Andreas Lob-Hüdepohl

« „Brücken statt Barrieren“ . Potentiale christlicher Hoffnung gegen den Populismus von rechts »

Thierry-Marie Courau, Susan Abraham, Mile Babić

Concilium 2019-2. Populismus und Religion
Concilium 2019-2. Populism and religion
Concilium 2019-2. Religiones y populismo
Concilium 2019-2. Populismo e religione
Concilium 2019-2. Religions et populisme
Concilium 2019-2. Populismo e religião


1. Das „Höchste“ gegen das „Niedrigste“…

„Die Populisten“, merkte vor einigen Jahren eine Überlebende des Holocaust in einer auch international berühmt gewordenen Videobotschaft an, „holen immer nur das Niedrigste aus uns Menschen heraus.“ Bemerkenswerter Weise spricht die österreichische Pensionistin keinesfalls nur von einer bestimmten Gruppe, sondern von allen Menschen, aus denen das Niedrigste herausgeholt werden kann. Sie spricht letztlich auch von sich selbst. Tatsächlich sind potentiell alle Menschen für populistische Versuchungen empfänglich. Tiefgreifende Wandlungsprozesse in nahezu allen Bereichen des alltäglichen wie gesamtgesellschaftlichen Lebens lassen niemand unberührt. Deren Gewinn- und Verlustseiten sind ohnehin sehr ungleich verteilt. Vermutlich erleiden alle irgendeinmal schmerzhafte Enttäuschungen, bittere Niederlagen oder auch veritable Zukunftsängste. Deshalb dürfte kaum jemand von vorneherein gegen die Versuchung gefeit sein, wenigstens da und dort seinen Ängsten, Enttäuschungen oder Kränkungen durch Empörung und Wut Luft zu verschaffen. 

Aber anstatt solche Empörung und Wut – egal ob berechtigt und unberechtigt – in konstruktive Mitgestaltung oder wenigstens in demokratischen Protest zu lenken, heizen Populisten solche Ängste noch an und wenden sie mit hasserfüllter Rede gegen das ‚Establishment‘, gegen die Eliten in Politik, Wirtschaft und neuerdings auch in Kirche, Kultur und Wissenschaft. Vor allem wenden sie ihren Hass gegen all jene, die schwächer sind, die sich nicht wehren können oder die sich aus anderen Gründen als ‚Sündenböcke‘ anbieten. Das ist das besondere Kennzeichen des Populismus von rechts: Er schürt nicht nur Ressentiments gegen als Andere und Fremde, gegen Andersgläubige oder Geflüchtete, gegen Langzeitarbeitslose oder Wohnungslose, gegen Schwule oder Intersexuelle usw. Sondern er wertet die betroffenen Personengruppen pauschal als minderwertig ab. Er weist ihnen einen niedrigeren sozialen Status zu, der sie letztlich zu Rechtlosen macht. Rechtspopulisten leugnen das demokratische Basisprinzip der Fundamentalgleichheit aller Menschen. Sie fordern zwar gesellschaftliche Solidarität – aber nur zwischen jenen, die immer schon dazugehören. Solche exklusive Solidarität gilt es zu schützen – gegen alle Nichtdazugehörigen durch Barrieren unterschiedlichster Art.

Zu denen, aus denen rechtspopulistische Bewegungen „das Niedrigste“ des Menschen herausholen, gehören auch viele bekennenden Christ*innen und aktive Kirchenmitglieder. Denn längst hat sich der Populismus von rechts bis tief in die Mitte der Gesellschaft und der Kirchen eingefressen.[1] Das muss verstören: Widersprechen exklusive Solidaritäten, soziale Auf- und Abwertungen oder angsterfüllte Hassreden nicht diametral genuin christlichen Überzeugungen? Etwa der Ausweitung christlicher Nächstenliebe auf die Fernstenliebe im Zeichen des Barmherzigen Samariters? Oder dem berühmten Diktum des Paulus: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr seid alle ‚einer‘ in Christus Jesus“ (Gal 3,18)? Oder der Verheißung des Propheten Jesaja: „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir, habe keine Angst, denn ich bin dein Gott“ (Jes 41,10)?

