Concilium

Michelle Becka – « Die Stadt in globaler Verantwortung »

Michelle Becka

« Die Stadt in globaler Verantwortung – sozialethische Überlegungen von Deutschland her »

Markus Bücker, Alina Krause, Linda Hogan

Concilium 2019-1. Entwicklung findet Stadt
Concilium 2019-1. The City and global Development
Concilium 2019-1. Ciudad y desarrollo global
Concilium 2019-1. Città e sviluppo globale

Concilium 2019-1. Ville et développement global
Concilium 2019-1. Cidade e desenvolvimento global

Mumbai, Rio, Kapstadt… – keine der Megacities befindet sich in Deutschland oder Europa. Schnell wachsende informelle Siedlungen, eine sehr hohe Bevölkerungsdichte im urbanen Raum bei gleichzeitig mangelhafter Infrastruktur und ähnliches sucht man hierzulande vergebens. Stattdessen ist Deutschland gekennzeichnet durch eine – auch im europäischen Vergleich – sehr große Zahl von mittleren Städten und Kleinstädten. Und doch gibt es soziale und ökologische Herausforderungen in den Städten Europas – und hier insbesondere Deutschlands, die nachfolgend skizziert und sozialethisch reflektiert werden. Im Zentrum steht die Verschränkung von lokaler und globaler Verantwortung von Städten, exemplarisch ausgeführt an Fragen der Klimagerechtigkeit, der gesellschaftlichen Integration und transnationalen Solidarität.

Ein zentrales soziales Problem sind die hohen Immobilien- und Mietpreise, die zu eklatantem Mangel an bezahlbarem Wohnraum in deutschen Städten führen. Das gilt nicht mehr nur für die Großstädte selbst, sondern auch in sogenannten Metropolregionen: Geringverdienende und Familien finden kaum angemessenen Wohnraum. Mit dieser Entwicklung gehen Gentrifizierungsprozesse einher:  die Vertreibung von Mieterinnen und Mietern durch die steigenden Preise. Dadurch wächst die Segregation als räumliche Abbildung sozialer Ungleichheit. Die soziale Durchmischung, aber auch die der Generationen und Nationalitäten, in den Wohngebieten ist weniger geworden. Das gilt vor allem in großen Städten, wobei die soziale Segregation stärker ausgeprägt ist als die ethnische Segregation[1]. Wenn sich aber beide überlagern, verstärken sie sich: Es gibt eine Korrelation zwischen ethnisch-räumlicher Konzentration, Armut und Arbeitslosigkeit.[2] Die zunehmende sozialräumliche Ungleichheit findet sich in den Schulen wieder, verstärkt sich so weiter und erschwert Integration. Perspektiven für Ausbildung und Beruf in den entsprechenden Vierteln sind gering. Es gibt zahlreiche integrationspolitische Defizite, von ungenügenden Rahmenbedingungen (fehlender Wohnraum, fehlender Sprachunterricht etc.) bis hin zu fortbestehendem Alltagsrassismus.

Ökologisch wird derzeit vor allem die hohe Luftverschmutzung in einigen Städten, vor allem durch Diesel-PKW, beklagt. Andere Umwelt- und Klimaprobleme hingegen werden kaum thematisiert, sie sind weniger offensichtlich. Das liegt zum Teil daran, dass seit den 80er Jahren verschiedene umweltpolitische Maßnahmen ergriffen wurden, wodurch sich die Lebensqualität in vielen Städten verbessert hat. Die Errungenschaften verdecken jedoch Defizite in jüngerer Zeit – insbesondere in Fragen des Klimaschutzes, der aktuell die dringendste Aufgabe darstellt, dessen Notwendigkeit jedoch in den Städten des globalen Nordens weniger unmittelbar erkennbar ist, weil die Folgen des übermäßigen Ressourcenverbrauches und des hohen CO2-Ausstoß vor allem in anderen Teilen der Erde spürbar sind.[3] Darin zeigt sich die schwierige Verschränkung von lokalen und globalen Aspekten von Klimafragen, auf die zurückzukommen ist.

