Franz Gmainer-Pranzl
« Rechtspopulismus und Katholizität: Eine ekklesiologische Besinnung »
Thierry-Marie Courau, Susan Abraham, Mile Babić
Concilium 2019-2. Populismus und Religion
Concilium 2019-2. Populism and religion
Concilium 2019-2. Religiones y populismo
Concilium 2019-2. Populismo e religione
Concilium 2019-2. Religions et populisme
Concilium 2019-2. Populismo e religião
„Rechtspopulismus“ ist zu einem allgegenwärtigen Begriff geworden – sowohl in der politikwissenschaftlichen als auch in der theologischen Auseinandersetzung – und spiegelt dadurch eine Entwicklung wider, die noch vor einiger Zeit kaum vorstellbar war: Neoautoritäre, identitäre, xenophobe und nationalistische Diskurse finden sich in Regierungsprogrammen mehrerer europäischer Länder und sind „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen. Dieser kollektive Rechtsruck hat auch die Theologie (nicht nur) im deutschen Sprachraum aufgerüttelt und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus eingeleitet,[1]die nicht zuletzt durch den Pontifikat von Papst Franziskus, der für soziale Gerechtigkeit, eine menschliche Asylpolitik sowie eine Wertschätzung kultureller Vielfalt eintritt, gestärkt wird. Dennoch darf dieses Engagement nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine entschiedene Kritik (rechts)populistischer Politik auch in der Kirche ein Minderheitenprogramm bleibt, weil sich die – aus politischen Konflikten des 19./20. Jahrhunderts resultierende – Ablehnung liberaler oder sozialdemokratischer Positionen in manchen Teilen der katholischen Kirche so hartnäckig hält, dass nicht wenige Katholikinnen und Katholiken in Europa eher mit rechtspopulistischen Ansätzen der Gesellschaftspolitik sympathisieren. Zugleich lässt ein inflationärer Gebrauch des Begriffs „Rechtspopulismus“ dessen Bedeutung unscharf werden; einerseits ist nicht jede nationalistische Floskel oder autoritäre Haltung eines Politikers schon Ausdruck eines programmatischen Rechtspopulismus, anderseits ist eine populistische Politik von Rechtsextremismus abzugrenzen.[2]
Von daher sind Bemühungen um ein klareres Verständnis dessen, was gemeinhin „Rechtspopulismus“ genannt wird, wie sie zum Beispiel Jan-Werner Müller oder Ruth Wodak vorgelegt haben, sehr zu begrüßen. Populismen, so Müller, sind vor allem antipluralistisch; sie beanspruchen, das „wahre Volk“ zu vertreten, und zwar exklusiv und unmittelbar. Nicht die reale Vielfalt und Heterogenität der Gesellschaft zählt, sondern eine ideale Homogenität, die symbolisch repräsentiert wird – und wer sich nicht mit diesem „Volk“ identifiziert, wird zu den „Eliten“ oder „Gegnern“ gerechnet.[3] Auch Ruth Wodak zeigt in ihrer Analyse auf, dass der entscheidende Punkt (rechts)populistischer Strategien – neben einer Personalisierung, Emotionalisierung und Polarisierung politischer Praxis – in der Konstruktion „des Volkes“ besteht, das nativistisch und kulturalistisch konzipiert und durch eine Rhetorik der Angst verteidigt wird.[4] Für die Theologie wird dieser essentialistische, dichotomische und letztlich totalitäre Diskurs spätestens dann höchst relevant, wenn dieses „wahre Volk“ mit dem Christentum gleichgesetzt wird bzw. eine Gesellschaft dann als „christlich“ angesehen wird, wenn sie kulturell und religiös möglichst homogen erscheint – im Sinn eines europäisch-nordamerikanischen Kulturchristentums, das sich insbesondere vom Islam abgrenzt. Die Idee des „christlichen Abendlandes“, die dabei beschworen wird – und zwar immer als Konzept gegen andere, nicht als Inspiration für ein gemeinsames Projekt – erweist sich bei näherer Betrachtung als Mythos, der den jeweiligen politischen Interessen angepasst wird.