Bei aller Irritation ist festzuhalten: Christ*innen sind immer auch ‚Kinder ihrer Zeit‘. Man kann und muss den programmatischen Auftakt der Konzilserklärung Gaudium et spes in seinem ganzen Gehalt ermessen: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen einen Widerhall fände.“ (GS 1) Und dazu gehören unzweifelhaft jene Abgründe von Hass und Gewalt, die sich in der Folge rechtspopulistischer Versuchungen auch in den ‚Herzen der Jünger Christi‘ immer wieder auftun können.Diesen Versuchungen kommt man nicht damit bei, auf der Unvereinbarkeit von angsterfüllter Abwehr gegen alles Fremde mit dem christlichen Bekenntnis zu beharren. Hinter hasserfüllten Reden verbergen sich Verletzungen und Missachtungserfahrungen, die mindestens aus der subjektiven Perspektive der Betroffenen einen realen Kern und damit ihre Berechtigung haben. Sie kann man nicht einfach beiseiteschieben. Stattdessen sind solche Verletzungen und Missachtungserfahrungen ernst, aber auch zum Anlass zu nehmen, sie in konstruktive und vor allem humanitätsverträgliche Handlungsalternativen zu transformieren. 

So sieht es auch die Abschlusserklärung der jüngsten Weltkonferenz Xenophobia, Racism an Populist Nationalism in the Context of Global Migration, mit der jüngst der Weltkirchenrat und das Vatikanisches Dikasterium für die Förderung der integralen menschlichen Entwicklung gleichermaßen öffentlich wie offensiv die rechtspopulistischen Entwicklungen aufgriff: „Wir erkennen an, dass die Sorgen vieler Menschen und Gruppen, die sich durch Migrant/innen bedroht fühlen – sei es aus Gründen der Sicherheit, des Wohlstands oder der kulturellen Identität – ernstgenommen und beachtet werden müssen. Wir möchten mit allen, die solche Bedenken haben, in einen wirklichen Dialog treten. Aber ausgehend von den Grundsätzen unseres christlichen Glaubens und dem Beispiel Jesu Christi wollen wir dem populistischen Narrativ von Angst und Hass das Narrativ der Liebe und der Hoffnung entgegensetzen.[2]Damit beschreiben Weltkirchenrat wie Heiliger Stuhl den spezifisch christlichen Ansatzpunkt für die Auseinandersetzung mit dem Populismus von rechts: Gegen rechtspopulistische Abgrenzung und niederdrückend panische Angst setzen sie die Grundfiguren entgrenzender Solidarität wie christlicher Hoffnung: die Zuversicht also, dass im Vertrauen auf die befreiende Gegenwart des biblisch bezeugten Gottes jeder Versuch zur Überwindung von Verlusterfahrungen und Verletzungen auch dann Sinn macht, wenn der Ausgang allen Engagements zur humanen Gestaltung der Welt gerade nicht sicher ist. Das wäre das Höchste, das hoffnungsimprägnierte Menschen dem Niedrigsten entgegensetzen könnten.

2. Angst aus tiefer Verunsicherung

Was sind die Ursachen solcher Ängste, die sich in Fremdenfeindlichkeit oder rechtspopulistischen Einstellungsmustern entladen? Zwar bilden rechtspopulistisch affine Menschen keine homogene Gruppe; sie gehören verschiedensten sozialen und selbst politischen Gruppierungen an. Zentrale Momente rechtspopulistischer Einstellungsmuster wie besonders die ‚Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‘ finden sich in allen etablierten Berufsgruppen und Verbänden wie in Gewerkschaften oder Parteien.[3]Gleichwohl: Abgesehen von den Protagonist*innen rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien, die sich skrupellos der Ängste bedienen, um ihre eigene politische Agenda voranzubringen, eint rechtspopulistisch affine Menschen eine tiefgreifende Verunsicherung. Deren Ursachen sind selbst wiederum vielfältig: Die einen fühlen sich durch den rasanten sozialen Wandel orientierungslos. Digitalisierung, Globalisierung und nicht zuletzt die Zunahme weltweiter Krisen (Finanzkrise, Klimakrise usw.) erschüttern ihre vertraute und verlässliche Lebensführung in ihren Grundfesten. Andere sehen sich selbst wirtschaftlich, sozial oder kulturell an den Rand gedrängt und fürchten durch das ‚Kommen der Anderen und der Fremden‘ für sich weitere Verschlechterungen. Wieder anderen sind fremde Lebensformen oder Religionen derart unheimlich, dass sie den Untergang ihrer eigenen Lebensweise kommen sehen und deshalb alles Ungewohnte mit aller Macht abzuwehren suchen.