1. Nachhaltigkeit – lokal und global

Nachhaltige (Städte-)Entwicklung wird u.a. dadurch erschwert, dass soziale Fragen und Umweltfragen zu sehr getrennt oder gar in Gegensatz zueinander gebracht werden. So fördert beispielsweise die Energieeinsparverordnung (EnEV) seit 2007 in Deutschland energetische Sanierungsmaßnahmen für Häuser, um die bis dahin schlechte Isolierung von Altbauten zu verbessern. Die aus Klimagründen meist sinnvollen Sanierungsmaßnahmen dienen in der Folge Vermietern als Anlass zu teils massiven Mieterhöhungen. Mieter, welche die hohen Mieten nicht aufbringen können, müssen weichen. Eine unsoziale Maßnahme kann sich mit dem Verweis auf Klimaschutz rechtfertigen, bezahlbarer Wohnraum wird verringert. 

Das Prinzip der Nachhaltigkeit, das sozialethisch und politisch relevant ist, besagt, dass nicht mehr Ressourcen verbraucht werden dürfen, als langfristig nachwachsen, sich selbst regenerieren oder wiederhergestellt werden können; es führt eine Zeitachse in den Begriff des verantwortlichen Handelns ein. Dabei verlangt es jedoch, gleichzeitig Umwelt- und soziale Interessen (und ökonomische) zu berücksichtigen. Auch Papst Franziskus betont in Laudato si´(LS 49): ‚Wir kommen jedoch heute nicht umhin anzuerkennen, dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde.‘ Das geschieht in der Praxis zu wenig. Das liegt auch darin begründet, dass in der ausdifferenzierten Gesellschaft Arbeitsbereiche getrennt sind, so dass die Zuständigkeit für Umwelt und soziale Gerechtigkeit in verschiedenen Händen liegt. Das ist angesichts der hohen Komplexität politischer Zusammenhänge durchaus notwendig und sinnvoll. Wird aber aus der Unterscheidung von Arbeitsbereichen eine Trennung, und fehlt zudem die gemeinsame Zielperspektive, sind blinde Flecken und widersprüchliche Maßnahmen die Folge. Christliche Sozialethik dehnt – nicht erst seit Laudato si´ – den Verantwortungsbereich des Menschen für sein Handeln über das zwischenmenschliche und institutionelle hinaus auf die nicht-menschliche Umwelt aus. Doch es bleibt eineVerantwortung – einer künstlichen Zweiteilung, die ökologische Fragen gegen soziale auszuspielen versucht, ist entgegenzuwirken. 

Diese öko-soziale Verantwortung hat neben lokalen auch transnationale Dimensionen. In der Klimarahmenkonvention von 1992 heißt es in Art 3,1: ‚Die Vertragsparteien sollen auf der Grundlage der Gerechtigkeit und entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und ihren jeweiligen Fähigkeiten das Klimasystem zum Wohl heutiger und künftiger Generationen schützen.‘[4] Die industrialisierten Länder haben über einen längeren Zeitraum zum Klimawandel beigetragen und sind heute angesichts ihrer Ressourcen eher in der Lage, in Klimaschutz zu investieren und ihre Lebensweise klimaschonend umzugestalten. Sie haben folglich – wegen des Verursacherprinzips einerseits und weil Sollen Können voraussetzt – die größere Verantwortung, zu einer Verlangsamung des Klimawandels beizutragen. Dieser Verantwortung entsprechen die Bundesrepublik und die EU nicht, die politischen Maßnahmen sind nicht hinreichend. Deutschland, einstmals Vorreiter in Umwelt- und Klimafragen, wird zudem den selbstgesteckten Zielen nicht gerecht: Der Klimaschutzbericht 2018 macht deutlich, dass das ursprüngliche Ziel der Reduzierung der Emission von Treibhausgasen bis 2020 um 40% (gegenüber dem Wert von 1990) nicht eingehalten werden kann. Erwartet werden derzeit 32% Einsparung.[5] Hinzu kommt, dass das Bewusstsein in der Bevölkerung für weltweite Verantwortung aufgrund der gemeinsamen Betroffenheit vom Klimawandel gering ist; daher fehlt eine starke Lobby für eine klimaschonende Politik.