[5] Diese Instrumentalisierung christlich geprägter Vorstellungen zum Zweck einer identitären Politik muss die Theologie nachdenklich machen und zu einer selbstkritischen Besinnung auf ihr eigenes Verständnis von Kirche und Gesellschaft, Glaube und Politik, Identität und Pluralität führen. Die Überlegungen dieses Beitrags (1) gehen vom Einfluss identitären Denkens (auch) auf das Selbstverständnis der christlichen Kirchen aus, (2) arbeiten die fundamentalen Differenzen zwischen den Konzepten von Rechtspopulismus und Katholizität im Licht von Lumen gentium 13 heraus und (3) zeigen mögliche Perspektiven für eine christliche Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Diskursen auf. Die theologische These, von der die folgenden Überlegungen geleitet werden, besteht in der Überzeugung, dass ein Christentum, das den Anspruch seiner „Katholizität“ verkennt, nicht nur (rechts)populistischen Dynamiken hilflos ausgeliefert ist, sondern letztlich sich selbst verliert.[6]
1. Der Clash of Civilizations als neue „große Erzählung“?
Rechtspopulistische Politik, die maßgeblich durch die Einstellung geprägt ist, dem „wahren Volk“ wieder zum Recht zu verhelfen, es gegen die „Unterdrückung durch die Eliten“ bzw. die „Bedrohung durch die Fremden“ zu verteidigen und exklusiv zu repräsentieren, lebt von der Macht kultureller Identitäten. Was hier zählt, ist nicht „Demos“, sondern „Ethnos“, wie dies Jürgen Habermas bereits Ende des 20. Jahrhunderts mit Blick auf nationalistische Strömungen diagnostizierte: „Das auf imagninierte Blutsverwandtschaft oder kulturelle Identität gegründete ‚Wir-Bewusstsein‘ von Personen, die den Glauben an eine gemeinsame Herkunft teilen, sich gegenseitig als ‚Angehörige‘ derselben Gemeinschaft identifizieren und damit von ihrer Umgebung abgrenzen, soll den gemeinsamen Kern ethnischer wie nationaler Vergemeinschaftungen bilden.“[7] Die politische Gewalt, die aus einem solchen Konzept kultureller Identität resultiert,[8]wurde in den 1990er Jahren im Krieg bzw. Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien sichtbar: als mörderischer Kampf gegen jene, die als kulturell bzw. religiös „Andere“ vorgestellt wurden, und als Herstellung von Identitäten, die noch wenige Jahre zuvor keine Rolle gespielt hatten.
Für den US-amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Huntington (1927‑2008) bildete der ethnisch und religiös aufgeladene Jugoslawienkrieg bekanntlich ein entscheidendes Motiv dafür, sein Buch Clash of Civilizations (1996) zu veröffentlichen – auf Grundlage seines damals aufsehenerregenden Beitrags in der Zeitschrift „Foreign Affairs“.[9] Die zentrale These seines Buches, die Diagnose eines Umbruchs von einer politisch-ideologisch bestimmten Welt zu einer von kulturellen Zugehörigkeiten geprägten Welt, lässt sich heute gleichsam als Wahrnehmung einer rechtspopulistischen Trendwende lesen: „Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt.“[10] Zwar wurde Huntingtons essentialistisches Verständnis von „Kulturen“, „Kulturkreisen“ und „Religionen“ einer deutlichen Kritik unterzogen sowie sein antagonistisches Modell von „Bruchlinienkonflikten“[11] bzw. seine pessimistische Anthropologie[12] in Frage gestellt; dennoch hat er mit seiner – gewiss holzschnittartigen und polarisierenden – Analyse einen Nerv der Zeit getroffen: Menschen suchen in Zeiten des Umbruchs und des Orientierungsverlusts „feste Identitäten“, die sie nach dem Zusammenbruch des Gegensatzes zwischen kommunistischem Ostblock und kapitalistischem Westblock offenbar in der Zugehörigkeit zu kulturellen Kollektiven finden. „Politische Grenzen“, so Huntington, „werden in zunehmendem Maße neu gezogen, um mit kulturellen, ethnischen, religiösen und zivilisationsbedingten Grenzen zusammenzufallen.“[13]