Allerdings kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob die wirtschaftliche, soziale oder auch kulturelle Lage tiefverunsicherter Menschen tatsächlich prekär oder bedrohlich ist. Entscheidend ist vielmehr, wie die betroffenen Menschen ihre Lebenslage subjektiv, also aus ihrer Binnensicht, wahrnehmen und deuten. So kommt es zur paradox anmutenden Situation, dass selbst Angehörige der Mittelschicht panikartige Angst ergreift. Zwar schätzen die Betroffenen ihre momentane Situation selbst als gut oder sogar sehr gut ein: Sie haben einen Arbeitsplatz; sie verfügen über ein auskömmliches Einkommen; und sie fühlen sich in der Familie, im Freundes- oder Nachbarkreis sozial gut integriert. Gleichwohl treibt sie eine immense Angst vor der Zukunft. Sie fürchten jederzeit ein Scheitern ihres Lebensprojekts. Schon wenn sich für sie oder für ihre Nachkommen das gesellschaftliche Versprechen auf steten sozialen Aufstieg nicht mehr erfüllt, fürchten sie den Absturz in die Marginalität der Abgehängten und der Ausgeschlossenen.[4]

Deshalb sehnen sie sich nach Absicherungen – durch eine Abschottung nach außen wie durch die Privilegierung des eigenen: zuerst das eigene Volk, die eigene Kultur, die eigenen Religion – und sei es, wie in manchen Teilen Deutschlands, jene Religion, zu der man sich als Atheist, Agnostiker oder einfach als ‚religiös Unmusikalischer‘ zwar selbst nicht bekennt, deren Ausmaß man aber aus der gewohnten Umgebung kennt und im Zweifelsfall in Schach zu halten weiß.[5] ‚Fremde‘, ‚Geflüchtete‘ oder ‚Andersartige‘ werden als unangenehme Konkurrenz wahrgenommen: als Konkurrenz um den eigenen Wohlstand; als Konkurrenz um Aufstiegschancen und Machtpositionen; als Konkurrenz bei der Nutzung von Schulen, Freizeiteinrichtungen, sozialen Sicherungssystem und vieles mehr. Solche „soziale Schließungen“ (Max Weber) sind keinesfalls ein neuartiges Phänomen. Im Gegenteil, im Kampf um (vermeintlich oder real) knappe Ressourcen tendieren Angehörige mittlerer sozialer Milieus generell zu Ausgrenzungen und Barrieren gegenüber jenen, die von unten nachrücken könnten.[6]

Reaktionen auf Bedrohungsgefühle, Missachtungserfahrungen oder Verlustängste mögen sich als unbegründet herausstellen. Vielleicht drücken sie sogar nur den bornierten Kampf um die Erhaltung egoistischer Privilegien aus, so dass sie im Verlauf gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zurückgewiesen werden müssen. Dennoch müssen sie als wesentliche Wirkfaktoren für politische Prozesse ernstgenommen werden. Diesen maßgeblichen Faktor sozialer Prozesse nennt Helmut Dubiel „politische Subjektivität“. Darunter versteht er jene „moralischen Potentiale, welche die Übernahme einer politischen Einstellung, die Bildung einer Meinung, nicht nur nach außen legitimieren sollen, sondern in den psychischen Tiefenschichten des Individuums tatsächlich steuern.“ Politische Subjektivität beinhaltet „jene schwer greifbaren, dem Alltagsbewusstsein eher latent präsenten Glückserwartungen, Gerechtigkeitsansprüche, Bedürfnisse nach sozialer Anerkennung und kultureller Identität“, die sich in Zeiten sozialer Umbrüche und Verunsicherungen gewissermaßen invers äußern:  „als Empfindung verletzter Gerechtigkeit, als Kränkung sozialer Ehre, als Ahnung vorenthaltenen Glücks“[7] usw.

3. „Fürchte dich nicht…“ – für eine hoffnungsimprägnierte politische Subjektivität

Entscheidend ist, wie solche politische Subjektivität humanitätsverträglich transformiert werden kann – jedenfalls immer dort, wo sie als Potential genutzt wird, um in (rechts-)populistischer Manier die Lebenschancen der Anderen zwecks Stabilisierung des Eigenen zu verletzen und zu verbauen. In eine solche humanitätsverträgliche Transformation könnten Christ*innen und Kirchen ein wesentliches Potential ihrer Gottesrede und Glaubensüberzeugung als maßgebliches Prägemahl politisch relevanter Subjektivität zur Geltung bringen: das hoffende Vertrauen in die letztlich rettend-heilende Gegenwart Gottes, die Barrieren einreißt und stattdessen Brücken bildet, um Getrenntes und unheilvoll Zerrüttetes zu verbinden.