Laudato si´ mahnt die Verantwortung der reicheren Länder an und stellt unser Lebensmodell in Frage: Es genügt demnach nicht, am bisherigen Wachstums- und Konsummodell festzuhalten und es lediglich durch einige ausgleichende Maßnahmen zu flankieren. Franziskus spricht von Umdenken und von der Umkehr – diese Umkehr ist individuell und (stärker als er es ausführt) strukturell zu verstehen. Der westliche Lebensstil lässt sich angesichts begrenzter Ressourcen nicht universalisieren. Aus Gerechtigkeitsgründen können aber den Ländern des globalen Südens Konsum und ‚Entwicklung‘ nicht einfach untersagt werden. Es besteht folglich Veränderungsbedarf für Konsum- und Lebensstil in den stärker industrialisierten Ländern – das aber wird im politischen und öffentlichen Diskurs nicht thematisiert. Es wird kaum öffentlich ausgesprochen, dass ein bescheidenerer Lebensstil in den Ländern des globalen Norden nötig wäre, um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen.[6] Es ist nachvollziehbar, dass Menschen an einer Sicherung oder Verbesserung ihres Status Quo interessiert sind; dementsprechend ist die Rede von Einschränkungen unpopulär und Parteien können mit dem Thema kaum Wählerstimmen gewinnen. Dennoch ist es unzulässig, die moralische Verantwortung aus Gründen der Bequemlichkeit auszublenden. Es ist moralpädagogisch Aufklärungsarbeit zu leisten über die Folgen unseres Lebensstils und noch vehementer eine Politik einzufordern, die Klima- und Umweltprobleme ernst nimmt, um Strukturen zu schaffen, die klimafreundliches Handeln fördern (durch Besteuerung, Subventionen, Infrastruktur etc.). Die zum veränderten Handeln notwendigen wissenschaftlichen Empfehlungen und Handlungsstrategien sind längst vorhanden – das  Städte-Papier des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen beispielsweise entwickelt einen überzeugenden normativen Kompass und zeigt konkrete Wege auf. Eine beherzte Umsetzung der Kernempfehlungen in den Städten des globalen Nordens, hier vor allem in Deutschland, ist im Sinne der gemeinsamen aber geteilten Verantwortung notwendig.[7] Auch Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteur steht in der Pflicht. Viele kirchliche Einrichtungen (wie z.B. Tagungshäuser) versuchen, CO2-Emissionen zu senken und andere Maßnahmen der Klima- und Umweltschonung durchzusetzen. Gleichwohl könnte und müsste der Einsatz für den Klimaschutz ‚lauter‘ und deutlicher sein – damit Laudato si´ mehr ist als nur ein programmatisches Papier. 

Nachhaltigkeitsfragen sind eng mit Gerechtigkeitsfragen verknüpft. Sie stellen sich in der Stadt auch in Bezug auf Stadtplanung. Im WBGU-Papier heißt es: ‚Bei urbanen Investitionen und Architekturwettbewerben Priorität auf die ärmsten 40% statt der reichsten 5% der Bevölkerung setzen.‘[8] Diese schlicht erscheinende Handlungsmaxime wäre eine aus Gerechtigkeitsgründen sinnvolle Maßnahme, mit der sich der Segregation begegnen ließe. Das kann man als Ausdruck der Option für die Armen ebenso lesen wie als Konkretisierung von John Rawls‘ zweitem Gerechtigkeitsgrundsatz, nach dem wirtschaftliche und soziale Ungleichheit den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen sollen. Die am wenigsten Begünstigten also sollten im Zentrum von urbanen Investitionen stehen. Wenn diese Entscheidungen zudem nicht für die ärmsten 40%, sondern – im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, das sich in Partizipation äußert – mit ihnen erfolgen sollen, stellt sich die Frage, wie das geschieht. Gleiche Voraussetzungen – wenn alle sich etwa gleichermaßen per Entscheid beteiligen können, oder auch in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung – genügen nicht, um Beteiligungsgerechtigkeit herzustellen, da die Voraussetzungen der Betroffenen zu ungleich sind. Es bedarf der geeigneten Verfahren, konkrete Empowerment-Strategien oder langfristige Communitybuildung-Maßnahmen, die auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen zur Teilhabe befähigen und die Prozesse angemessen begleiten, ohne dabei wiederum in Paternalismus zu verfallen.