Diese Kulturalisierung von Identitäten und Zugehörigkeiten ging auch an den Religionsgemeinschaften nicht spurlos vorüber – ganz im Gegenteil: Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert erfolgte eine diskursive Verschmelzung von kulturellen Traditionen und religiösen Bekenntnissen, die zu beispiellosen Ein- und Ausgrenzungen führte. Ob dies die Zuordnung von Bevölkerungsteilen in Ex-Jugoslawien zu bestimmten Religionsgemeinschaften („orthodoxe Serben“, „katholische Kroaten“, „muslimische Bosniaken“) oder die automatische Zuschreibung einer „muslimischen Identität“ an Migrantinnen und Migranten bzw. deren Kindern[14] – relevant für den öffentlichen Diskurs waren zunehmend weder die soziale Situation von Menschen noch ihre politische Überzeugung, sondern einzig und allein ihre „Kultur“, die oft mit „Religion“ in eins gesetzt wurde. Die Bestimmung des menschlichen Lebens durch „kulturelle Identitäten“ sowie der daraus resultierende „Kampf der Kulturen“ scheint zur neuen „großen Erzählung“ des frühen 21. Jahrhunderts geworden zu sein, aus der sich einzelne rechtspopulistische Projekte in mehreren Ländern Europas (und darüber hinaus) speisen. Inwieweit manche Religionsgemeinschaften in diesen identitären Sog hineingezogen wurden bzw. selbst aktiv zu solchen kulturell-religiösen Ein- und Ausgrenzungen beigetragen haben, wird wohl noch Gegenstand künftiger Forschungen über die Genese des Rechtspopulismus sein. Schon jetzt muss aber (selbst)kritisch aus der Perspektive katholischer Theologie auf jene Ambitionen innerhalb der katholischen Kirche hingewiesen werden, die sich von einer Art kulturpolitischen Koalition mit rechtspopulistischen Kräften eine Stärkung traditioneller kirchlicher Identitäten erhoffen. Manche sehen in der Übernahme rechter Positionen (Zurückdämmung von Migration, islamophobe Rhetorik, Diffamierung solidarischer und emanzipatorischer Politik als „linksextrem“, Propagieren eines „Anti-Genderismus“ usw.) eine Chance, vermeintliche „katholische Werte“ mit Hilfe rechtspopulistischer Politiker durchzusetzen bzw. wiederzugewinnen. So kann es auch dazu kommen, dass manche Bischöfe den xenophoben Äußerungen der Politiker ihres Landes mehr zuneigen als dem Plädoyer von Papst Franziskus für eine Kultur der Gastfreundschaft und der Aufnahme von Flüchtlingen. Eine solche, kirchlich und theologisch äußerst zwiespältige Situation führt allerdings unausweichlich zur Frage, wie sich die Kirche angesichts kulturalistischer, identitärer und nationalistischer Diskurse positioniert – und zwar nicht bloß im Sinn moralischer Weisungen, sondern viel grundsätzlicher: in welchem Verhältnis steht die katholische Kirche zum Welt- und Menschenbild sowie zum Politikverständnis des Rechtspopulismus? Partizipiert sie an der „großen Erzählung“ des Clash of Civilizations, oder verfügt sie über eine „eigene Geschichte“ oder gar über eine Gegenerzählung? Wie begründet sie ihre Kritik an Fremdenfeindlichkeit, neoautoritärer Politik und an einer Kulturalisierung sozialer Probleme, die nicht als neue Bevormundung zur Geltung kommen will, sondern als Ausdruck dessen, was sie ist und was sie glaubt?