Freilich: Solch hoffendes Vertrauen ist weder selbstverständlich noch vermittelt es unzerbrüchliche Sicherheit. Christliche Hoffnung stiftet Zuversicht, nicht Gewissheit. Sie sperrt sich gegen alle eingewöhnten  Erwartungs- und Planungslogiken. Menschenübliche Hoffnungen spiegeln Erwartungen an eine Zukunft, die Menschen prognostisch wie planerisch zu antizipieren suchen. Christliche Hoffnung dagegen ist „Hoffnung wider alle Hoffnung“ (Röm 4,18). Sie hat ihren Grund und Ursprung im Gott christlichen Glaubens. Sie schickt sich Menschen zu. Sie ist unverfügbar. Sie kann nicht als feste Größe in Zukunftsplanungen eingerechnet werden. Sie geschieht dort, wo Gott da sein wird; sie geschieht oft dann, wenn keiner mehr mit ihr rechnet. Ohne ihr Ungewisses und Ungefähres ist sie nicht zu haben – eben weil sie Errettung verheißt von Seiten des unverfügbaren Gottes.[8]Diese Ungewissheit ist mitunterschwer erträglich. Das Aufkommen der apokalyptischen Literatur im Judentum kurz vor der Zeitenwende – erinnert sei etwa an das Buch Daniel – dokumentiert dies eindrücklich: Das Ausbleiben der von Gott verheißenen ‚Neuen Erde‘ schlägt um in die Sehnsucht nach dem machtvollen Ende einer zunehmend als heillos und zerrüttet erfahrenen Geschichte. Diesen machtvollen Schlusspunkt der Geschichte soll durch den raschen Untergang des Alten Gott selbst setzen und seiner Herrschaft endgültig zum Durchbruch verhelfen.[9]

Apokalyptische Stimmungen dieser Art sind auch der frühen Jesusbewegung keinesfalls fremd. Sie haben in der Offenbarung des Johannes gleichsam als fulminanter Schlusspunkt biblischer Narrationen Eingang in das kanonisierte Schrifttum gefunden. Sie haben aber auch zur Ausdifferenzierung des eschatologischen Selbstverständnisses vom Reich Gottes geführt: Gottes Herrschaft ist in und durch Jesus Christus nahekommen und angebrochen; sie ist schon ganz Wirklichkeit, aber noch keine ganze Wirklichkeit.[10] Sie harrt ihrer Vollendung am Ende der Zeit. Aber sie greift bereits im Hier und Heute Raum in Praxis jener, die in der Nachfolge Jesu Christi, motiviert und orientiert durch seinen Geist, die Herrschaft Gottes, seinen unbedingten Friedens- und Gerechtigkeitswillen, auf alle Menschen hin in der Qualität zwischenmenschlichen Zusammenlebens ‚durchlässig‘ machen. Die Wirklichkeit erlöst-befreiender Nähe Gottes wird Gegenwart in jenen Begegnungen und Vergemeinschaftungsformen, in denen Menschen ihren Mitmenschen die lebensbejahende Wirkmacht solidarischen Miteinanders vermitteln. Dieses Miteinander mag immer unter dem Vorbehalt des bleibend Fragmentarischen stehen bleiben. Und doch blitzt in aller Fragmentarität immer der Vorschein des unbedingten Erwünscht-, Anerkannt- und Angenommenseins aller auf – unbeschadet irgendwelcher Differenzen und Differenzierungen, die zwischen Menschen hinsichtlich ihres Geschlechtes, ihrer Herkunft, ihrer religiösen oder politischen Überzeugungen usw. bestehen mögen.