2. Städte-Netzwerke als besondere Akteure

Die Verschränkung lokaler und transnationaler Handlungsebenen lässt sich mit der wachsenden Bedeutung von Städtenetzwerken verdeutlichen. Städte sind von den skizzierten Herausforderungen und von internationalen Entwicklungen insgesamt nicht nur in besonderer Weise betroffen – sie erweisen sich auch zunehmend als bedeutender Akteur in globalen Zusammenhängen. Sie verfolgen oft Ziele räumlicher Entwicklung, die im Verbund leichter durchzusetzen sind als je einzeln. Sie verfolgen aber auch darüber hinaus politische Ziele (Klima-, Friedens-, Migrationspolitik) und übernehmen damit Aufgaben, die traditionell der Staat wahrnimmt. Transnationale Städtenetzwerke führen eine neue Ebene im politischen Handeln ein. Ihre Praxis speist sich häufig aus einer Unzufriedenheit mit der nationalen Politik. ‚Durch die stärkere Verantwortungsübernahme von Städten und Stadtgesellschaften für den urbanen Transformationsprozess entsteht eine polyzentrische Verantwortungsarchitektur, bei der Verantwortlichkeiten nicht ausschließlich hierarchisch angeordnet, sondern auch über mehrere Ebenen des Governance-Systems horizontal verteilt sind.‘[9] Das transformative Potential der Städte wird erkannt und global genutzt. Der WBGU-Bericht spricht von ‚transformativer urbaner Governance.‘[10] Was das bedeutet, lässt sich an Städtebündnissen zu Klimafragen und Einwanderung verdeutlichen. 

Das größte transnationale Städtenetzwerk ist das Klimabündnis. ‚Klima-Bündnis wurde 1990 gegründet, als sich eine Gruppe von 33 Institutionen bestehend aus zwölf Kommunen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie sechs indigene Organisationen des Amazonasbeckens in Frankfurt trafen, motiviert Maßnahmen gegen den stattfindenden Klimawandel zu ergreifen.‘[11] 1700 Kommunen sind heute (nach eigenen Angaben) Mitglied des Bündnisses, sie sind angetrieben durch die Erkenntnis, dass globale Klimafragen lokal angegangen werden müssen. Dazu legen sie sich die Selbstverpflichtungen auf, die CO2 Emissionen alle fünf Jahre um 10 % zu reduzieren, verfolgen damit also ein ehrgeizigeres Ziel als die Nationalregierungen.[12]

Für eine Zusammenarbeit in Fragen der Migration und Integration wurde im Jahr 2008 das CLIP-Network gegründet, Cities for Local Integration Policy. ‚Die wirtschaftliche und kulturelle Integration von Migranten sehen die Mitgliedsstaaten gleichermaßen als Herausforderung und als Chance. Vielen dieser Herausforderungen kann auf lokaler Ebene begegnet werden. Gerade Städten und lokalen Behörden kommen bei der Umsetzung von Integrationsvorgaben entscheidende Rollen zu. Viel mehr noch sind sie jedoch bei der Erarbeitung neuer Richtlinien in den Feldern Wohnraum, Bildung und kultureller Vielfalt gefragt.‘[13] Aus diesem Grund suchen die Städte des Bündnisses die Vernetzung, um gegenseitig von Erfahrungen zu lernen, Best-Practice-Beispiele weiterzugeben und ihre Praxis durch Forschung begleiten zu lassen, um auf diese Weise wirksamer handeln zu können.