2. Geprägt durch den „universalitatis character“: eine anspruchsvolle Sendung
Das relativ unbekannte Kapitel 13 der Kirchenkonstitution Lumen gentium präsentiert eine innovative Phänomenologie der Katholizität, in der theologische Perspektiven, interkulturelle Beziehungen und institutionelle Reflexionen auf eindrückliche Weise ineinandergreifen. Im zweiten Abschnitt dieses Konzilsdokuments, das vom „Volk Gottes“ handelt, hat dieses Kapitel die Aufgabe, die Überlegungen von Lumen gentium 14 bis 16, wer zu diesem „Volk Gottes“ gehört, durch eine differenzierte Auseinandersetzung der Kirche mit ihrer inneren Struktur und ihrem Verhältnis zur Welt vorzubereiten. Vier Motive prägen diesen Abschnitt: (1) Der Bezug auf die gesamte Menschheit, der wie in GS 1‑3, NA 1 und AG 1 sowie bereits in Lumen gentium 1 die kirchliche Sendung charakterisiert: „Zum neuen Volk Gottes werden alle Menschen gerufen“; (2) eine besondere Form der Konvivenz der Kirche als „Volk aus allen Völkern“, die nicht in Konkurrenz, kultureller Kolonisierung oder einer assimilierenden Globalisierung besteht, sondern in reziproken Anerkennungs- und Lernbeziehungen; (3) das Merkmal der Universalität (universalitatis character), das als konstitutives Prinzip der Weltkirche und ihrer vielfachen Bezüge zu unterschiedlichen Völkern und Gruppen zur Geltung kommt; und (4) die daraus resultierende globale Lebensform einer „Fülle in Einheit“, die sich sowohl von einer zentralistischen Organisationsform als auch von einem beziehungslosen Nebeneinander unterscheidet.
Aus diesen Motiven lassen sich sieben Charakteristika gewinnen, die die Lebensform, Struktur und Beziehungsgestalt von „Katholizität“ präzisieren und sich als klares Kontrastmodell zu jenen Lebens- und Politikmodellen erweisen, die als „rechtspopulistisch“ gelten. Wenn „Katholizität“ hier im Licht der ekklesiologischen Phänomenologie von Lumen gentium 13 als Alternative zum Modell „Rechtspopulismus“ vorgestellt wird, gilt es zu beachten, dass „Katholizität“ hier nicht als konfessionelles Alleinstellungsmerkmal für die römisch-katholische Kirche verstanden wird, sondern als Kennzeichen jeder christlichen Kirche, die sich im Dienst der gesamten Menschheit sieht und auch bereit ist, sich von der Vielfalt dieser Menschheit herausfordern und verändern zu lassen. Zudem wird „Katholizität“ hier als Anspruch verstanden – im Bewusstsein dessen, dass auch die römisch-katholische Kirche den Versuchungen nationalistischen, xenophoben und identitären Denkens nicht immer widersteht. Und schließlich geht es nicht um eine bloße Verurteilung des Rechtspopulismus, als könnte die Kirche souverän einschätzen, welche gesellschaftlichen Strömungen anzuerkennen oder abzulehnen seien.[15] Vielmehr ist Selbstkritik angesagt: „Katholizität“ ist nicht eine Auszeichnung, die sich eine Kirche selbst verleiht, sondern eine Herausforderung, die die gesamte kirchliche Gemeinschaft betrifft. Eine Kritik des Rechtspopulismus, die nicht zuerst danach fragt, ob die eigenen kirchlichen Strukturen dem Anspruch von Katholizität genügen, ist unglaubwürdig. Anders gesagt: nur von einem gelebten Zeugnis christlichen Glaubens im Horizont seiner Katholizität macht eine kritische Auseinandersetzung mit rechtspopulistischer Politik Sinn.