In dieser Praxis wird „Heil von Gott für Menschen“[11] gegenwärtig. „Daß Menschen sie darstellen dürfen, ohne sie erschöpfen zu müssen – das ist das Wesen christlicher Freiheit und der Grund ihrer Hoffnung: die geschichtliche Realität der Erlösung.“[12]Solche Praxis christlicher Hoffnung hat einen tragfähigen Grund. Zwar mag sie auf etwas verweisen, das im Letzten nicht gewiss ist, sondern nur erhofft werden kann. Aber sie ist entschieden mehr als die sentimentale Sehnsucht, die sich mit dem Bestehenden nicht abfinden kann und deshalb nach etwas Anderen Ausschau hält. Christliche Hoffnung baut auf dem Fundament der Auferweckung Jesu von den Toten. Jesu Auferweckung dokumentiert die unverbrüchliche Solidarität seines Vaters, der ihm durch den Tod hindurch die Treue hält. Sie dokumentiert zugleich, dass die lebensbejahende Botschaft Jesu keinesfalls im Kreuzestod der endgültigen Vernichtung anheimgefallen ist, sondern überlebt hat und weiterlebt. Christliche Hoffnung vermittelt also die Zuversicht, dass alles, was „in der Kraft seines Geistes an Gerechtigkeit und Frieden in der menschlichen Geschichte“[13] getan wurde, heute getan und in Zukunft noch getan werden wird, Bestand hat; dass Nichts von alledem mehr vollends aus der Welt geschafft werden kann. 

So besehen verleugnet christliche Hoffnung keinesfalls die Einbrüche und Enttäuschungen, die Menschen im Verlaufe ihrer Lebensgeschichte erleiden. Aber sie stiftet eine Lebenszuversicht, die als prägendes Dispositiv wesentlicher Bestandteil nicht nur der privaten Lebensgestaltung werden, sondern sich tief in die Lebensfigur einer ‚politischenSubjektivität‘ einlagern und von dort den konstruktiven Umgang mit gesellschaftlich assoziierten Ängsten und Verunsicherungen anregen und bereichern kann.

4. „Volk aus Völkern“ – gegen rechtspopulistische Usurpationsversuche des Christlichen

Das Grundpositiv christlicher Hoffnung gegen alle apokalyptischen Untergangsszenarien einer nihilistischen Hermeneutik des Verdachts: dieses die christliche Existenz wie das kirchliche Selbstgefühl eigentlich bestimmende Moment hat jedoch nicht verhindern können, dass rechtspopulistische Versuchungen in die ‚Herzen‘ und ‚Köpfe‘ einer erheblichen Zahl von ‚Christgläubigen‘ eingezogen ist. Das mag auch daran liegen, dass bei aller Eindeutigkeit christlicher Hoffnung andere christliche Glaubenstraditionen rechtspopulistischen Milieus – zumindest auf den ersten Blick – Anschlussmöglichkeiten an christliche Selbstverständnisse und Traditionsbestände zu eröffnen scheinen und damit die alle Grenzen transzendierende Hoffnungsbotschaft des Christlichen zu konterkarieren drohen.

Exemplarisch stehen dafür das Selbstverständnis der Kirche als Volk Gottes und die populistische Unterstellung vom ethnisch einheitlichen Volk. Beanspruchen, so die von Rechtspopulist*innen geschickt platzierte Frage, nicht alle ‚Gottesvölker‘ eine Form von Auserwählung und ein Maß von Exklusivität, die alle Nichtdazugehörigen aus dem Gesichtskreis ihrer solidarischen Zuwendung ausblenden, wenn nicht sogar systematisch abwerten? Können sich Christen glaubhaft von allen Ab- und Ausgrenzungen, die mit der Berufung auf eine bestimmte Volkszugehörigkeit verbunden ist, glaubhaft distanzieren, wenn sie als Kirche selbst ein eigenes Volk bilden? Siedelt die (rechts-) populistische Berufung auf das Volk als ein mehr oder minder homogenes ethnos nicht – zumindest formal – sehr nahe an diesem christlich-kirchlichen Selbstverständnis, so dass beide durch diese kulturelle Brücke wechselseitig anschlussfähig werden?

