rechtlichen Durchsetzung. In diesem Sinn unterscheidet Jacques Derrida zwischen der Gastfreundschaft im Rahmen des Rechts und der „absoluten“ Gastfreundschaft[18], in die sich die religiösen Quellen des Judentums und Christentums einzeichnen. Gastfreundschaft steht für die Gratuität des Miteinanders, sie durchbricht rechtliche Regelungen des Miteinanders. In der Benediktregel ist die Gastfreundschaft im 53. Kapitel beschrieben: „Jeden Gast, der da kommt, nehme man wie Christus auf; denn er wird sprechen: ´Ich war Fremdling, und ihr habt mich aufgenommen.´“ Der Gasthof – das Hospiz – war in der Geschichte immer ein Ort des Schutzes, der den Fremden aufnimmt, ohne – zunächst – nach seinem Namen zu fragen, Ort einer zweckfreien und absichtslosen Begegnung. Gast und Gastgeber, Fremder und Einheimischer werden einander in der gelebten Gastfreundschaft zur Gabe: Dem Fremden wird die Gabe der Gastfreundschaft gewährt, die sich oftmals in Gestalt eines Mahles verdichtet. Der Gast, der Fremde, dem die Türe aufgetan wird, öffnet darin den Blick auf eine neue Weite, den Horizont eines Miteinanders aus Geben und Nehmen, das Raum macht für ein „Mehr“: „Der Gast bringt Gott herein“, so Romano Guardini.[19] Daran knüpft die absolute Gestalt der Gastfreundschaft an, auf die Derrida hinweist; sie bricht das Miteinander auf eine „Ökonomie der Gabe“ auf: Hier wird der Gast zum Gastgeber des Gastgebers, der „Hausherr“ bzw. die „Haufrau“ gewinnt sich – sein/ihr Verhältnis zum anderen, zur Welt – neu in der Begegnung mit dem Fremden. „Der Gast wird zum Gastgeber des Gastgebers… Der Hausherr ist bei sich zu Hause, doch tritt er nichtsdestoweniger dank des Gastes – der von draußen kommt – bei sich ein. Der Herr tritt also von drinnen ein, als ob er von draußen käme. Er tritt dank des (grâce au) Besuchers bei sich ein, durch die Gnade (par la grâce) seines Gastes.“[20] Gastfreundschaft, in ihrer absoluten Form, lässt Miteinander als „verdankt“, als gegenseitiges Geben und Empfangen erleben. Diese Gastfreundschaft ist in die Tiefe des Christusereignisses – aus dem Kirche immer wieder neu wird – eingeschrieben: Die Eucharistie ist das Sakrament der absoluten Gastfreundschaft Gottes, und die radikale Anerkennung des Anderen, die sich hier ereignet hat, als tiefstes Geheimnis des Glaubens, wird zum Zeichen für die Anerkennung der anderen, ohne die ein Miteinander in Frieden und Gerechtigkeit in den bewegten Räumen der Stadt nicht möglich ist. Sie lässt die Fremden über unsere Schwelle gehen und lässt uns selbst je neu durch die „Gnade des Gastes“ zu uns selbst finden: „Die Gastfreundschaft vergesst nicht, denn durch sie haben einige unwissentlich Engel beherbergt.“ (Hebr 13,2) Wenn wir so Gastfreundschaft üben, verlieren wir nicht an Identität, sondern wachsen in die Tiefe der Lebens-Gemeinschaft des je größeren Gottes hinein.
Es ist darum kein geringer Beitrag zur „Zukunft“ der Stadt, wenn die Kirche – in einer religionspluralen Kultur nur unter Anerkennung der Religionsfreiheit und in einer neuen Haltung des Dialogs und ökumenischer und interreligiöser Begegnungen – Menschen darin unterstützt, in der Stadt „ankommen“ zu können und die ihnen entsprechende Zugehörigkeit auszubilden, ohne soziale, kulturelle, religiöse oder geschlechtliche Benachteiligung. Wenn es wieder Bürger und Bürgerinnen erster, zweiter oder dritter Klasse gibt, sei es konkret durch Erschwernis im Erwerb der Staatsbürgerschaft, sei es auch nur „unsichtbar“ durch kulturelle, religiöse und soziale Ausgrenzung, so verliert die Stadt das, was sie zur Stadt macht: die freie und befreiende Gemeinschaft der vielen Bürger und Bürgerinnen, die Ermöglichung eines guten Lebens auf sehr unterschiedlichen Ebenen des Miteinanders, in Familie, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur und Religion. Dazu gehört auch die Ausprägung von neuen Lebensformen des Glaubens, über die „traditionellen“ Grenzen der Pfarrei hinaus, dazu gehören ökumenische, interreligiöse und interkulturelle Projekte. Zu dieser „conversión eclesial“ gehört der Mut zu neuen Gestalten des Miteinanders, der Partizipation auf allen Ebenen von Kirche, in den Diözesen, Pfarreien, Gemeinschaften usw. Zur „Freiheit“ der Stadt kann Kirche erst dann beitragen, wenn sie sich selbst aus der Freiheit des Evangeliums vollzieht. Christen und Christinnen orientieren sich dabei an dem Evangelium, das Jesus von Nazareth verkündet hat, „bekehrt euch, denn das Reich Gottes ist nahe“ (Mk 1,15). Es ist im Kommen und begegnet den Ankommenden, wenn „Heil“ wird, im guten Miteinander in der Stadt, wenn geliebt wird, wenn Versöhnung sich ereignet, wenn Gastfreundschaft gelebt und dem Fremden die Hand gereicht wird, wenn denen Gerechtigkeit widerfährt, die ausgegrenzt und verachtet werden und wenn in der Stadt Friede geschlossen wird.