Von daher ist auf folgende sieben Charakteristika des „Katholischen“ – in Kontrast zu rechtspopulistischer Identitätspolitik – hinzuweisen: (1) Die Kirche steht immer im Dienst an der Einheit der Menschheit. Sie vertritt keine separative Multikulturalität, die jeder „Kultur“ ihren eigenen „Raum“ zubilligt, wie dies manche Stellungnahmen „gegen Migration“ fordern, sondern setzt sich für Frieden und Versöhnung auf lokaler und globaler Ebene ein. (2) Als „Volk (Gottes)“ versteht sich die Kirche nicht als „Ethnie“, sondern als „Kongregation“. In diese Gemeinschaft wird niemand „geboren“, sondern „berufen“; durch diesen Ruf sammeln sich (congregare, wie es in Lumen gentium 13,1 heißt) die Menschen zur Einheit. Auch wenn natürlich Kinder katholischer Eltern in gewisser Weise in ihre Glaubensgemeinschaft „hineingeboren“ werden, ist daraus theologisch keinesfalls die Konsequenz zu ziehen, dass das „Volk“ der Kirche ein „Nationalvolk“ sei. Es ist immer ein „Volk aus allen Völkern“, in dessen lokaler kultureller Prägung – die selbstverständlich zu achten und zu fördern ist – jene „Neuheit des Lebens“ (Ad gentes 21,3) wirksam ist, die die Kirche als „Kongregation“ auszeichnet: ek-klesia und nicht bloß ethnos zu sein. (3) Dementsprechend löst die Weltkirche auch nicht die kulturellen Identitäten der unterschiedlichen Völker auf, sondern fördert sie; mehr noch: sie lässt sich auf Prozesse der Übernahme, der Reinigung und Bereicherung ein, begegnet also dem Fremden responsiv und nicht identitär. „Katholisch“ zu sein heißt immer auch, sich von Neuem und Fremdem herausfordern zu lassen und darauf eine Antwort zu finden, nicht ein abgeschlossenes Selbstverständnis gegen alles Ungewohnte und Überraschende zu behaupten.[16]Felix Wilfred spricht in diesem Sinn von „umgekehrter Katholizität“ als einem „Prozess des Universal-Werdens durch Empfangen und durch Lernen von Anderen“[17] – in Kontrast zu einer „ausgreifenden Katholizität“, die ihr eigenes Selbstverständnis in alle Welt exportiert. (4) Katholizität sieht Pluralität nicht nur als unausweichliche Notwendigkeit, sondern als innere Bereicherung. Das „Volk Gottes“ sammelt sich, wie Lumen gentium 13,3 mit großer Selbstverständlichkeit einräumt, „aus verschiedenen Völkern“ und wird „aus vielfältigen Ordnungen gebildet“. Die „rechtmäßigen Verschiedenheiten“ und „Besonderheiten“ schaden der Einheit der Gesamtkirche nicht nur nicht, sondern „dienen“ ihr vielmehr; catholicitas besteht darin, dass „das Ganze und die einzelnen Teile aus allen vermehrt werden, die Gemeinschaft miteinander halten und zur Fülle in Einheit zusammenwirken“ (Lumen gentium 13,3).[18] Weltkirche zu sein, bedeutet nicht zentralistische Gleichschaltung, sondern die Erfahrung, in einer großen Vielfalt eine Form tiefer Verbundenheit und Einheit zu leben.[19] (5) Das Verhältnis von „Volk Gottes“ und Menschheit ist sakramental, nicht totalitär strukturiert, das heißt: Die Kirche ist – im Sinn der Einleitung der Kirchenkonstitution – „Zeichen und Werkzeug […] für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts“ (Lumen gentium 1), aber sie sieht sich selbst nicht als einzig möglicheoder vollständige Repräsentation der Menschheit. Auch wenn sie sich als „Weltkirche“ versteht, als „Volk aus allen Völkern“, weiß die Kirche darum, dass sie diese Welt immer nur fragmentarisch repräsentieren kann; gegen alle Tendenzen einer „societas perfecta“-Ekklesiologie nimmt das sakramentale Verständnis von Kirche die Grenzen institutioneller Identität und Repräsentationsfähigkeit ernst. Die Kirche kann und braucht keine „Totalität“ darstellen; es reicht, wenn auf ihr, wie in Lumen gentium 1 so treffend beschrieben, jenes „Licht“ widerstrahlt, das alle Menschen erleuchtet. (6) Wenn sich also die Kirche dessen bewusst ist, dass sie als „Volk Gottes“ grundsätzlich begrenzt ist und nicht über „das Ganze“ verfügt, heißt das nicht, dass der Horizont ihrer Katholizität begrenzt ist; mit Verweis auf den Gedanken der Rekapitulation in Irenäus von Lyons Adversus haereses streicht Lumen gentium 13,2 deutlich heraus, dass die Kirche „die ganze Menschheit“ in der Einheit des Geistes Christi „zusammenfassen“ (recapitulandam) will.