Tatsächlich steht das christliche Selbstverständnis der Kirche als Volk Gottes zunächst in der Tradition des antiken Judentums, das einem abstammungsbezogenen, also ethnos-grundierten Verständnis eines ‚Volkes‘ verpflichtet ist. Freilich verwendet bereits die frühchristliche Literatur für die Bezeichnung des ‚Volkes Gottes‘ den Begriff laos Theou.[14]Entgegen der heute eher abwertenden Konnotation vom (schlichten) ‚Laien‘ als Gegenbegriff zum (kundigen) ‚Experten‘ nutzt die neutestamentliche Tradition den Begriff laos als Ehrentitel. Er steht für die Zugehörigkeit zu jenen, die den lebendigen Leib Christi bilden. Zu diesem Leib Christi – ebenfalls ein biblisches Bild für die vom Geist Gottes Inspirierten und in der ecclesia (‚Kirche‘) Zusammengerufenen – zählen nicht nur die, die abstammungsmäßig als Juden dazugehören können. Bereits früh, vermutlich schon während des Auftretens des Nazarener, spätestens aber mit dem theologischen Erfolg des Paulus, der sich bekanntlich mit seinem Programm der sogenannten ‚Heidenmission‘ gegen die Petrus zugeschriebene Position der Zugangsbegrenzung zu den Christengemeinden exklusiv für Angehörige des Judentums durchzusetzen vermochte, etablierte sich Zug um Zug die prinzipielle Universalisierung der Zugehörigkeit zur Kirche Jesu Christi – unbeschadet der Herkunft, des Standes, des Geschlechts oder weiterer Disjunktionen, die bis dahin erheblich waren. Genau dafür steht das paulinisches Diktum „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr seid ‚einer‘ in Christus Jesus“ (Gal 3,28)

Natürlich fallen nicht alle Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen den sozialen Ständen oder zwischen den religiös und/oder ethnisch konnotierten Abstammungen. Es fallen aber alle Barrieren, die die gewohnten Statusunterschiede absichern halfen. Vermutlich wollte der Jude Jesus zunächst nur eine innerjüdische Erneuerung vorantreiben.Bereits seine überlieferte Praxis dokumentiert aber unübersehbar die heilsuniversalistische Tendenz seiner Botschaft. Schon die Heterogenität der eigenen Anhängerschaft, die gleichsam zum – oftmals angefeindeten – Markenzeichen der Jesusbewegung avancierte, belegt dies eindrücklich: Zeloten und Zöllner – ansonsten in großer Abneigung miteinander verbunden – zählten ebenso zu seinen Anhängern wie ‚Fromme‘ und ‚Dirnen‘. Die Einheit der Jesusbewegung bestand nie in der Einheitlichkeit der Anhänger*innen Jesu, sondern in der Eindeutigkeit seiner befreienden Botschaft und in der Bereitschaft zur mehr oder minder kompromisslosen Nachfolge. 

In dieser Tradition ist die Kirche Christi nie eine homogene Gemeinschaft gewesen, sondern immer ein vielfältiges Volk, bestehend aus vielen unterschiedlichen Völkern. Zwar hat sich die Christenheit mit diesem Faktum immer wieder schwer getan. Gerade die römisch-katholische Kirche setzt bis heute in vielen ihrer Lebensäußerungen eher auf verordnete Uniformität statt auf unierte Vielfalt. Dennoch versteht sie sich spätestens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil als ‚Volk aus Völkern‘, dessen Einheit in der Vielfalt Gestalt annimmt. Zu diesem ‚Volk aus Völkern‘im engeren Sinne gehören zwar nur die Getauften und Gefirmten. In diesem Sinne ist die Zugehörigkeit beschränkt. Die heilsame Sendung jedoch, die von diesem umgrenzten laos Theou auszugehen hat, ist aber gerade nicht auf sich selbst beschränkt. Im Gegenteil, mit dem Narrativ vom Barmherzigen Samariter entgrenzt der Nazarener selbst jede Form von Zuständigkeit für die Hilfe von Menschen in Not. Sie ist es, die den Kreis hoffnungsimprägnierter solidarischer Zuwendung definiert, nicht aber irgendwelche Abstammungen oder soziale Zugehörigkeiten.

5. Christliche Hoffnung als brückenbauende Praxis

Die christliche Rede vom ‚Volk Gottes‘ weist also jede Legitimationerheischende Parallelisierung zum Volk der Populisten als (homogenes) ethnos zurück. In ähnlicher Weise kann sie alle andere populistischen Versuche abweisen, an christliche Traditionsbestände anzuknüpfen oder gar für die Durchsetzung der eigenen Agenda gleichsam usurpatorisch zu besetzen. Ihr kann dies gelingen von einem Standpunkt aus, der sich kontradiktorisch zu populistischen Einstellungsmustern profiliert und gleichsam als Bollwerk gegen alle Vereinnahmungsversuche erweist: der Widerständigkeit praktizierter Hoffnung.