Städtenetzwerke sind ein Ausdruck von globaler Solidarität zur Stärkung lokaler Akteure. Es besteht eine Verbindung zwischen ihnen, weil Städte weltweit in vielem ähnlich sind: Sie sind Räume der Pluralität und Urbanität (als Lebensart), sie verfügen über spezifische Milieus, ähnliche Probleme und ringen zuweilen mit der Abhängigkeit von nationaler Ebene. Diesseits der brüchig gewordenen Kategorien Nord und Süd (die gleichwohl ihre Bedeutung nicht verloren haben) entsteht durch die Anerkennung der Ähnlichkeit der Städte über Grenzen hinweg eine gewisse Verbundenheit. In der Verbindung können sie für ihre gemeinsamen Interessen und füreinander einstehen, es handelt sich um eine Form internationaler Solidarität. Darin liegt ein wichtiger Baustein für ein Verständnis globaler Solidarität, die nicht als eine einzige Solidarität zu verstehen ist, sondern im Plural – oder besser: als ein weltweites Netz von Solidaritäten, zu dem die Städtenetzwerke einen Beitrag liefern können. Allerdings ist wie in anderen Solidaritätsbeziehungen Exklusivität gegenüber anderen zu verhindern: Die Stärkung der Verbindung von Städten untereinander sollte nicht zu (noch größeren) Distanzierungen von ländlichen Regionen und daraus folgenden Konkurrenzen führen. 

Doch davon abgesehen sind transnationale Netzwerke sinnvoll. Sie stärken Städte jenseits nationalstaatlicher Kategorien, und ermöglichen so einen Kompetenzzuwachs, sinnvolle Governance-Strukturen und neue Formen der Subsidiarität. Bürgerinnen und Bürgern werden auf kommunaler Ebene Identifikations- und Gestaltungsmöglichkeiten gegeben werden und die soziale Kohäsion wird gestärkt, die Vernetzung globalisiert – partiell – die lokale Bindung. Die Steigerung von Partizipation und Repräsentation ist daher auch demokratietheoretisch von Bedeutung. Und weil Städte flexibler agieren können als Nationalstaaten, können sie angesichts aktueller Herausforderungen Vorreiterrollen einnehmen, wie sich an den genannten Beispielen zeigt. 

3. Zusammenleben in der Stadt

Regionale und nationale Städtenetzwerke übernehmen eine ähnliche Funktion für den nationalen Kontext. Eine besondere Städteinitiative reagierte im Sommer 2018 auf das Sterbenlassen von Migranten im Mittelmeer und die Einstellung der Seenotrettung. Zunächst drei Städte (Düsseldorf, Köln, Bonn) schließen sich für ein Bündnis zusammen. In ihrem Schreiben an die Bundeskanzlerin heißt es. ‚Wir stimmen mit Ihnen überein, dass es eine europäische Lösung für die Aufnahme, die Asylverfahren sowie die Integration oder die Rückführung von Geflüchteten geben muss. Bis eine europäische Lösung mit allen Beteiligten vereinbart ist, ist es dringend geboten, die Seenotrettung im Mittelmeer wieder zu ermöglichen und die Aufnahme der geretteten Menschen zu sichern. Unsere Städte können und wollen in Not geratene Flüchtlinge aufnehmen – genauso wie andere Städte und Kommunen in Deutschland es bereits angeboten haben.‘[14] Das Bündnis setzt ein starkes Zeichen gegen die Kriminalisierung von Flucht und versucht Menschenleben zu retten. Es vereinigt Kritik an übergeordneten politischen Ebenen mit eigenem Einsatz und Engagement und schafft außerdem ein Gegengewicht im von Gleichgültigkeit geprägten öffentlichen Diskurs. Gleichzeitig weist die Aktion darauf hin, dass in Integrationsfragen die Kompetenz bei den Akteuren vor Ort liegt. Aus Gerechtigkeitsgründen sind nationale Verteilungsschlüssel und –kriterien für die Aufnahme von Geflüchteten durch die Kommunen sinnvoll und die grundsätzliche Zuständigkeit und Kompetenz der Bundesebene soll nicht in Frage gestellt werden. Und doch erfordern die Möglichkeiten vor Ort und die Erfahrungen der lokalen Akteure eine gewisse Flexibilität. Sie kann konkret, wie im Fall der Städteinitiative, in die Forderung münden, mehr Menschen aufzunehmen, weil bestimmte Städte dazu in der Lage sind. Sie erfordert grundsätzlich, die Eigenheiten, die Notwendigkeiten und die Expertise vor Ort zu beachten und wertzuschätzen – und mit entsprechenden finanziellen Mitteln auszustatten.