[20] Hier ist nicht eine ethnisch verfasste Kirche bzw. eine Kirche, die sich exklusiv bestimmten Klassen, Schichten, Milieus oder bestimmten Gruppen verbunden fühlt, im Blick, sondern eine Kirche, die sich um die gesamte Menschheitsfamilie sorgt. Nicht Restriktion, sondern Rekapitulation sollte das Handeln der Kirche Jesu Christi kennzeichnen: eine leidenschaftliche Sorge um alle Menschen, egal, welcher Kultur, Gesellschaft, Ethnie, sozialen Klasse oder Religion sie angehören. Würde das „Katholische“ als Milieu verstanden statt als Anspruch, sich der „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen dieser Zeit“ (Gaudium et spes, 1) zu stellen, geriete die Kirche ernsthaft in Gefahr, von einer rechtspopulistischen Agenda vereinnahmt zu werden, der es eben nicht um globale Verantwortung, sondern um nationale Eigeninteressen geht. (7) Schließlich zeigt sich auch am Verständnis von „Heimat“ –einer rechtspopulistischen Zentralkategorie –, welche Perspektive Lumengentium 13 vermittelt. Die Mitglieder des „Volkes Gottes“, die natürlich auch bestimmten kulturellen Traditionen, ethnischen Communities und Nationalstaaten angehören, sind auch „Bürger […] eines Reiches freilich nicht irdischer, sondern himmlischer Beschaffenheit“ (Lumen gentium 13,2); sie gehörenalso einer Gemeinschaft an, deren „Heimat“ grundsätzlich nicht ethnisch oder national konstituiert ist. In diesem „Volk Gottes“ bleiben Christinnen und Christen unterwegs – hin zur „Fülle des Lebens“. Das christliche Verständnis von „Heimat“ ist auf Zukunft hin angelegt, das rechtspopulistische Verständnis vom Festhalten an (einer vermeintlichen) Vergangenheit bestimmt. Nicht der Versuch, vergangene kulturelle Lebenswelten zu restaurieren, sondern die Hoffnung auf die „künftige Stadt“ (Hebr 13,14) ist also typisch für ein katholisches Verständnis von „Heimat“.
3. Plädoyer für einen neuen Mut zur Katholizität
Wie sich rechtspopulistische Formen von Politik weiter entwickeln, kann den christlichen Kirchen nicht egal sein, insofern der Glaube an Jesus Christus immer auch eine Praxis für eine solidarische, gerechte und menschliche Gesellschaft anstößt. Es ist von daher kein Zufall, dass in einer Reihe von Ländern Spannungen, wenn nicht sogar Konflikte zwischen christlichen Kirchen und rechtspopulistisch agierenden Politikern auftreten, die sich weder durch die Inszenierung einer „christlichen Politik“ noch durch manche innerkirchliche Sympathien für einen neoautoritären, xenophoben und identitären Kurs kaschieren lassen. Ein wichtiger Lernschritt für die christlichen Kirchen könnte eine (selbst-)kritische Besinnung auf jenes Potential von „Katholizität“ sein, das eine „Weltkirche“ auszeichnet. Die Impulse von Lumen gentium 13 könnten von daher einen neuen „Mut zur Katholizität“ fördern – wobei dieser „Mut“ nicht einfach anti-rechtspopulistische Agitation bedeutet, sondern eine hoffnungsvolle Orientierung an der verändernden und befreienden Kraft des Evangeliums und an der bereichernd-herausfordernden Vielfalt dieser Welt. Dieser „Mut zur Katholizität“ wird die Gläubigen unterschiedlicher christlicher Kirchen ermutigen, einen Beitrag zur Weiterentwicklung einer offenen und solidarischen Gesellschaft zu leisten, und ebenso Engagierte in politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Bewegungen und NGOs einladen, miteinander an Lösungen für die Fragen und Herausforderungen der Zeit zu arbeiten. Eine andere Welt, eine nicht von Angst, Kulturkämpfen und emotionalisierter Politik bestimmte Welt, ist möglich.