Die Rede von einem ‚Bollwerk‘ könnte freilich dem Missverständnis Vorschub leisten, als baue die Widerständigkeit christlicher Hoffnung gerade wieder Mauern und Barrieren auf, hinter die sie sich verschanzt und andere auf Abstand hält. In diesen Selbstwiderspruch geriete sie aber nur dann, wenn sie darauf verzichtete, durch ein gleichermaßen entgrenzendes und entängstigendes Engagement in den Strukturen des alltäglichen Weltlebens Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in Christ*innen lebt (vgl. LG 35). Christliche Hoffnung ist zuerst Hoffnung für den anderen und vom anderen her. Ein entgrenzendes wie entängstigendes Engagement ist das Praktisch-Werden des christlichen Gott-Vertrauens an den Orten menschlicher Lebensgeschichte und im Handgemenge des alltäglichen Lebens. 

Eine besonders geeignete Gelegenheitsstruktur solcher authentischer Rechenschaftslegung christlicher Hoffnung ist heute das zivilgesellschaftliche Engagement.[15]Es sind die vielfältigen Erfahrungen einer zivilgesellschaftlichen Streit-, Protest-, aber auch Kompromisskultur, die das Potential zivilgesellschaftlicher Sphären im Kampf gegen populistische Bewegungen und Versuchungen erkennen lassen. Zivilgesellschaftliches Engagement nutzt die vorfindlichen Ressourcen der Bürger*innen eines sozialen Nahraumes und sucht sie in einer Weise weiterzuentwickeln, in der auch die Negativerfahrungen ‚politischer Subjektivität‘ in konstruktive Haltungen und Handlungen transformiert werden können. Soziale Nahräume bergen regelmäßig viel Konfliktstoff. Zu ihnen gehören so viele unterschiedliche Einstellungsmuster wie in ihnen unterschiedliche Menschen zusammenleben (müssen). Ihr entscheidender Vorteil liegt aber darin, dass zivilgesellschaftliches Engagement diese sozialen Nähen nutzen kann, das vorfindliche abgeschottete Nebeneinander zu überwinden, unterschiedliche, gelegentlich sogar feindlich gesonnene Milieus zusammenzubringen und soziale wie mentale Brücken zu bauen. Solches Connecting wie Bridging ermöglicht die gemeinsame Suche nach Lösungen – und seien sie zunächst nur erste Kompromisse, die immer wieder neu generiert und verstetigt werden müssen. Aber jedes Bemühen um Kompromisse löst einen Sog aus, der die vorfindlichen Einstellungen und Mentalitäten gerade in ihren Verhärtungen verflüssigen, Barrieren abbauen und damit ins Konstruktive wenden kann.

Für solche Connecting und Bridging bedarf es keines exklusiven religiösen Bekenntnisses. Gleichwohl besitzen Christ*innen und Kirchen neben der Stärkung der politischen vor allem eine spezifische Verantwortlichkeit für die Hoffnungsimprägnierung religiöser Subjektivität – eben als jenes Deutungsmuster, das die grundlegende Einstellung zur Welt wie das persönliche Handeln in ihr präfiguriert. Ein genuines Handlungsfeld ist zweifelsohne die Förderung des interreligiösen Dialogs – und zwar nicht nur zwischen Führungspersonen, sondern vor allem unmittelbar zwischen den Gläubigen vor Ort. Interreligiöses Lernen fördert nicht nur allgemein die interkulturelle Kompetenz. Sondern es lebt von der Neugier auf etwas, das das Eigene übersteigt. Es lebt vom Vorrang der Frage vor der fertigen Antwort. Interreligiöses Lernen bildet jene Spannung ab, die wesentlich für christliche Hoffnung steht: Zuversicht ja, aber eben keine fertige Gewissheit.Und nochmals könnte christliche Hoffnung zum Bau von Brücken besonderer Art inspirieren: zur Solidarität mit Menschen, die aus welchen Gründen auch immer in die Nähe rechtspopulistischer Akteur*innen geraten sind. Solidarität meint hier nicht, sich in (rechts-)populistischer Manier die Abwehrhaltungen und Verlustängste zu eigenzumachen oder sogar noch anzufachen. Solidarität meint hier das Aufgreifen berechtigter Ängste und Ärgernisse mit dem Ziel, sie in demokratischer, also öffentlich diskursiver Weise an die politischen Entscheidungsträger zu adressieren – oder aber als unberechtigte Optionen ebenso freimütig den verängstigten Proponenten zurückzuspielen. Diese Form der Solidarität zeigt: Christ*innen wie Kirchen sind auch als Akteur*innen der zivilgesellschaftlichen Diskurslandschaft gefordert. Hier teilen sie mit allen anderen die Aufgabe, produktive Meinungs- und Willensbildungsprozesse anzustoßen, kritisch zu begleiten und selbst zu führen. Damit können sie sich als diejenigen bewähren, die über alle mentalen wie sozialen Barrieren hinweg unverzichtbare Akteur*innen des Bridging sind; oder ekklesiologisch gewendet: realsymbolische Brückenbauer*innen durch Pontifikalhandlungen im Alltag der Welt (vgl. Röm 12,2).