4. Integration

Damit ist an dieser Stelle auf das Zusammenleben von Menschen verschiedener Nationalitäten, Kulturen und Religionen, von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zurückzukommen. Denn in den Städten erweist sich, ob Zusammenleben und Integration gelingen.[15] Integration impliziert immer Wechselseitigkeit. Dazu gehört, dass Integrationsbereitschaft auf der einen Seite mit Akzeptanzbereitschaft auf der anderen Seite einhergehen muss. Eine ‚integrationswillige‘ Gruppe kann sich nur dann integrieren, wenn ein Minimum an Interesse seitens der Aufnahmegesellschaft besteht.[16]

Weil Integration vor allem über Mitwirkung und Teilhabe geschieht, muss genau dies ermöglicht werden: Einwanderer müssen am Gemeinwesen teilhaben können. Der Sachverständigenrat für Migration unterscheidet verschiedenen Dimensionen der Teilhabe, die aber zueinander in Wechselwirkung stehen: ‚Danach geht es um Sicherung einer möglichst chancengleichen Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Dadurch werden der ökonomische (Beschäftigung, Einkommen, Ausbildung etc.), der kulturelle (Sprache, Bildung, Religion, Traditionen etc.), der soziale (Nachbarschaft, wohnen, Freundeskreis, Identifikation etc.) und der politische (bürgerschaftliches Engagement, Parteien, Verbände etc.) Bereich des gesellschaftlichen Lebens ins Zentrum der Analyse gerückt.‘[17]

Die Sicherung der Teilhabe ersetzt nicht die Eigeninitiative in diesen verschiedenen Bereichen, aber sie verweist auf die notwendigen Unterstützungen, die die Eigeninitiative möglich machen. So korrespondiert etwa mit der Bereitschaft, die Sprache zu erlernen, die Schaffung von Sprachkursen (und die Ermöglichung der Teilnahme) etc. Die strukturelle Unterstützung, die Schaffung von Rahmenbedingungen der Integration durch die Kommunen muss durch andere, ‚weichere‘ Faktoren ergänzt werden. Eine Grundbedingung des Zusammenlebens ist, Polarisierungen im Denken – im Sinne einer Entgegensetzung eines vermeintlich klaren ‚Wir‘ von ‚den Anderen‘ – zu vermeiden. Es erschwert nicht nur die Integration ankommender Menschen, sondern auch den Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft. Auch wenn Gesellschaft, die von Gemeinschaft zu unterscheiden ist, keine freundschaftlichen Beziehungen erfordert, so ist doch Respekt füreinander erforderlich sowie ein Bewusstsein, bei aller Verschiedenheit doch eine Gesellschaft zu bilden: Es bedarf eines Minimums an Zusammengehörigkeitsgefühl. Integration der Gesellschaft bedeutet Heterogenität zu tolerieren, zu respektieren und im günstigen Fall wertzuschätzen – und gleichzeitig verbindende Grundlagen zu suchen und zu pflegen.  