Anmerkungen
[1] Vgl. Walter Lesch (Hg.), Christentum und Populismus. Klare Fronten? Freiburg im Breisgau 2017; Stefan Orth/Volker Resing (Hg.), AfD, Pegida und Co. Angriff auf die Religion? Freiburg im Breisgau 2017; Sonja Angelika Strube (Hg.), Das Fremde akzeptieren. Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entgegenwirken. Theologische Ansätze, Freiburg im Breisgau 2017.
[2] Vgl. Sonja Angelika Strube (Hg.), Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie, Freiburg im Breisgau 2015.
[3] Vgl. Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016, 129‑135.
[4] Vgl. Ruth Wodak, Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Wien/Hamburg 2016, 40‑42, 82‑84.
[5]Zu den unterschiedlichen, immer wieder wechselnden Bedeutungen eines „christlichen Abendlandes“ vgl. Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die NEUE RECHTE und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017, 155‑186.
[6] Vgl. die Explikation des „Katholischen“ bei Klaus Vechtel SJ, Das Katholische als Herausforderung. Überlegungen zur gegenwärtigen theologischen Diskussion um die Kirche, in: ThPh 90 (2015) 60‑82; 81: „Katholisch ist die Kirche, weil sie Gottes Heil allen vermitteln will: nicht nur einer spirituellen oder intellektuellen Elite, sondern gerade auch den Sündern, den einfachen Menschen, den Armen und Ausgegrenzten, den Zweifelnden und Suchenden. Abgrenzend wird der Begriff des Katholischen dort, wo man das Heilsangebot Gottes einschränkt für wenige, wo man eine Kirche der Auserwählten, der Besseren, der Reinen bildet. Die Herausforderung des Katholischen besteht darin: sich auch als ‚kleine Herde‘ oder im Moment der Krise nicht als exklusive Gegenkultur zu verstehen […].“
[7] Jürgen Habermas, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? Zum Verhältnis von Nation, Rechtsstaat und Demokratie, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1996, 154‑184; 155.
[8] „Die Annahme einer unverfügbaren kollektiven Identität nötigt zu repressiven Politiken, sei es der zwangsweisen Assimilation fremder Elemente oder der Reinerhaltung des Volkes durch Apartheid und Säuberung […]“ (ebd., 169).
[9] Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs 72 (1993) 3, 22‑49. – Das Fragezeichen, das Huntington im Titel seines Journal-Beitrags (im Gegensatz zum späteren Buch) noch setzt, hat mehrere Kommentatoren zur Vermutung veranlasst, dass Huntington offenbar selbst noch an der Plausibilität seiner Kulturkampf-These zweifelte.
[10] Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996, 19.
[11] „Bei Bruchlinienkriegen gibt es für jede Seite Gründe, nicht nur die eigene kulturelle Identität, sondern auch die der Gegenseite zu unterstreichen“ (ebd., 441).
[12] „Hassen ist menschlich. Die Menschen brauchen Feinde zu ihrer Selbstdefinition und Motivation […]“ (ebd., 202).
[13] Ebd., 193.