Anmerkungen

[1] Vgl. Deutschland etwa Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hg.): Die stablisierte Mitte: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Leipzig 2014; Fröhlich, Werner/Ganser, Christian/Köhler, Eva: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Bayern. München 2016;  Andreas Lob-Hüdepohl: Verdeckte und offene Xenophobien in Gesellschaft und Kirche. Anmerkungen aus theologisch-ethischer Perspektive. In: Ökumenische Rundschau 66, (2/2017), 237-245.

[2] Botschaft der Konferenz „Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und populistischer Nationalismus im Kontext globaler Migration“; gemeinsam ausgerichtet vom Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen (Vatikanstadt) und dem ökumenischen Rat der Kirchen (Genf) in Zusammenarbeit mit dem päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen (Vatikanstadt) Rom, 18. – 20. September 2018.

[3] Vgl. die sogenannten Leipziger ‚Mitte-Studien‘ seit 2002; zuletzt: Zick, Andreas et al (Hg.): Gespaltene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016. Bonn 2016.

[4] Vgl. Oliver Nachtweih: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin 2017, S.119ff.

[5] So ist nicht verwunderlich, dass die ‚Verteidiger des christlichen Abendlandes gegen die Bedrohung des Islam‘ dort am erfolgreichsten sind, wo es in der Bevölkerung nur noch knapp 20% Christ*innen bei 0,4% Muslime gegenüber knapp 80% Konfessionslose gibt.

[6] Vgl. Karin Priester: Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon. Frankfurt/M 2012, S.20f

[7]Helmut Dubiel: Das Gespenst des Populismus. In: ders. (Hg.): Populismus und Aufklärung. Frankfurt/M. 1986, S.33-50, hier: S. 47.

[8] Vgl. Karl Rahner: Zur Theologie der Hoffnung. In: ders., Schriften zur Theologie. Bd. 8, Einsiedeln 1967, 561-579, hier: 576.

[9] Vgl. Karlheinz Müller: Apokalyptik I. Geschichtliche Entwicklung der frühjüdischen Antike. In: LThK Bd. 1 1993, 814-818.

[10] Vgl. Jürgen Ebach: Eschatologie/Apokalypse. In: Eicher, Peter: NHthG 1, München, Neuausgabe 2005, 260-272.

[11]Edvard Schillebeeckx: Christus und die Christen. Geschichte einer neuen Lebenspraxis. Freiburg/Brsg. 1977.

[12]Thomas Pröpper: Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie. München 2.wes. erw. A. 1988, S.210.

[13]Medard Kehl: Eschatologie.Würzburg ²1988, S.218

[14] Vgl. Wolfgang Kraus: Art. Volk Gottes. Bibl.-theologisch: 2. Neues Testament. In: LThK X (2001), 846f.

[15] Ich habe das an anderer Stelle ausführlicher erläutert in Andreas Lob-Hüdepohl: Demokratie stark machen gegen Rechtspopulismus – auch ein Beitrag der Kirchen. In: Sonja Angelika Strube (Hg.): Das Fremde akzeptieren. Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entgegenwirken. Theologische Ansätze. Freiburg/Brsg. 2017, S.123-137.

Auctor

Andreas Lob-Hüdepohl, Professor für Theologische Ethik (seit 1996) und Geschäftsführer des Berliner Institut für christliche Ethik und Politik, von 1997-2011 zunächst Rektor der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und zuletzt Präsident der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Mitglied des Deutschen Ethikrates, Vorsitzender der AG Kirche und Rechtspopulismus der deutschen Sektion Justitia et Pax, Berater der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz, Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (seit 2000).

Address: Katholische Hochschule für Sozialwesen, Köpenicker Allee 39-57 – 10318 Berlin (Deutschland).



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