Von den vielen Faktoren, die darin eine Rolle spielen, sei an dieser Stelle lediglich kurz auf die Bedeutung der Religion und der Religionsgemeinschaften hingewiesen, die durchaus ambivalent ist: ‚Wenn Religionen primär den Gegensatz von Angehörigen und Nichtangehörigen einer Gemeinschaft kodieren, stehen sie einer gesellschaftlichen Integration doch wohl eher im Weg.‘[18] Gleichzeitig können Religionen aber auch als Ressourcen von Sozialkapital verstanden werden. Soziales Kapital ermöglicht Bindungen zu anderen innerhalb einer Gruppe, wodurch die Gruppe gestärkt wird. Wie Lesch hervorhebt, schafft die Aufnahme von Fremden in diese Gruppe von Menschen mit gleicher Sprache oder Religion ein Gefühl von Sicherheit und Akzeptanz. Diese erfahrene Sicherheit innerhalb der Gruppe gilt aber auch als Voraussetzung, Kontakte außerhalb dieser Gruppe zu knüpfen.[19] Die Schaffung von Vertrauensverhältnissen baut Unsicherheiten ab und trägt so zu Handlungssicherheit im neuen gesellschaftlichen Kontext bei. Diese Brückenfunktion des Sozialkapitals zu stärken, erscheint als zentrale Aufgabe von Kirchengemeinden, interkonfessionellen und interreligiösen Initiativen, die in den Städten aktiv sind. Das kann beispielsweise durch Sprachgemeinden geschehen, wie sie in einigen Diözesen Deutschlands bestehen. Zwar ist eine strikte Trennung von Sprachgemeinden und Territorialgemeinden nicht wünschenswert, da Katholizität gerade National- und Sprachgrenzen überschreitet. Doch können Sprachgemeinden im Sinne des Sozialkapitals bedeutsam sein, weil sie den Katholiken mit Migrationshintergrund ein Heimatgefühl geben und Identität stiften – und auf diese Weise die Vernetzung über diese kleine Gemeinde hinaus ermöglichen. Gleichzeitig sollen sich diese Gemeinden auch als Teil der Stadtgemeinde bzw. der Territorialgemeinden begreifen können. Brigitta Sassin verdeutlicht am Beispiel der Stadtkirche Frankfurt nicht nur die dort vorhandene Vielfalt  (allein 23 Sprachgemeinden), sondern zeigt auch ein best-practice Beispiel einer internationalen deutschsprachigen Gemeinde im Gallusviertel auf, die gleichzeitig Sprache und Herkunft der Gläubigen wertschätzt und mit einem sehr umfangreichen diakonischen Angebot verknüpft.[20] Aus den Angeboten der Pfarrei wurden Netzwerke und Initiativen, die von vielen getragen werden und zum Comunity-building im Stadtteil beigetragen haben. Darüber hinaus gibt es eine Zusammenarbeit mit den Moscheegemeinden – Kirche wirkt in diesem Fall nicht exklusiv, sondern inklusiv.

Teilhabe und Zusammenhalt stärken – Polarisierungen vermeiden; das erwies sich vorangehend als verbindendes Leitmotiv zwischen den verschiedenen Herausforderungen, die sich (in) Städten stellen, sowohl innerhalb der Städte, als auch transnational; zwischen Ökologie und sozialen Fragen; zwischen denen, die erst seit kurzem und denen, die schon länger in der Stadt leben.

Das sind keine hinreichenden, aber notwendige Bedingungen für eine gerechte Stadt, die gutes Leben für alle ermöglicht, ohne dieses gute Leben für andere (weltweit) unmöglich zu machen.


Notes

[1] Vgl. J. Goebel und L. Hoppe, Das sozio-ökonomische Panel, Ausmaß und Trends sozialräumlicher Segregation in Deutschland, Abschlussbericht einer Studie im Auftrag des Bundeministeriums für Arbeit und Soziales, Berlin: 2015, S. 8, URL vom 15.08.2018: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a-305-7-abschlussbericht-ausmass-trends-sozialraeumlicher-segregation.pdf;jsessionid=4683D0A53758031BFEF390074F85A6B7?__blob=publicationFile&v=1

[2] Vgl. für das Beispiel der Stadt Frankfurt, die stark international geprägt ist und dabei sehr unterschiedliche Gruppen von Zuwanderern und große Einkommensdisparitäten aufweist: A. Treichler, ‚Die Wahrnehmung, Interpretation und Bearbeitung sozialer Ungleichheit in und durch die Global City Frankfurt am Main‘, in P. Pielage et al. (Hg.), WISO-Diskurs, Soziale Ungleichheit in der Einwanderungsgesellschaft. Kategorien, Konzepte, Einflussfaktoren, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2012, URL vom 15.08.2018: https://www.bibb.de/dokumente/pdf/Soziale_Ungleichheit_in_der_Einwanderungsgesellschaft_FES.pdf, 154-171. Die äußerst komplexen Zusammenhänge von ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren in Bezug auf die räumliche Abbildung von Ungleichheit lassen sich hier nicht erläutern. 