Notes
[1] Vgl. z.B. Benjamín Bravo/Alfons Vietmeier (Hg.), Gott wohnt in der Stadt. Dokumente des Internationalen Kongresses für Großstadtpastoral in Mexiko 2007, Zürich/Berlin 2008.
[2] Vgl. Entrevista al Cardenal Jorge M. Bergoglio sj, in: Virginia Azcuy (Hg.), Ciudad vivida. Prácticas de Espiritualidad en Buenos Aires, Buenos Aires 2014, 237-244.
[3] Vgl. Margit Eckholt, Ernstzunehmende Anfragen. Die katholische Kirche und die Sekten in Lateinamerika, in: Herder-Korrespondenz 47 (1993) 250-255.
[4] Aparecida 2007. Schlußdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, 13.-31. Mai 2007, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2007, Nr. DA 225.
[5] Vgl. dazu: Margit Eckholt, Pfingstkirchen als Herausforderung für den Katholizismus, in: MD – Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 65 (2014) 56-59; dies., Pfingstlich bewegt und befreiungstheologisch geerdet? Die „Pentekostalisierung“ des Christentums in Lateinamerika und Herausforderungen für den lateinamerikanischen Katholizismus, in: Polykarp Ulin Agan SVD (Hg.), Pentekostalismus – Pfingstkirchen. Akademie Völker und Kulturen 2016/17, Siegburg 2017, 33-57.
[6] Papst Franziskus, Interview am Abschluss des Weltjugendtages am 28.7.2013, zitiert nach: Jakob Egeris Thorsen, Charismatic practice and catholic parish life. The Incipient Pentecostalization of the Church in Guatemala and Latin America, Leiden/Boston 2015, 220.
[7] Margit Eckholt/Stefan Silber (Hg.), Glauben in Mega-Cities. Transformationsprozesse in lateinamerikanischen Großstädten und ihre Auswirkungen auf die Pastoral, Ostfildern 2014.
[8] Vgl. Margit Eckholt, Citizenship, Sakramentalität der Kirche und empowerment. Eine dogmatisch-theologische und ekklesiologische Annäherung an den Begriff der „citizenship“, in: Virginia R. Azcuy/Margit Eckholt (Hg.), Citizenship – Biographien – Institutionen. Perspektiven lateinamerikanischer und deutscher Theologinnen auf Kirche und Gesellschaft, Berlin/Zürich 2009, 11-40.
[9] Vgl. Margit Eckholt (Hg.), Prophetie und Aggiornamento: Volk Gottes auf dem Weg. Eine internationale Festgabe für die Bischöfliche Aktion ADVENIAT, Berlin 2011.
[10] Vgl. Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010; Nikolai Roskamm, Dichte. Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse zu Stadt und Raum, Bielefeld 2011.
[11] Vgl. z.B. Frank Eckardt, Soziologie der Stadt, Bielefeld 2004.
[12] Judith Gruber, Kirche und Kultur. Eine spannungsvolle Identifizierung im Anschluss an Gaudium et Spes, in: Franz Gmainer-Pranzl/Magdalena Holztrattner (Hg.), Partnerin der Menschen – Zeugin der Hoffnung. Die Kirche im Licht der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Innsbruck/Wien 2010, 301-322, hier: 318.
[13] Der Begriff geht zurück auf: Doug Saunders, Arrival City. Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städt. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab. Aus dem Englischen von Werner Roller, München 2011.
[14] Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon, München72006, 285.
[15] Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Werkausgabe Bd. XI. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hg. von W. Weischedel, Frankfurt 1977, 214.
[16] Ebd. 213.
[17] Rolf Gärtner, Seid jederzeit gastfreundlich. Ein Leitbild für heutige Gemeindepastoral, Ostfildern 2012, 21/22.
[18] Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft. Mit einer „Einladung“ von Anne Dufourmantelle, hg. von P. Engelmann, Wien 2001.
[19] Romano Guardini, Briefe über Selbstbildung. Bearbeitet von Ingeborg Klimmer, Mainz 131978, Dritter Brief „Vom Geben und Nehmen, vom Heim und von der Gastfreundschaft“, 27-43, hier: 37.
[20] Derrida, Von der Gastfreundschaft, 90/91.
Auctor
Margit Eckholt, Professorin für Dogmatik mit Fundamentaltheologie am Institut für katholische Theologie der Universität Osnabrück.
Address: Institut für Katholische Theologie, Universität Osnabrück, Schlossstrasse 4, 49074 Osnabrück.