Präsenzformen eines politisch-öffentlichen Christentums – A. Kreutzer

Diskursiv, sozioökonomisch sensibel und performativ. Präsenzformen eines politisch-öffentlichen Christentums

von Ansgar Kreutzer



1. Einleitung: Politische Nachtgebete 1968

1968: Die Welt wird beherrscht vom Kalten Krieg. Die USA werfen verheerende Napalm-Bomben über Vietnam ab. Sowjetische Panzer rollen in die Tschechoslowakei ein und beenden gewaltsam die politischen Aufbrüche des Prager Frühlings. In der Bundesrepublik Deutschland demonstrieren – auf die weltpolitischen Ereignisse Bezug nehmend – Studentinnen und Studenten, aber auch junge Menschen aus anderen gesellschaftlichen Kreisen, die sogenannte 68er-Generation.[1] In den christlichen Kirchen finden die weltpolitischen und nationalen Ereignisse Resonanz. In der Antoniterkirche zu Köln versammeln sich regelmäßig evangelische und katholische Christinnen und Christen, um die Politik „ins Gebet zu nehmen“, ziehen „Politische Nachtgebete“ zahlreiche Menschen an.[2] Das Besondere am Politischen Nachtgebet war die Kombination aus Bibellektüre, Meditation, politischer Information und Debatte in einem grundsätzlich liturgisch definierten Rahmen. Eine der zentralen Figuren des Politischen Nachtgebets, die prominente evangelische Theologin Dorothee Sölle (1929–2003), hat dieses Tun in ihrem Buch Politische Theologie reflektiert.[3] Sölles entscheidendes Argument für eine politische Theologie macht sich am Rationalitätsethos der Aufklärung fest. In Auseinandersetzung mit ihrem Lehrer Rudolf Bultmann fragt Sölle, wie weit der von Bultmann gegenüber den eigenen christlichen Traditionen an den Tag gelegte aufklärerische kritisch-rationale Habitus gehen dürfe. Sie beantwortet die Frage damit, dass auch das theologische Nachdenken selbst, auch das aufklärerisch-kritische, sich noch einmal kritisch Rechenschaft darüber ablegen müsse, unter welchen gesellschaftlich-politischen Umständen theologische Reflexion geschehe: „Sucht man nach dem gemeinsamen Dritten, das historisch-kritische Theologie und politisches Bewußtsein miteinander verbindet, so ist beiden gemeinsam ein positives Verhältnis zur Aufklärung, zum ‚Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ (Kant). Wenn wir davon ausgehen, daß Aufklärung als der Prozeß dieses Ausgehens unteilbar ist, das heißt, dass sich bestimmte kritische Fähigkeiten des Menschen die Gegenstände ihrer Anwendung nicht vorschreiben lassen, dann entstammt das politisch aufgeklärte Bewußtsein demselben kritischen, rationalen Geist, dem auch theologische Aufklärung sich verdankt.“[4]

Es spricht für die Protagonistinnen und Protagonisten des Politischen Nachtgebets, dass sie mit diesem kritischen Habitus, der von der Aufklärung über Bultmanns entmythologisierende Theologie bis hin zur kritischen Hinterfragung gesellschaftlicher Verhältnisse, in die Glaube und Theologie immer schon verstrickt sind, reicht, auch bei sich selbst nicht Halt gemacht haben. In einer bemerkenswerten Passage eines Politischen Nachtgebets, das dem Thema Glaube und Politik gewidmet war, heißt es unter der Überschrift „Zweifel“: „Und doch frag ich mich: Ist das alles richtig? Ist denn die Kirche wirklich dazu da, politische Strukturen zu bedenken? Ist nicht die Kirche zu ganz was anderem bestimmt? Stille zu geben, einen Raum zu schaffen, in dem man Andacht, Feier, Anbetung erlebt? […] Holt man die Politik erst in die Kirche, dann kommen Sorgen und Probleme wieder mit. Will man uns denn die letzte Friedensinsel nehmen? Vielleicht kommt dafür Frieden in die Welt!“[5]

Hier werden Größe und Grenze dieser Art liturgisch artikulierter und gelebter politischer Theologie deutlich, deren zentrales Merkmal in der Verbindung eben nicht nur des politisch-öffentlichen mit dem religiösen Diskurs liegt, sondern in der Verschmelzung von emotional aufgeladener Symbolsprache des Glaubens, von ästhetisch gestalteter und expressiver Liturgie mit politischen Herausforderungen, Debatten und Konsequenzen. Auf diesem „Mischungsverhältnis“ von christlicher Religion und politischer Öffentlichkeit, das auf die öffentliche Bedeutung religiöser Symbolpraxen abzielt, soll hier das Augenmerk liegen.

Dazu wird zunächst ein auch in der Theologie prominent rezipiertes Verständnis von politischer Öffentlichkeit, das diskursiv-deliberative Modell, das insbesondere mit dem Namen Jürgen Habermas verbunden ist, skizziert, aber auch kritisch ergänzt: um die hier tendenziell vernachlässigten sozioökonomischen und performativen Dimensionen (2). Gerade an diese Dimensionen von Öffentlichkeit kann jedoch, so die leitende Inspiration, eine zeitgenössische politisch-öffentliche Theologie anschließen. Dies soll am Modell einer politisch-öffentlichen Kirche, wie sie der derzeitige Papst Franziskus buchstäblich verkörpert, illustriert werden (3). Zum Schluss soll ein kurzer (Aus-)Blick auf die heute – offenbar wieder – aktuellen Politischen Nachtgebete geworfen werden, welche auch in unseren Tagen, in unseren Gesellschaften und in unseren Kirchen die bleibende politisch-öffentliche Bedeutung des Christentums belegen (4).


[1] Vgl. zum ereignisreichen Jahr 1968 beispielsweise: Sebastian Holzbrecher u.a. (Hg.), Revolte in der Kirche? Das Jahr 1968 und seine Folgen in der Kirche, Freiburg 2018; Peter Neuner, Turbulenter Aufbruch. Die 60er Jahre zwischen Konzil und konservativer Wende, Freiburg 2019.  

[2] Vgl. zur Erstinformation die Website mit weiterführenden Hinweisen: https://www.dorothee-soelle.de/über-dorothee-sölle/politisches-nachtgebet/(Stand: 31.10.19) sowie Neuner, Turbulenter Aufbruch, 146–152.

[3] Dorothee Sölle, Politische Theologie (erw. Aufl.), Stuttgart 1982 – ein Buch, zu dem Sölle im Vorwort schreibt, dass es „undenkbar“ gewesen wäre, „ohne die vielen Gespräche mit den Freunden vom ökumenischen Arbeitskreis Politisches Nachtgebet, Köln“ (ebd., 10). In diesem Buch sind zugleich drei Politische Nachtgebete exemplarisch dokumentiert: ebd., 113–183. Vgl. auch die kommentierten Quellennachweise von Sölle: ebd., 221f.

[4] Ebd., 13. Ein ähnliches Argument (ebenso mit Rekurs auf die Aufklärung) findet sich bei Johann Baptist Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz/München 1969, 103.

[5] Sölle, Politische Theologie, 139.

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