[3] Außerdem leisten im Klimaschutz meist (große) Städte mehr als kleine Städte und Gemeinden. Das liegt neben dem verdichteten Wohnen an Infrastruktur (wie fehlendem öffentlichen Nahverkehr außerhalb der großen Städte) und vor allem Lebensstil und Gewohnheiten (SUV, kaum ökologisches Bauen etc.). 

[4] Vereinte Nationen, Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen, S. 5, URL vom 08.08.2018: https://unfccc.int/resource/docs/convkp/convger.pdf

[5] Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Klimaschutzbericht 2017, Berlin 2018, S. 7 f.

[6] Das lateinamerikanische ‚Buen Vivir‘ fordert ein gutes Leben für alle Menschen anstelle eines besseren Lebens für wenige. Auch wenn in der praktischen Umsetzung viele Fragen offen sind, bietet es wichtige Anregungen

[7] Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte, Berlin 2016, S. 28f.

[8] Ebd. 29.

[9] Ebd. 24.

[10] Ebd.

[11] Klimabündnis, Wir über uns, URL vom 08.08.18: http://www.klimabuendnis.org/ueber-uns.html

[12] Ebd.

[13] Übersetzung: J. Ulrich. Original: ‘economic and cultural integration of migrants represents both a challenge and an opportunity for all Member States. Many of the challenges are dealt with at the local level. Cities and local authorities have a vital role to play, not only in the implementation of integration policies, but also in the development of innovative policies on housing, education and cultural diversity.’, Cities for Local Integration Policy, About CLIP , URL vom 22.08.2018: https://www.eurofound.europa.eu/about-clip

[14] Vgl. den Internetauftritt der Stadt Düsseldorf, URL vom 24.08.18: https://www.duesseldorf.de/aktuelles/news/detailansicht/newsdetail/duesseldorf-koeln-und-bonn-angebot-und-appell-zur-fluechtlingshilfe-an-kanzlerin-merkel-1.html

[15] Die folgenden beiden Abschnitte greifen zurück auf: M. Becka, ‚Integration der Migranten – Integration der Gesellschaft‘, in M. Heimbach-Steins (Hg.), Zerreißprobe Flüchtlingsintegration, Freiburg i. B.: Herder, 2017.

[16] Interkulturalitätsdiskurse erörtern seit langem, dass bei allen Beteiligten eine gewisse Offenheit oder auch Ungewissheitstoleranz nötig ist. Das ist auch für Fragen der Integration relevant. Doch gerade hier liegt eine besondere Schwierigkeit, weil Ängste Begegnungen häufig überlagern bzw. verhindern. Hier liegt eine der zentralen gegenwärtigen Herausforderungen.

[17] Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Migration und Integration, Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland. Jahresgutachten 2014, Berlin 2014, S. 20.

[18] W. Lesch, ‚Religion als Ressource in Einwanderungsgesellschaften?‘, in: J. Könemann und M.-T. Wacker (Hg.), Flucht und Religion. Hintergründe – Analysen – Perspektiven, Münster: Aschendorff, 2018, S. 211-228: 219.

[19] Vgl. ebd.

[20] Vgl. B. Sassin, ‚Migranten – Rückgrat der Pastoral von morgen‘, in: P. Hundertmark und H. Schönemann (Hg.), Pastoral hinter dem Horizont. Eine ökumenische Denkwerkstatt, Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral KAMP kompakt, Band 6, Speyer, 182-189.


Auctor

Michelle Becka ist Professorin für Christliche Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Würzburg.  Forschungsinteressen: Grundfragen der Sozialethik, Ethik im Justizvollzug, Politische Ethik (Migration), Rechtsethik, Ethik und Interkulturalität. Publikationen: Strafe und Resozialisierung. Hinführung zu einer Ethik des Justizvollzugs, Forum Sozialethik Bd. 16, Münster 2016. Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit im Kontext der Migration, in: Thiel, Marie-Jo, Philadelphia – The Challenge of Fraternity, Münster 2018. Comités de ética en el régimen penitenciario, in: Eijk, Ryan et al. (Hg.), For Justice and Mercy. International Reflections on Prison Chaplaincy, Tilburg/Amsterdam 2016, 121-130.

Address: Katholisch-Theologische Fakultät, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Raum 106, Paradeplatz 4, 97070 Würzburg.