[14] Vgl. zum Beispiel die beklemmende Schilderung der Erfahrungen von Rassismus und Exklusion, die Zacarias Moussaoui, einen säkularen Jugendlichen in Frankreich und Sohn marokkanischer Einwanderer, zuerst in die Frustration und schließlich in die Arme jener Terrorgruppe führte, die für das Attentat des 11. September 2001 verantwortlich war: Abd Samad Moussaoui, Zacarias Moussaoui, mein Bruder, Zürich 2002.
[15] Vgl. Stefan Hermann, Wie politisch muss Kirche sein? Kirche und die Herausforderungen durch radikale und populistische Strömungen, in: Amt und Gemeinde 67 (2017), 4, 269‑283.
[16] Vgl. die bemerkenswerte These in der Instruktion Erga migrantes caritas Christi des Päpstlichen Rates der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs (2004) in Nr. 17: „Die Fremden sind ebenfalls ein sichtbares Zeichen und ein wirksamer Aufruf jenes Universalismus, der ein grundlegendes Element der katholischen Kirche ist.“
[17] Felix Wilfred, Asiatische Wege zur Katholizität. Theologische Reflexionen im post-christlichen Kontext, in: Claude Ozankom (Hg.), Katholizität im Kommen. Katholische Identität und gegenwärtige Veränderungsprozesse, Regensburg 2011, 95‑108, hier 100.
[18] Im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Ecclesia in Europa (2003) von Papst Johannes Paul II. findet sich eine interessante (und durchaus provokante) Weiterführung dieser Überlegung, die gerade angesichts einer rechtspopulistischen Renationalisierung Europas von Bedeutung ist und „einen einzigartigen Beitrag zum Aufbau eines der Welt gegenüber offenen Europa leisten“ kann: „Von der Katholischen Kirche stammt nämlich ein Modell wesenhafter Einheit in der Verschiedenheit der kulturellen Ausdrucksformen, das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer weltweiten Gemeinschaft, die in den Ortsgemeinden wurzelt, ohne sich jedoch in ihnen zu erschöpfen, also der Sinn für das Einende, das über das Unterscheidende hinausgeht“ (Ecclesia in Europa, Nr. 116).
[19] Nach Aloys Grillmeier soll durch diese Vermittlung von Einheit und Verschiedenheit „gezeigt werden, dass in dem einen Volk Gottes Raum ist für alle Berufungen und Lebensweisen, welche den Einzelnen zur Entfaltung kommen lassen und doch dem Ganzen dienen. – Wir haben so eine Katholizität der Verschiedenheit und des Zusammenspiels verschiedener Ordnungen, wie sie nur der Geist Gottes aus seinem Volk herausdifferenzieren und wieder zusammenhalten kann“ (Aloys Grillmeier SJ, Kommentar [Zweites Kapitel], in: Lexikon für Theologie und Kirche, Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen. Lateinisch und deutsch. Kommentare, Teil I, Freiburg im Breisgau 1966, 176‑207, hier 194).
[20] So in Adversus haereses 3,16,6 und 3,22,1‑3. Nach Irenäus von Lyon zeigt Lukas mit seinem Geschlechtsregister (Lk 3,23‑38), dass Jesus „es ist, der alle seit Adam verbreiteten Völker, sämtliche Sprachen und Menschengenerationen, inbegriffen Adam selbst, in sich rekapituliert hat“ (ebd. 3,22,2).
Auctor
Franz Gmainer-Pranzl, geb. 1966 in Steyr, Österreich; Priester der Diözese Linz (1995). Nach der Promotion in Theologie (Universität Innsbruck) und Philosophie (Universität Wien) habilitierte er sich an der Universität Innsbruck im Fach Fundamentaltheologie. Seit 2009 ist er Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg (Österreich) und Leiter des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind interkulturelle Philosophie, Theologie Interkulturell und die Beziehungen zwischen Afrika und Europa; seit 2011 ist er Herausgeber der Reihe „Salzburger interdisziplinäre Diskurse“.
Address: Universität Salzburg, Fachbereich Systematische Theologie, Universitätsplatz 1, A-5020 Salzburg (Österreich).